Tagebuch

5. November 2025

Heute sehen wir einen Supermond, soll heißen, den dicksten Vollmond des Jahres. Gestern sahen wir einen Mann, der anhand einer Karte mit verschiedenen Färbungen die These aufstellte, in den grauen Flächen sei zu viel (oder war es zu wenig?) nach einem Platz für Atommüllendlager gesucht worden. Denn wir verlangen, dass der Endmüll dort eine Million von Jahren sicher sein soll. Was sagt die Letzte Generation dazu? Die das Ende der Welt nächsten Freitag halb elf beginnen sieht? Falls wir nicht aufhören, Leberwurst zu essen. Wen gefährdet der Müll eigentlich nach dem Untergang der Zivilisation? Einige Arten werden sich sagen, wenn der erste dicke Kernstrahl aus der Erde kommt: Endlich können wir mal richtig mutieren. Vielleicht fürchten sich danach die Schwebfliegen vor Hirschkäfern mit drei Hörnern oder die Wiederkäuer schlucken einfach alles runter und furzen kein Methan mehr. Wen aber wird das dann an allem zweifeln lassen? Preisfrage.

4. November 2025

Gestern Dieter Wellershoff vergessen? Nein, natürlich nicht. Zehn Zeilen sind eben nur zehn Zeilen, kein Platz für ihn, die 100 also ohne mich von seinem Fanblock bejubelt. Heute ist schon wieder Gustav Schwab an der Reihe. Mit dessen Heldensagen bin ich aufgewachsen, besitze sie in einer kindgemäßen Fassung und natürlich auch in seinem Originaltext. Ich ging mit diesen Helden um, als wären sie meine Nachbarn hinterm Gartenzaun, immer Fan der Trojaner, nie der Griechen. Und muss sogleich gestehen, dass Nachbarn hinterm Gartenzaun in meinen  jüngsten Jahren rar waren: unbebaute Grundstücke, kein Zaun; wenn Zaun, dann dahinter niemand. Trotzdem: schöne Kindheit und so. Man erinnert sich. Ungewollt verwandle ich mich in einen Glücksbringer in Sachen Suche nach einer Wohnung in Ilmenau. Und das nur, weil bei uns im sechsten Stock eine frei wurde. Man darf heute mit einem winzigen Kind größere Wohnungen haben wollen, wir einst mussten warten.

3. November 2025

Es beginnt mit einer individualisierten Aufforderung, die Miet-Parkplätze zu einer bestimmten Zeit freizuhalten wegen anstehender Arbeiten. Welche Arbeiten aber stehen an? Ist es wie früher auf dem Arbeitsamt, wo eben jetzt statt der Arbeitslosen die Arbeit selbst ansteht? Nein, keine tieferen Sinne konstruieren. Es ist ganz einfach: als vor vielen, vielen Jahren unser Block den neuen Zeiten in die Arme geführt wurde, also Wärmedämmung, und wir dann Heizkostenersparnisse hatten in solchen Dimensionen, dass wir einen Tesla hätten anzahlen können, wenn es schon Teslas gegeben hätte, blieben am Ende an den Wänden mitten im Dämmstoff Löcher zurück, wo die Gerüste im Beton verankert worden waren. Dort siedelten im Lauf der Jahre diverse flugfähige Tierarten von Meisen und Sperlingen bis Wespen. Beim Innenausbau von Meisen-Nestern im Dämmstoff zuzuhören, ist schlafstörend. Heute, alles klar, werden mittels Hebebühne die Löcher verstopft und verschmiert.

2. November 2025

Gut, dass wir eine Stadtbild-Debatte haben. Einer sagt etwas, vier mit direktem Draht zu Medien regen sich auf und dann heißt das Debatte. Nachrichtenredaktionen müssen weniger Nachrichten senden, weil jetzt die Unterabteilungen Agitation und Propaganda in Aktion treten. Sie führen Interviews mit Menschen, gegen die niemand etwas hat, die aber zu Protokoll geben, dass sie sich jetzt bedroht fühlen. Der alte Satz „Rassisten sind immer die anderen“ wird durch Verschiebung der Wortfolge zu „Die anderen sind immer Rassisten“, wobei das eine wie das andere natürlich niemand sagt. Als ich vor Jahren zum Zwecke eines Theaterbesuchs in Hof weilte (weilte!) und dort eine Übernachtung gebucht hatte, sah ich während des ersten Erkundungsganges vom Hotel zur Stadt buchstäblich keinen einzigen Menschen, den ich für einen Franken gehalten hätte, obwohl ich viele Menschen sah. Im Theater selbst sah ich dann keinen Menschen, der nicht wie ein Franke aussah.

1. November 2025

Lange hatten wir kein Klassentreffen aller vier Abiturklassen des Jahrgangs 1971. Das erste und totsicher letzte halbe Jahrhundert 2021 verhagelte uns die Corona-Epidemie, eine Nachfeier war zwar bisweilen im Gespräch, kam aber ebenfalls nicht zustande. Heute nun, 54 Jahre nach der so genannten Reifeprüfung, hatten wir Ort und Zeit im Schöffenhaus fix, viele der Rentner gaben sich mehrheitlich verhindert. Ärgerlich, erschreckend, peinlich, jeder, der kam, hatte dafür eine eigene Beschreibung des Tatbestandes. Die, die da waren, waren am Ende froh, dass sie da waren. Und orakelten, warum auch jene, die sonst immer gekommen waren, diesmal fehlten. Es drängen sich  Krankengeschichten immer mehr in die Gesprächsstoffe. Manche hat es schwer erwischt, nicht zu reden von denen, die es schon final erwischt hat. Eine Rede musste ich diesmal nicht halten, ich hätte Schwierigkeiten bekennen müssen, zuzusagen. Vor fünfzig Jahren starb Pier Paolo Pasolini.

31. Oktober 2025

Im „Jahr des Gärtners“ wie in seinem leider deutlich weniger humorigen Pendant aus dem Hause Knobloch absolviere ich den Gartenmonat Juni. Čapek schreibt: „... was aber die Blattläuse betrifft, so gedeihen sie während ihrer Vernichtung in ungewöhnlichem Maße“. Monat für Monat erkenne ich, wie krass die Fehlentscheidung für uns gewesen wäre, uns um einen Garten zu kümmern. Wir sind keine Gärtner, wir wären nie welche geworden. Meine Höchstleistung ist jeweils, wenn ich neue Orchideentriebe so anklammere, dass sie weder knicken noch gar brechen und schließlich in die erwünschte Richtung weiter wachsen. Eine weiße vom Geburtstag braucht bisher gar keine Hilfe von mir. Im Gegenteil, das Geburtstagskind verbat sich jegliche Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten auf dem Fensterbrett im Esszimmer. Ein älteres Exemplar war bereits dabei, seine Blüten abzuwerfen, jetzt bremst es sich, damit die Neue nebenan nicht noch mehr hervorsticht.

30. Oktober 2025

Bei uns ist heute nationaler Reisebuchungstag. Antispontan, wie wir eben sind, versuchen wir den Urlaubskalender 2026 frühzeitig mit Daten zu füttern: da ein Flug, dort eine Bahnreise bereits in Sack nebst Tüten, zwei Busreisen gegen Treuepunkte, für die ich nicht nur den Stammkundenrabatt einheimse, sondern auch die besten Plätze vorn im Bus. Für eine Reise muss ich alles schriftlich beantragen, für alle Buchungen bekomme ich per e-mail erst einmal eine Bestätigung, einmal noch zuvor eine Vorgangsnummer. Das System flutscht. Die Produktivkraft Vorfreude kann ihre Wirkung entfalten. Wegen des morgigen Feiertages sind an allen Märkten und Discountern keine Wagen zu bekommen. Eine Einladung nach Berlin ist auch kurzfristig nicht eingetroffen, ich kann meine Zusage zum Klassentreffen verbindlich machen. Außerdem ist Welttag des Hörspiels. Noch immer lese ich welche, höre keine. Und erfreue mich an den Namen der Sprecher/innen, falls ich sie kenne.

29. Oktober 2025

Seit unserer Rückkehr aus Spanien ist unser Wespennest schwer beschädigt. Was immer die Wand von außen zerschlug, die Bewohnerinnen gingen ins Exil. Nach unserer Rückkehr aus Italien sah das Nest aus wie eine Stadt im Gaza-Streifen. Fetzen flatterten im Wind, der meist aus Richtung Manebach weht. Am Morgen beobachte ich Luftangriffe zweier kleiner Vögel, bisweilen gefolgt von einer zweiten Ein-Vogel-Staffel. Es scheinen Meisen zu sein, die ihre Attacken gegen nichts vortragen, Leckerbissen verspeisbarer Art dürften in der Ruine kaum noch zu finden sein. Wir werden die Reste hängen lassen als Abschreckung für neue Zuwanderer: Hier lohnt es sich nicht zu siedeln. Vielleicht fragt ihr, liebe Wespen, eure Kolleginnen vom Bodenpersonal, ob ihr eine Höhle haben könnt. „Der beherzte Reviervorsteher“ geht ins Register ein, der Gegenplan für Oktober ist damit erfüllt. „Blättchen für Heinz Knobloch (7)“ ist fertig und darf ein wenig im Rauch hängen.

28. Oktober 2025

„Ich will deine Stimme sein“ beendet, es geht weiter mit „Spiegelbild“. Vielleicht halte ich wirklich durch mit den täglichen Gedichten. Als Völker sich noch was schenkten, schenkte das französische dem amerikanischen eine Freiheitsstatue. Das amerikanische freute sich: Ach, toll, so eine Statue wollten wir schon immer mal haben. Weshalb am 28. Oktober 1886 Präsident Grover Cleveland das handliche Geschenk einweihte. Cleveland war zweimal Präsident: Nummer 22 und Nummer 24, eine 23 schob sich dazwischen wie neuerdings erstmals wieder bei unserem Donald. Schmutzige Wahlkämpfe gab es damals schon, seltsame Vorstellungen bei Republikanern auch. Dass Griechen heute ihren Ohi-Tag haben, wusste ich bis eben nicht. Wenn ich davon gehört hätte, wäre vielleicht wenigstens das Stichwort hängen geblieben. Da unsere Nachrichten auf Katastrophen auswärts und Pannen des Kanzlers und seiner Partei einwärts spezialisiert sind, war und ist es nie eine gewesen.

27. Oktober 2025

Wer von Abwechslung nicht aus dem Konzept gebracht wird, der liest, wie ich, bisweilen drei bis fünf Bücher parallel, natürlich nicht gleichzeitig. Also erst das eine, danach das andere, dann das dritte und so weiter. Heute doppelter Neueinstieg: „Gartenlust & Gartenliebe“ von Hobby-Gärtner Heinz Knobloch, es ist eine gestreckte und an die Neuzeit angepasste Fassung von „225 m² Feuilleton“ aus dem alten Band „Bloß wegen der Liebe“. Dazu „Das Jahr des Gärtners“ von Karel Čapek. Das ist ein herrliches Buch, das ich Anfang Mai 1985 erstmals las, meine Pünktchen am Seitenrand zeigen mir, was ich vor 40 Jahren zitierenswert fand. Mein Geschmack ist bis jetzt kaum verändert. Mir gefällt jetzt allenfalls mehr als damals. Darüber könnte man nachdenken: War ich damals strenger, intoleranter? Dann wäre ich jetzt milder, toleranter? Knobloch hat häufiger von einer Toleranzstraße geschrieben, die im Leben natürlich nie so hieß. Geschadet hat es niemandem.

26. Oktober 2025

Diese Überschrift hätte mir vor 40 bis 45 Jahren großen Spaß verursacht: „Doktor Fortschritt“ sehe ich in meiner Sonntagszeitung, darunter dann: „Sami Gaber macht seine Hausarztpraxis im Ruhrgebiet jeden Tag ein bisschen digitaler. Ein Besuch in seiner Sprechstunde“. Ihm ergeht es also deutlich besser als anderen. Ich wandere tapfer weiter mit Papierrezepten durch die Lande. Ich sprach allein auf das Wort Fortschritt damals an wie Pawlows Hund auf die Signallampe, noch heute werde ich, siehe eben, aus jedem Aufmerksamkeitsdefizit gerissen, wenn der Fortschritt sein Recht fordert. Auf der Rückseite eine sehr interessante Anzeige: da will jemand meine Weine und Champagner zu Höchstpreisen ankaufen. Meine Weine sind unverkäuflich und Champagner habe ich gar keine, weil ich im Zweifel immer lieber Cremant trinke, es darf de Loire sein oder d'Alsace, auch Cremant de Bordeaux wird bei uns nicht von der Tischkante geschubst. Ohne Höchstpreise.

25. Oktober 2025

Geburtstags-Nachfeier in Dörnfeld. Wir sind immer wieder gern da. Erst Kaffee und Kuchen, dann ein kleiner Ortsspaziergang zum Friedhof. Dann Essen nach Karte. Zuletzt waren wir dort am 15. März 2023. Wer aus Pennewitz stammt, findet hier manchen Bekannten, Schulzeit-Erinnerungen. So ist es eben, wenn man sieben Jahrzehnte plus Zuschlag hinter sich hat. Abends sind wir doch allein zu Hause. Mehr als einladen geht nicht. 75 Seiten schon wieder weg in „Ich will deine Stimme sein“, damals lugt Stalin noch aus den Zeilen. Bei Knobloch viel Wiederholung aus anderen Büchern, selbst innerhalb des Buches, vermutlich wäre sonst kein Buch daraus geworden, maximal ein Broschürchen. In der Nacht wieder Rückkehr zur Normalzeit. Seit Jahren dieselben Nachrichten dazu: umstritten, keine Einigung. Frauen verkraften die Zeitumstellungen angeblich schlechter als Männer, was sie nicht daran hindert, älter zu werden als Männer. Nur kein Neid. Alles Biologie.


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