Tagebuch

23. November 2020

Der heutige 100. Geburtstag von Paul Celan hat allerorten bereits seine ganzseitigen gedruckten Schatten vorausgeworfen. Und ich kann immer noch kein schlechtes Gewissen entwickeln, dass mir dieser musterhafte Vorzeigedichter des alten Westens fremd geblieben ist. Wie hoch unter meinen Brüdern und Schwestern der Prozentsatz derer ist, die man nachts um 2.30 Uhr mit Finger in die Rippen wecken kann, um ihnen „Todesfuge“ ins Ohr zu brüllen und sie brüllen „Celan“ zurück, mag ich nicht abschätzen. Es könnte sein, dass es mit Celan so ist wie mit Tocotronic, der Diskurs-Band aller Edel-Feuilletons: kein Radio spielt sie, kein Fernsehen zeigt sie, keine Hitparade führt sie, aber ein kleiner feiner Kreis verdreht die Augen, wenn schon der Name fällt. Mich hat immer dieser Aufreißerblick gestört, den Celan auf dem am meisten gedruckten Foto zeigt, längst kenne ich das Original, aus dem das Porträt geschnitten wurde, der Schnitt ein Meister aus Deutschland.

22. November 2020

Totensonntag, bis heute, sagt das ungeschriebene Gesetz, muss man warten mit der Weihnachtsdeko auf Fensterbrettern und Kommoden, Terrassen und Schränken. Die Wahrscheinlichkeit, dass keine Familie Omas Mühen würdigt, ist in diesem Jahr besonders hoch. Sie muss vielleicht ausgleichend Pakete packen und darauf verzichten, auspackende Enkel zu filmen, die nie jene Geduld haben, mit der alles eingepackt wurde. Wir haben die frühe Dunkelheit zu einem netten größeren Spaziergang genutzt und siehe, die ungeschriebenen Gesetze sind nicht überall vertrautes Gut. Manche Häuser sind schon geschmückt, als stünden sie mitten auf einem Weihnachtsmarkt. Beim Aufräumen in meiner Zettelwirtschaft, stoße ich auf einen, der die ersten drei Septemberwochen über die täglichen Corona-Zahlen aus Österreich festhielt. Seit dem ersten September fast eine Verzehnfachung, bei den Toten eine Verdreifachung. Gut, dass wir wenigstens noch das Kamptal hatten eine Woche lang.

21. November 2020

Neun Jahre ist das große Kleist-Jubiläum nun schon wieder her, das auch mich zum Wannsee trieb. Damals wusste ich nicht, dass Arthur Eloesser die Gedenkrede hielt 1911, hundert Jahre früher also. Peter Goldammer hat es in seiner großen DDR-Dokumentation ignoriert: entweder nicht gewusst oder aber mutwillig verschwiegen. Der 21. November ist jedoch auch der Geburtstag von Franz Hessel, dessen „Ein Flaneur in Berlin“ ich vor fast genau fünf Jahren las. Jetzt habe ich mir „Ein Garten voll Weltgeschichte“ vorgenommen, „Rundfahrt Berlin“ heißt die erste Skizze, es ist eine mir sehr vertraute Strecke, die er fährt, nur gibt es die Mehrzahl der Straßen, wie er sie sah, nicht mehr: Bomben, Sprengungen, Neubauten. Hessel, 1880 geboren, denkt an seine Schulzeit und wie er am Bühneneingang des Schauspielhauses auf die Darstellerin der „Jungfrau von Orleans“ wartete. Man müsste bei Fontane nachschlagen, wer das war damals vor allen Schiller-Jubiläen.

20. November 2020

Lektüre-Protokoll: Gestern mit „Heinrich von Kleist“ von Arthur Eloesser zu Ende gekommen, seit 1905 nicht wieder gedruckt, in der Kleist-Forschung der jüngeren Jahre geradezu peinlich ignoriert, ausgerechnet ein alter Nazi ist der einzige, der Eloesser wenigstens im Literaturverzeichnis nennt. Heute Ruth Klügers „Von hoher und niedriger Literatur“ in einem Zug, es sind nicht sehr viele Seiten, die aber haben es durchaus in sich. Klüger war die zweite Autorin, die zur Bonner Poetik-Vorlesung eingeladen wurde und den zweiten Teil ihres Vortrages nannte sie: „Missbrauch der Erinnerung: KZ-Kitsch“. Hätte ein Nicht-Jude den Satz schreiben dürfen: „Der Holocaust eignet sich hervorragend für Kitsch und Pornografie.“? Diese kürzlich gestorbene alte Dame war nicht nur klug, sie war klüger: sie war Ruth Klüger. Ich bin froh, dass ich den Dokumentarfilm über sie nicht verpasste, der nach ihrem Tod im Fernsehen lief, natürlich spät. Nun weiß ich: sie liebte Krimis.

19. November 2020

Dies ist nun der 120. Geburtstag von Anna Seghers und Hans-Dieter Schütt hat im ND noch einmal voluminös zugeschlagen zu Monika Melcherts Buch. Gehörte die nicht einst zu seiner Redaktion, als er noch ein Chefredakteur war? In meinem Nachlass wird sich ein Brief von ihm an mich finden, in dem er sich bei mir bedankt. Bis in den SPIEGEL wird es der unsensationelle Fund dann nicht schaffen. Die Schande, zu DDR-Zeiten für DDR-Zeitungen geschrieben zu haben, ist ein sehr kleines Schändchen. Bei Schütt gab es für 45 Druckzeilen 90 Mark, das muss eine heutige Zeitung erst einmal nachmachen: 45 Druckzeilen gleich eine Monatsmiete. Ich würde, Höhepunkt meiner schändlichen Weltsichten, die damalige JUNGE WELT mit allen ihren schlimmen Macken immer der heutigen vorziehen, in der sich seltsame Linksradikale und ehemalige Stasi-Chargen verbreiten, selbst Wiglaf Droste las ich nie wieder, als er unter Schölzel und Co. aktiv vor sich hin dichtete.

18. November 2020

Das Internet führt mir heute vor Augen, wie abhängig man von bestimmten Servern ist. Urplötzlich erscheinen, wenn ich in meinen Administratorenbereich will, seltsame Dateien, die ich weder zu deuten noch zu beseitigen weiß. Das ist wie ein plötzlicher Lähmungsanfall. Zum Glück habe ich Hochkompetenz in der Familie, die ich immer nur zu Rate ziehe, wenn es gar nicht vermieden werden kann, ich halte einfach nicht gern jemanden von seiner eigentlichen Arbeit ab, schon gar nicht in Zeiten von kommandiertem Home-Office. Irgendwann ging alles wieder, ich stellte meine Anna Seghers nach abermaliger Durchsicht für morgen ins Netz. Am Abend ein Krimi aus DDR-Zeiten, Jahrgang 1978, mit Winfried Glatzeder als Ermittler und Horst Schulze als Rattenzüchter, der früher ein KZ-Arzt war. Ein erstaunlich guter Film. Ich sehe DDR-Innenräume aus dieser Zeit immer gern, kenne die Tapeten, das Honecker-Bild im Büro natürlich auch und die grauen Häuser.

17. November 2020

Das Internet führt mir vor Augen, welch grauenhaft schlechte Arbeitsbedingungen früher für Leute herrschten, die auf Bücher, auf Zeitschriftenartikel, auf Archive angewiesen waren: Ich schrieb mir seinerzeit ganze Artikel mit einer klapprigen Schreibmaschine ab, weil die Bibliothek in Berlin für solche Kopien nicht ausgestattet war. Es gab Kopierer, da durfte man jedoch nicht mehr als zwanzig Seiten auf einmal kopieren, Buchseiten wohlgemerkt. Jetzt bin ich sekundenschnell in Archiven, die bestimmte Dinge, die ich suche, digitalisiert anbieten mit und ohne Gebühren, es gibt preiswerte Jahreszugänge, es gibt Möglichkeiten, Jahresinhaltsverzeichnisse mit Volltext-Suchprogrammen zu durchforsten. Wo ich früher viele Stunden und Tage zum Blättern gebraucht hätte, staple ich heute nach kurzer Zeit Ausdrucke neben mich. Da fehlt am Abend nur noch die Nationalmannschaft. Die spielt aber schlechter als in schlechtesten Zeiten, 1931, höre ich, verloren wir zuletzt so. 1931?!

16. November 2020

„In älteren Tagebüchern blätternd, sah ich wieder, was alles man vergisst, wenn man es nicht aufschreibt: Fast alles. Besonders die wichtigen Kleinigkeiten. Also aufschreiben.“ Notierte Christa Wolf unter dem Datum 27. September 1961 im Amselweg in Halle. Bei mir ist es anders: ich vergesse eher, was ich aufgeschrieben habe, dann nämlich ist es erledigt. So lese ich meine eigenen alten Sachen immer wie fremde Sachen, auch das schrieb ich schon irgendwann irgendwo. In meinen alten Tagebüchern blättere ich äußerst selten, viele hielt ich seit Jahren nicht mehr in den Händen. Christa Wolf folgte ihrem Vorsatz, jedes Jahr am 27. September ausführlich zu schreiben, seit 1960 tapfer, wenngleich nicht immer mit viel Freude und Energie. Telefonat mit dem Finanzamt heute, die Bestattungskosten für meine Mutter betreffend. Allein das Ausfüllen des Fragebogens hätte mich mehr gekostet als die eventuelle Anrechnung eingebracht hätte. Weg also. Vergangenheit.

15. November 2020

Bis nach Ilmenau hat es Prinz Charles nicht geschafft, deshalb waren wir die beiden einzigen, die der auf nahe Null reduzierten Prozedur des Volkstrauertages zuschauten, Kränze hin und weg, keine Musik, keine Rede, wir hätten uns anmelden müssen wegen Corona, so aber hatten wir so viel Platz zum Abstandhalten, dass wir uns sogar feuchtes Niesen hätten erlauben können. Ich verbrachte den lieben langen Sonntag mit Anna Seghers, die Korrektur meines Textes verlege ich auf Montag. Der schöne lange Heimweg bei milden Temperaturen und blauem Himmel wie selten an diesem Tag brachte gut fünf Kilometer für die Gesundheit. Einer, den ich einst für den Volksbund warb, kam uns auf seinem Fahrrad entgegen, gefolgt von seiner Frau, ebenfalls auf dem Fahrrad. Beide hatten heute den Friedhof gemieden. Dafür standen wir überrascht am Grab des früheren Pennewitzer Pfarrers, der zum Jahrgang 1928 gehörte wie meine Mutter, aber schon wesentlich länger tot ist.

14. November 2020

Wir könnten den 14. November als den Vorabend von Wilhelm Raabes 110. Todestag begehen, das wäre aber dann doch ein wenig albern, zumal es andere Anlässe gibt. Da ist beispielsweise der sehr erstaunliche Umstand, dass das Herannahen des 120. Geburtstages von Anna Seghers zu einer sehr wundersamen Vermehrung der Seghers-Experten mehr oder minder fortgeschrittenen Alters führt. NEUES DEUTSCHLAND veröffentlicht eine Doppelkritik zu gleich zwei neuen Seghers-Büchern, eines von Monika Melchert, die nur harte alte DDR-Bürger noch kennen, und eines von Volker Weidermann, den zu kennen sich empfiehlt, falls man auf literarischen Feldern grast oder im Betrieb als Nudel tätig ist. Man entdeckt, dass Anna Seghers doch nicht nur jene kommunistische Funktionsträgerin war, als die die üblichen Verdächtigen sie immer hinstellten. Dass selbst Marcel Reich-Ranicki es deutlich besser wusste, wurde sehr gern übersehen: außer zum Beispiel von mir.

13. November 2020

NEUES DEUTSCHLAND von gestern brachte eine sehr verspätete Nachbetrachtung zum Ableben des DDR-Philosophen Alfred Kosing. GOOGLE von heute lieferte mir beim Herumsuchen einen zeitnäheren Nachruf aus der Feder (ha,ha!) von Arnold Schölzel. Und dann schaute ich in meinem Lieblingsnetzwerk für Antiquariate nach und siehe da: man findet im Dutzend das millionenfach zur Jugendweihe für DDR-Kinder verschenkte Buch „Weltall, Erde, Mensch“ (mein Exemplar habe ich noch im Keller und las es einst sogar vollständig von vorn bis hinten durch), weil da dieser Kosing mitmischte. Kosing war an diversen Wörterbüchern beteiligt als Verfasser, nach der Wende soll Kosing im Kosmetik-Studio seiner Frau das Geld verdient haben, mit dem er den Druck zahlreicher Bücher finanzierte, die er nun ohne alle Zensur verfassen durfte. Ich gebe zu, dass ich vierzig Jahre nach Ende meiner Uni-Zeit in Berlin immer noch mit Grausen an den FDJ-Sekretär Schölzel denke.

12. November 2020

1945 rettete ein damals 13 Jahre alter Schüler aus den Trümmern der Franziskanerklosterkirche in Berlin, deren Teile Kirche, Schule und Bibliothek am 3. Februar durch Bombenangriffe bis auf die Grundmauern zerstört waren, 6000 Bücher. Später wurde er Bibliothekar und noch sehr viel später stieß er auf einen Text von mir, den ich der Weimarer Autorin Dora Wentscher gewidmet habe. Und heute rief er mich an: Er kannte Dora Wentscher und ihren Ehemann Johannes Nohl persönlich gut, kümmerte sich 1964 um ihr Vermächtnis, Nohl war schon 1963 in Jena gestorben. Ich sagte, dass ich in meinen Berliner Jahren oft in der Stadtbibliothek war, er, dass wir uns da wohl begegnet sein könnten. Mag sein, obwohl man als Student, der nur etwas lesen will, eher selten mit dem Direktor oder seinem Stellvertreter zu tun hat. Vielleicht saß er ja 1976 bei jener berühmten Lesung „Für Spanien“ mit Anna Seghers und anderen in der ersten Reihe, als ich in der zehnten oder elften saß.


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