Tagebuch

29. Dezember 2020

Drei Stunden „Werk ohne Autor“ gestern. Grandioser Film. Wie sich die Sehweisen der Nazis auf entartete Kunst und der DDR-Kommunisten auf die Moderne in den fünfziger Jahren glichen. Wie die Düsseldorfer Moderne allen Vorurteilen beider Seiten Argumente lieferte und sie bestätigte. Wie die Kunstschwafler des Westens ihre jammervolle Ahnungslosigkeit für die Geschichtsbücher in Worte fassten: Kunst ohne biografischen Hintergrund: nach drei Stunden Biografie als Hintergrund. Brigitte Kronauer wäre heute 80 Jahre alt geworden, Monty Jacobs starb vor 75 Jahren. Sein „Ibsens Bühnentechnik“, 1920 im Sibyllen-Verlag Dresden erschienen, liegt auf dem Stapel meiner Ibsen-Bücher ganz oben. Seine Sammlung „Deutsche Schauspielkunst“ gehört zu meinen oft und oft benutzten Büchern. Neuerdings begegnet er mir fast täglich in der „Vossischen Zeitung“ als M. J. oder auch mit vollem Namen. Mehr Bücher als 2020 las ich zuletzt 2008 zu Ende. Sieht gut aus.

28. Dezember 2020

Ganze drei der 160 frühen Feuilletons, die Tina Krell von Arthur Eloesser sammelte, muss ich nur noch lesen, es hat sich über Wochen hingezogen. Zugleich wird die Zahl der Feuilletons, die wir selbst sammeln, von Tag zu Tag größer, vor allem Theaterkritiken finden wir. Zu Stücken und Autoren, von denen ich nie etwas hörte, ebenso wie zu den großen Namen der Jahrhundertwende um 1900. Mit meinem Theodore Dreiser bin ich tatsächlich fertig geworden, um sofort einen Sprung in eine ganz andere Zeit zu tun: zu Matthias Claudius. Nach zwei Anläufen zu ihm führt vielleicht der dritte zu einem Ziel. Werner Weber hat den hübschen kleinen Band in der Manesse Bibliothek der Weltliteratur herausgegeben, der Platz neben dem DDR-Reclam-Band gefunden hat. Liest man, was Literaturwissenschaftler über das „Abendlied“ schrieben, muss man sie, anders als Sisyphos mit seinem Stein, als unglückliche Menschen sehen. Sie leiden unter Deutungszwang.

27. Dezember 2020

Es gab Jahre, da wir an diesem dritten Feiertag, der nie einer war, zur Ilmenauer Festhalle strebten, um dort den so genannten Ex-Pennäler-Ball zu frequentieren. Die Abiturjahrgänge waren nach Tischen vorsortiert, die stärksten Gruppen kamen immer aus den jüngsten Jahrgängen. 1973, als alle eben die Armee hinter sich hatten, war der 27. Dezember fast ein Klassentreffen. Später wurden es weniger und weniger, einmal waren wir auch mit zwei Jahrgängen in einer Familie vertreten: 1971 und 1996. In diesem Jahr wäre der Ball ohnehin ausgefallen, wie alles ausfiel. Keine Melancholie deswegen. Es gibt immerhin eine Zeitung an der Tankstelle, wir gönnen uns einen längeren Gang durch die Dunkelheit, wir telefonieren mit Dresden. Nein, wir bleiben bei unserem Entschluss, so schwer er uns gefallen ist. Ich greife der Abwechslung halber zu einem Theodore Dreiser, beginne sogar, etwas zu seinem morgigen 75. Todestag zu schreiben. Früher hätte ich das spontan genannt.

26. Dezember 2020

Natürlich hat der heutige Boxing Day mit Boxen nichts zu tun, weshalb in England an diesem Tag Fußball gespielt wird. Seit mehr als 150 Jahren. In anderen Kulturen werden an diesem Tag die Reste verspeist, falls welche blieben, oder es folgt der schweren Gans ein leichterer Vierfüßler. In der englischsprachigen Welt erhalten Angestellte an in diesem Tag angeblich Schachteln mit Inhalt, Boxes eben, von ihren Chefs (und Chefinnen). Wer weiß, was mir meine seltsamen Chefs geschenkt hätten, wenn ich ein Engländer gewesen wäre, vielleicht eine Oldenburger Wurst, die in Thüringen immer besonders gut ankommt. Mit Gutscheinen fährt man in diesem Jahr, wenn sie lange genug Gültigkeit haben, auf alle Fälle am besten. Wir gehören zu jenen älteren Bürgern, die sich über einen Gutschein freuen, wenn der zum Besuch einer Saunalandschaft unserer Wahl berechtigt, auch wenn wir nicht absehen können, wann wir wieder dürfen. Vorläufig wollen wir freiwillig gar nicht.

25. Dezember 2020

Gestern hätte ich schreiben können: „Heute vor 75 Jahren, am 24. Dezember 1945, erschien in Berlin die allererste Nummer einer Zeitschrift mit dem Titel „Ulenspiegel“. Im Jahr 1978 erschien im Eulenspiegel Verlag Berlin eine großformatige Auswahl aus dieser „Zeitschrift für Literatur, Kunst und Satire“, wie sie im Untertitel hieß, eher ein Bildband als ein Textband.“ Erst heute aber nahm ich nach Jahren diesen Band wieder in die Hände, nicht wegen des Jubiläums, von dem ich nichts ahnte, weil ich die Seiten suchend durchblätterte: suchend nach Texten von Wolfdietrich Schnurre. Das wiederum hing damit zusammen, dass ich zuvor eine Erinnerung von Günter Kunert an Schnurre gelesen hatte, der wiederum neben Herbert Sandberg einer der Herausgeber des 78er Bandes war, ehe er wenig später die DDR für immer verließ. Ich fand zwei Schnurre-Texte, den, an den Kunert vor allem erinnert hatte, aber nicht. Es ging manches in der DDR, vieles ging aber nicht.

24. Dezember 2020

Zwischen Berlin und Ilmenau gibt es, soweit es Zeitungen betrifft, eine gestörte Verbindung. Von den drei Zeitungen, die ich jeweils am Donnerstag kaufe, fehlt immer wieder eine, heute ist es die Berliner Zeitung. Man muss sie nicht unbedingt lesen, ich lese sie halt einmal in der Woche aus alter Verbundenheit, obwohl dort das, was man zu Zeiten Leser-Blatt-Bindung nannte, nicht eben gepflegt wird. Antwort auf einen Leserbrief, der auch noch eine leicht erfüllbare Bitte enthielt – Fehlanzeige, die Freundlichkeit erhöht sich auch nicht, wenn man auf frühere eigene Mitarbeit am Blatt verweist, eher im Gegenteil. Am 24. Dezember 1990 starb im 80. Lebensjahr Friedrich Luft, in seinen zwei Bänden mit Theaterkritiken, von Fritz J. Raddatz herausgegeben, lese ich seit Jahren portionsweise bei Bedarf, meist mit Vergnügen. Ich bilde mir sogar ein, mich noch dunkel an seine Radio-Stimme zu erinnern. Weil wir allein sind, gibt es Karpfen blau am Abend, nach Jahren ohne.

23. Dezember 2020

Es steht kein Weihnachtsbaum in unserem Wohnzimmer, denn es kommt niemand, für den wir etwas darunter legen müssten. Was dort liegen würde, ist längst bei denen angekommen, für die es gedacht ist. Wir werden Heiligabend völlig allein sein, was wir nicht als größtmögliche Katastrophe ansehen, da gäbe es schlimmere andere. Wir werden an fünf Abenden in unmittelbarer Folge Gelben Muskateller trinken, vier aus unserem Dauerdomizil Weißenkirchen in der Wachau. Ich werde wie seit Wochen noch bis kommenden Dienstag täglich drei Feuilletons von Arthur Eloesser lesen, dann habe ich nicht weniger als 160 von ihnen intus. Die Post bringt einen Tausend-Seiten-Wälzer aus dem Jahr 1959, es ist die zweite Auflage eines Buches von 1935, erweitert, 1962 folgte noch eine Auflage: „Juden im deutschen Kulturbereich“, Herausgeber Siegmund Kaznelson. Kultur reicht in diesem Buch von Literatur bis Heer und Marine sowie Tierheilkunde. Mehr Breite geht wohl kaum.

22. Dezember 2020

Überraschungsanruf, Überraschungsbesuch und milde Gaben zwei Tage vor dem Tag der Gaben. Mein Freund Volkmar aus Gehren. Wir reden fast nur über Zeiten, die vor unseren Zeiten lagen. Nach der Pflicht der Morgens aus der „Vossischen Zeitung“ die Kür des Tages mit Felicitas Hoppe, mit der ich mich selbst überrasche. Gratuliert man ungalant Damen, die man nicht kennt, zum 60. Geburtstag? Wenn sie Schriftstellerinnen sind, kann man da mal eine Ausnahme machen, zumal mir der 22. Dezember ja für immer als Geburtstag etwas bedeutet. Viele Jahre waren wir an diesem Tag in der Johannesstraße in Gehren. Jetzt laufen wir, wenn wir in Gehren sind, an seinem Grab vorbei, wischen manchmal ein Blatt weg. Bevor wir die Blätter auf unserem Grab wegwischen. Ich muss mir wohl einen neuen Drucker kaufen, meiner zieht immer öfter mehr als ein Blatt Papier ein und spielt dann Papierstau. Was die zu druckende Datei in die Warteschleife schiebt, wo es ihr gefällt.

21. Dezember 2020

Dies ist der kürzeste Tag, heißt es immer, wobei natürlich jeder weiß, der Tag ist nicht kürzer als jeder andere, die Nacht, soweit sie nicht als Teil des Tages gesehen wird, wäre und schon verwirren wir uns in unseren Gedanken, ja auch nicht und so weiter. Vor die Wahl gestellt, ob ich heute an den 70 Jahre alten Schweizer Thomas Hürlimann denke oder an den seit 80 Jahren toten Amerikaner Francis Scott Fitzgerald, von denen ich den zweiten deutlich besser kenne als den ersten, entscheide ich mich für keinen von beiden. Immerhin nehme ich einige Bände des Amerikaners in die Hände, sie stehen hinter der Wohnzimmertür, man sieht sie also nur, wenn diese geschlossen ist. Als zuletzt wieder einmal „Der große Gatsby“ im Fernsehen zu sehen war, sahen wir ihn nicht. Für den Fall, dass ich morgen an Thomas Valentin denken könnte, legte ich mir den dicksten seiner Bände, „Der Hausfreund“ auf den Arbeitstisch, überfliege schon einmal meine Dateien, von denen es vier gibt.

20. Dezember 2020

So lange vor Weihnachten war der vierte Advent lange nicht. Die Baustelle rund um meine Tankstelle ist keine mehr, ich muss nicht mehr Slalom laufen, wenn ich meine Zeitungen holen will. Was war eigentlich früher weißes Weihnachten? Ein freundlicher Bürger, der einst in Langewiesen lebte, hat mich im weiten Netz gefunden, wo ich textuell abhänge und hat mir freundliche Grüße zukommen lassen. Ich habe freundlich zurückgegrüßt und das ausdrücklich nicht um 5.45 Uhr. Ganz ungeplant setzte ich ein Textlein zu einer Dame auf meine Seite, die ich bis dato nur als Herausgeberin des Briefwechsels von Hermann Hesse und Thomas Mann kannte und als eine gelobte Übersetzerin aus dem Dänischen. Norwegischen und Schwedischen. Auch eine Sammlung schwedischer Märchen gab sie heraus. Und nun entdecke ich sie als Historikerin der deutschen Buchkritik, der ich mich natürlich in gewisser Weise zugehörig fühle. Irgendwo in einer Ecke.

19. Dezember 2020

So lange es Menschen gibt, die eine halbe Zeitungsseite mit Erwägungen füllen können, was es bedeutet, wenn eine Miley Irgendwie, irgendwie die 70er oder 80er Jahre reflektiert, ist die Welt im Ganzen und Großen in Ordnung. Selbst das Thema Corona löst sich unter den unbestechlichen Journalisten, respektive Printmedien-Belieferern, dahingehend auf, dass neben der medizinischen eine zweite Methode der Pandemie-Bekämpfung greifen sollte, hier nenne ich den Namen anders als gestern, weil ab einem bestimmten Grad des Blödsinns nicht mehr die Verhältnisse schuld sind, sondern das Hirn des Schreibkomikers: Laut Andreas Bernhard lässt sich das Coronavirus dann beherrschen, wenn es uns (also vermutlich ihm) gelingt, aus einem diffusen Infektionsgeschehen eine nachvollziehbare Erzählung zu machen. Ha, sagt der Feuilleton-Chef, der meint Narrativ, das verstehe ich, weil ich auch diesen ganzen Narrativ-Blödsinn gelesen habe. Prost Mahlzeit, Freunde!

18. Dezember 2020

Eine linke Journalistin, deren Namen ich nicht nenne, stellte diese Woche fest, dass es keineswegs feststehe, dass die Ansteckung mit dem Corona-Virus über private Kontakte geschehe. Im Lager der so genannten Rechten wird das sehr viel Freude ausgelöst haben, weil es unabhängig vom seit Hegel bekannten Ineinander-Übergehen der Gegensätze belegt, wie schön einfach Weltbilder sind und wie noch schöner man damit sich selbst entlasten kann. Denn Privatkontakte haben etwas von Neoliberalismus, das ist der Hitler nach dem Tod Hitlers, wo doch eigentlich immer die Verhältnisse an allem die Schuld tragen. Das Alter dieser Grundüberzeugung berechtigt zwar derzeit sofort zu bevorzugter Schutzimpfung, sie ist nichtsdestotrotz aber nur eine Verkürzung eines gewissen Herrn Marx, bei dem Verhältnisse nichts anderes sind als das gegenseitige Verhalten von Menschen, womit wir wieder am Anfang wären: Verhältnisse sind immer Privatkontakte, Frau Namenlos.


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