Tagebuch

31. August 2020

Nachtrag: Das Hotel Campanile hat uns gut versorgt, die Koffer wurden vor der Abfahrt noch einmal nach Ausstiegen sortiert: wir sind wieder in Waltershausen an der Reihe, in den Zubringer nach Ilmenau umzusteigen. Anders als gestern verläuft die Fahrt heute, obwohl Montag ist, völlig ohne den geringsten Stau. Wir sehen im Burgund gleich mehrere Güter, die Cremant herstellen, die Hinweisschilder an der Autobahn, die ihre Botschaft mit Bildern illustrieren, oft mehrere zu einer Stadt, stehen deutlich dichter als bei uns. Manches kennen wir: Beaune zum Beispiel oder Dijon. Die letzte Rast auf französischem Boden bringt mir noch einmal drei lothringische Biere, alle, die ich bisher hatte, gaben mir ihre Etiketten ohne unüberwindliche Schwierigkeiten her. Wir hatten uns noch extra mit vietnamesischen Rasierklingen für die harten Fälle ausgestattet. Es ging unblutig ab. Kurz nach 21 Uhr zerrten wir die Koffer in unseren Fahrstuhl, das Auspacken kostete gute Zeit.

30. August 2020

Nachtrag: reichlich zehn Stunden brauchen wir von La Massana nach Tassin, wo uns heute das Zimmer 115 erwartet: problemfrei. Unterwegs überraschende Bilder. Was wir als kühlendes Gewitter erlebten, war auf allen Berggipfeln Andorras Schnee. Weiß vor blauem Himmel, wie Postkartenmotive mit Nachkolorierung. Zunächst verläuft alles gut und zügig, schon zehn Minuten vor 9 Uhr verlassen wir Andorra, wir sehen Carcassonne, wohin wir gefahren wären, wenn Spanien gesperrt worden wäre: wir hätten fast drei Stunden Fahrt für eine Strecke gebraucht, La Seu d’Urgell war die gute Alternative. 200 Kilometer vor Lyon begann ein nicht endender Dauerstau, wir verloren eine runde Stunde. Die Zeiten, da französische Autobahnen angeblich leer waren wegen der hohen Mautgebühren, scheinen endgültig vorbei, jetzt ist alles voll, obwohl man keine Touristen sieht, nicht einmal Holländer, die sonst überall sind und immer schon da: Märchen-Igel.

29. August 2020

Nachtrag: Andorra hat ein kleines feines Parlament, das wir von innen sahen. Heute sehen wir die spanische Stadt La Seu d’Urgell, wo es nicht nur die olympische Wildwasserbahn des Jahres 1992 gibt, wir haben auch Glück, Trainierende zu sehen, sondern vor allem die Kathedrale des Bischofs, der einer der beiden Staatsoberhäupter von Andorra ist, der andere ist immer der Präsident von Frankreich, derzeit also Macron. Da wir aus Nicht-EU-Gebiet kommen, kontrolliert die Guardia Civil, wenn auch nicht allzu streng, immerhin kommt einer sogar in den Bus. Wir sind zeitig zurück in La Massana, was uns die Chance gibt, auch die ortseigene Seilbahn noch zu nutzen: preiswert für nur elf Euro beide Touren, unserem Beispiel folgen andere aus dem Hotel. Anders als in Andorra la Vella bekommen wir oben Aperol Esprit, wie wir in bestellen. Den Hitzetagen folgt ein kräftiges Gewitter mit Regen und etwas Hagel. Die Luft kühlt massiv ab, wir packen zur Abreise morgen.

28. August 2020

Nachtrag: Mein „Goethe 1820“ ist leider sehr umfänglich geraten, dennoch wäre weniger nicht mehr gewesen, denn es muss mir ja letztlich auch selbst ein wenig gefallen. Wir sehen heute zuerst den kleinen Stausee Llac d’Engolasters mit einigen technischen und bautechnischen Details und hören von den Schwierigkeiten, die es bereitete, ihn zu bauen ohne Straßen, ohne Strom und fast ohne Technik. Zwei Turbinen laufen seit 1934. Danach sind wir in Andorra la Vella und in Escaldes, beide gehen ineinander über. Ich erkenne natürlich das Thermalbad wieder, von dem wir 1996 nicht wussten, dass es ein Thermalbad ist, wir hatten keinen Reiseführer. Jetzt haben wir einen ganz und gar hervorragenden, der all unsere Andorra-Tage bei uns bleibt und ungeheure Mengen an guten Nebeninformationen über Land und Leute vermittelt. Ich erkenne den Supermarkt wieder, in dem ich seinerzeit ein paar Biere für die Sammlung kaufte, stellte dann alte 1996er Spiegel-Fotos nach.

27. August 2020

Nachtrag: Erste Tagesstation erreichen wir mit der neuen 10er Gondelbahn Ordina Arcalis in 2200 Metern Höhe. Dort wandern wir ein wenig bergauf, rechts und links einfachste Steinbauten, wie sie von Hirten und Trägern genutzt wurden, wir hören Murmeltiere pfeifen, sehen sie aber nicht. Wir befahren zweimal einen Tunnel, der anzeigt, dass hier die Tour de France 1997, 2009 und 2016 durchkam: 1997 hieß der Etappensieger Jan Ullrich, 2009 Brice Feillu und 2016 Tom Dumoulin. Die Attraktion des Tages heißt Os de Civis, ist eine katalanische Enklave, die nur von Andorra aus erreicht werden kann. Ehe wir unser großes Fünf-Gänge-Menü in Angriff nehmen, schauen wir uns das Dorf an, sehen die alte Schule, die mit einem Schild den letzten aller Schultage hier im Jahr 1989 im Gedächtnis hält. Dass unser Haupt- und Staatsphilosoph Georg Wilhelm Hegel heute vor 250 Jahren geboren wurde, ist kein Urlaubsthema, „Goethe und Hegel“ wird keins für mich vorerst.

26. August 2020

Nachtrag: Der erste echte Andorra-Tag mit schönen Zielen. Zuerst der Skywalk Mirador del Roc del Quer oberhalb von Canillo. Dann die Santuary de Meritxell, das alte und das moderne Heiligtum der Andorraner, die anders als wir überall (und schon die ganz Kleinen inklusive) mit Maske laufen müssen, egal, wie weit der nächste Mensch entfernt ist, das nennt man allgemeine Maskenpflicht. Auf hohen Bergen und in Wäldern macht das besonders ausgemachten Spaß. Wir besuchen die erste Destillerie Andorras, die zwei Deutschen gehört, die sinnigerweise Engels und Marx heißen und im Urlaub sind, als wir kommen. Die Preise im Land ohne Mehrwertsteuer sind unschlagbar. Zweimal sind wir in Pal, einmal auf einem Berg mit dem sehr schönen Namen Col de la Botella, wo es eine Plastik gibt, die eine gekippte Teetasse vorstellen soll. Wir sehen Sant Climent del Pal, eine der sehr alten Kirchen Andorras. Mein Franz-Werfel-Text steht im Netz, die kleine Abwesenheitsvertretung.

25. August 2020

Nachtrag: Auch von Tassin aus, wo wir um 8 Uhr starten, bleiben noch fast zehn Stunden, ehe wir endlich in La Massana unser Hotel beziehen. Wir haben Zimmer 209 zur Straße raus, es ist recht laut, wenn wir das Fenster öffnen. Dass zu Hause in Deutschland Maxim Biller heute 60 Jahre alt wird, weckt hier nicht unser Interesse, die Feuilletons hatten zuletzt in dichter Folge Beiträge von ihm und über ihn. Der Begrüßungsabend entfällt mangels Reiseleiter, wird morgen nachgeholt. Erste Erkundung in der Nachbarschaft, kleiner Einkauf, Wein, der bei „Mitte Meer“ fast doppelt so teuer ist wie hier, dazu ein wenig regionales Bier für den Sammler, der schon Biére du Lorraine, sprich: lothringisches Bier, unterwegs gesammelt hatte. Französische Raststätten sind offenbar viel dichter gebaut als bei uns und sehr großflächig. Wir fuhren an vielen Namen vorbei gestern und heute, die uns vertraut waren von 2003 und 2004 her. La Massana ist eine von sieben Gemeinden.

24. August 2020

Nachtrag: Wer nach Andorra will, hat eine lange Anfahrt. Für 4.40 Uhr ist unser Abholtermin vor der Haustür vereinbart, der Fahrer ist knapp zehn Minuten eher da. Unser bisher einziger Besuch in Andorra liegt viele Jahre zurück: am 11. April 1996 kamen wir von Salou in Spanien her zu einem Tagesausflug nach Andorra la Vella, Shopping sollte das Ziel sein, viel sahen wir dabei nicht. Wir fahren durchs Saarland nach Frankreich, passieren die französische Grenze kurz vor halb zwölf, sechseinhalb Stunden später sind wir in Tassin nahe Lyon, wo wir die Zwischenübernachtung haben. Wir wechseln vom Zimmer 101 zu 120, denn in 101 haben die Service-Kräfte vergessen, ihres Amtes zu walten, es sieht aus, als wäre eben jemand aus den Betten gesprungen, im Bad liegen die Handtücher nass am Boden. Da die neue Tür-Karte nicht funktioniert, muss ich nochmals zur Rezeption, so kommen sogar noch ein paar Schritte auf den Zähler. Abendessen gut, Wein mäßig.

23. August 2020

Vielleicht wäre ich Hegelist geworden oder doch nur Hegelianer, wenn mein Professor nicht Fritz Kumpf geheißen hätte, der den Hegel ausschließlich durch die Brille von Lenins Exzerpt-Heften sah, was nicht die dümmste Sicht war, aber eine sehr einseitige. So hielt ich mich eher an Fichtes Vorlesungen „Von den Pflichten des Gelehrten“ oder „Die Bestimmung des Menschen“ und kreiste um Hegel wie der Kater um den erkalteten Brei. Nur seine drei Bände „Geschichte der Philosophie“ verlockten mich hie und da. Weshalb ich heute bereits alle Hegel-Artikel zum 250. Geburtstag kommender Woche ins Archiv versenkte: ich bin im Urlaub und kann gerade nicht. Deswegen tritt hier auch erst einmal die übliche Funkstille ein, ihr folgen die Nachträge, wie gehabt. Als Trost für zwischendurch wird es erst etwas über Franz Werfel geben, was ich gerade redigiere, und etwas zu Goethe, was ich eigentlich nicht noch einmal redigieren will. Nun nur noch rasch alle Akkus laden.

22. August 2020

Natürlich habe ich „Fahrenheit 451“ gelesen, mein erschöpfliches Archiv enthält vier Typoskript-Blätter ohne Datum, vermutlich im Februar 1980 geschrieben, da steht das Buch nämlich im Register. Die Blätter enthalten ausschließlich Zitate, keine Kommentare, das war noch die alte Arbeitsweise. Ray Bradbury wäre heute 100 Jahre alt. Seinen 90. Geburtstag erlebte er noch, das Finale der DDR natürlich auch, aber ob es ihn interessiert hat? Sie verabschiedete sich von ihm mit dem Druck von „Der Tod ist ein einsames Geschäft“ 1989 und die Kritiker sahen etwas wie einen Krimi darin, aber mehr und besser. „Fahrenheit 451“ nennt man heute einen Dystopie-Klassiker, was viele erst nachschlagen müssen, denn nur in Kreisen gehobenen Geistes geistert das Wort wie ein echter Geist. Auch Wolfdietrich Schnurre hätte heute seinen 100. Geburtstag. Vermutlich kannte er Bradbury eher als dieser umgekehrt ihn. Macht aber nichts, tot sind sie nun längst alle beide.

21. August 2020

Wenn auf einem Foto drei junge Menschen zu sehen sind, nebeneinander, dann steht einer links, einer in der Mitte und einer rechts. Man kann allenfalls noch anmerken: vom Betrachter aus gesehen. Wenn der rechts Stehende Walter Ulbricht heißt, dann steht er in der Bildunterschrift nicht rechts, wie NEUES DEUTSCHLAND gestern unnachahmlich vorführte, sondern er ist der dritte von links. Ulbricht war offenbar ein sehr kleiner Tischlerlehrling mit sehr großen abstehenden Ohren. Über das Buch des Urenkels über seinen Urgroßvater äußerte sich Egon Krenz, den die Aktivisten von 1989 nicht mit großen Ohren, wohl aber mit großen Zähnen auf ihren Plakaten verunewigten. Ich, der ich einmal fast auf den Zehen von Egon Krenz stand in Schwerin und er wollte mein Gedicht nicht beklatschen, bin nicht nachtragend. Ich bin überrascht, dass man es gut finden kann, wenn ein Buch über Ulbricht 1945 endet. Mein Ulbricht starb 1973 und Lotte lebte.

20. August 2020

Einstweilen muss ich, des heutigen 75. Todestages von Alexander Roda Roda gedenkend, auf meine nun auch schon wieder fünf Jahre alte Befassung mit diesem unvergleichlichen Mann verweisen, der Herrlichkeiten aus seiner Feder wird kein Ende, wenn man seine Bücher einmal in die Finger bekommen hat. Ich habe mir jüngst wieder „Die Kummerziege und andere Dienstbotengeschichten“ aus dem Regal gezogen und freue mich, wenn sich ein Zeitlückchen findet, die nächste Geschichte zu lesen. Natürlich kennt man das alles, das mit den Dienstmädchen und den Verführungen und den unehelich geborenen Kindern, man meint gar, dies hätte sich ausschließlich in der Donaumonarchie abgespielt oder abspielen können: weit gefehlt. In Berlin war das nicht anders als in Wien: nur hat es dort niemand so schön aufgeschrieben. Gestorben ist Roda Roda in New York im Alter von 73 Jahren. Da wäre mehr möglich heute, wo die seltsamsten Figuren einfach nicht sterben wollen.


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