Brief an Maria

So hieß, will mir das Gedächtnis einreden, meine erste und einzige Reportage, die ich je für das DDR-Jugendmagazin NEUES LEBEN schrieb. Sie brachte mir, weil es noch einen Nachdruck gab, ein kleineres DDR-Monatseinkommen. Dazu die Bekanntschaft mit einem der besten jungen DDR-Fotografen, Rudolf Schäfer, der schon damals und noch mehr später nicht nur Mode für die SIBYLLE, sondern auch Akte für das MAGAZIN fotografierte. Es war eine kurze und gute Zusammenarbeit. Und für heutige Autoren mag es wie Märchenstunde klingen, dass man als freier Journalist mit, alles in allem, drei Tagen konzentrierter Arbeit ein Honorar erzielen konnte, das für ein gutes halbes Jahr Miete gereicht hätte, wenn ich denn eine eigene Wohnung bewohnt hätte.

Das Gedächtnis ist aber schwach. Die Reportage im Juli-Heft 1974 hieß nicht „Brief an Maria“, sondern „Ein Brief von Maria“. Die auf den Fotos abgebildete Ungarin war nicht die, von der im Text die Rede war. Das Auge des Fotografen entschied sich für ein fotogeneres Gesicht und die Betroffenen trugen es mit Fassung. Meine Maria ist übrigens in Ilmenau geblieben, auch als die Ungarinnen im Porzellanwerk nicht mehr gebraucht wurden. Sie hat einen Hiesigen geheiratet und ich bin ihr oft begegnet, ohne dass sie mich erkannt hätte. So komme ich denn vom echten Titel zum falschen zurück, denn ein Brief an Maria wollte das hier ja dennoch werden.

Also, liebe Maria! Wie es der Zufall so will, den wir ja alle nur flüchtig kennen, traf Deine Frage bei mir zu einem guten Zeitpunkt ein. Denn dass ich Gedichte schreibe, hast nicht nur Du nicht gewusst und es gehört auch nicht zu den Dingen meines Lebens, mit denen ich hausieren gehe. Mein Ehrgeiz war damals, als die Reportage erschien, vielleicht am größten in meinem bisherigen Dasein. Fünf Gedichte von mir in einem anderen Heft des Jahrgangs 1974 waren es schließlich, die meinen Kontakt zur Redaktion vermittelten. Und sogar der damalige verantwortliche Redakteur, Rudi Benzien, lebt noch, der mich in Ilmenau besuchte und mich auf Spesenrechnung im „Haus des Handwerks“ bewirtete. Ich sandte ihm kürzlich nach all den Jahren eine Mail mit dem Hinweis auf meine Webseite und bekam rasch, er ist immerhin 75, eine freundliche Antwort.

Deine Frage aber, Maria, ließ mich in meinem Schreibtisch zu den ganz alten Mappen greifen, in denen Manuskripte lagern und Typoskripte aus jener letztlich wundervollen Zeit des Dichtens, das seltsamerweise (nicht: die seltsamerweise!) diktaturresistent war. Und dabei ergab sich, was ich im Traum nicht mehr hätte erinnern können: Es war ein neunter August, an dem ich das allererste Gedicht meines Lebens schrieb, der neunte August 1968. Und ich war so begeistert von mir selbst, dass ich rasch noch ein zweites hinzu schrieb. Mein Manuskriptblatt, das schon Abschriften enthält, die beiden Originale sind verschollen, zeigt mir neben den beiden Texten meine Handschrift mit Kugelschreiber: „unmöglich“. Beide Erstlinge erschienen mir also schon sehr rasch als peinlich schwach. Immerhin weiß ich noch, wo Nummer 1 entstand: Auf dem Weg von der Goetheschule in Ilmenau zum Hauptbahnhof, den ich an diesem Tag wie öfters an der Ilm entlang nahm. Ich schrieb die ersten vier Zeilen auf eine Streichholzschachtel.

Und während ich das wiederum jetzt schreibe, fällt mir auf, dass es seltsam ist, mitten in den Ferien auf dem Weg von der Schule zum Bahnhof gewesen zu sein. Vielleicht hatte ich ja ein Rendezvous, denn was ich reimte, hatte mit Verliebtsein zu tun. Und als Inhaber einer Schüler-Monatskarte für vier Mark (im Monat !!!)) konnte ich beliebig oft den Weg von Gehren nach Ilmenau und wieder zurück auf den heute weitestgehend nicht mehr vorhandenen Schienen zurücklegen. Mein drittes Gedicht zeigte ich meiner Deutschlehrerin, es war auf eine rosa Karteikarte des Formates A 5 geschrieben und beinahe noch schrecklicher als das erste und das zweite. Dann hat lange nie wieder jemand meine Lyrik-Versuche gesehen, die mit Bleistift geschrieben wurden in einen Block, dessen Seiten perforiert waren zum Abreißen. Ein Bleistift, mit dem ich die ganz frühen Sachen schrieb, begleitete mich jahrelang wie ein Talisman, bis ich ihn während eines studentischen Ernteinsatzes anno 1977 verlor. Ich habe um ihn getrauert. Nur wer das weiß, versteht mein rituelles Verhältnis zu Bleistiften. Auf den Blättern in den Mappen ersehe ich, welche Gedichte ich dann, als das Schreiben nach Veröffentlichung drängte, welchen Redaktionen zuschickte. In zwei der damals berühmten Anthologien OFFENE FENSTER habe ich es geschafft, am 24. Dezember 1973 stand eines meiner Gedichte neben einem von Jürgen Fuchs, ja, ja, in der heute nur noch mit spitzen Fingern anzufassenden JUNGEN WELT.

Also, liebe Maria, heute, genau heute, jährt sich der Tag, an dem ich mein erstes Gedicht schrieb. Deine Frage hat mich auf den Erinnerungspfad versetzt. Es gibt schlechtere Anlässe, um für eine Weile aus der Mühle zu klettern, die man im Laufrad am Drehen hält.


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