Lessing: Minna von Barnhelm, Schauspiel Hannover
Weder der „Faust“ noch die „Minna von Barnhelm“ sind Speck, ebensowenig die braven Theatergänger Weimars Mäuse. Und dennoch hat der Satz „Mit Speck fängt man Mäuse“, bezogen auf den neuen Intendanten Hasko Weber, eine gewisse Berechtigung. Denn der muss, ehe er in der Wahl von Haus- und Gastregisseuren Beweise antritt, gar nicht zwingend gleich mit eigener Regiekunst um sein Publikum werben. Wenn er es dennoch tut, deutet es schon immer mal auf ein gesundes Selbstbewusstsein. Als Mann des Jahrgangs 1963 darf er das haben, ohne jemandem damit Verwunderung abzunötigen, eine Referenzliste muss er nicht mehr vor sich hertragen. Zu allem ist es natürlich geradezu wunderbar, wenn es gelingt, auf solchen Wegen ein Gastspiel ins Haus zu holen, das zu den hauseigenen neuen Gesichtern gleich noch einmal neue aus der niedersächsischen Landeshauptstadt offeriert, weil Weber eben da diese „Minna von Barnhelm“ inszenierte. Premiere in Hannover war am 12. Januar. Weber sah sich in Reihe 7 seine eigene Inszenierung an und der immer wieder aufkommende Szenenapplaus wie der lange Schlussbeifall und die zahlreichen Bravo-Rufe werden ihm sicher kaum den Abend verdorben haben.
Lessings Lustspiel, eben erst bewies es mir das Potsdamer Hans-Otto-Theater, funktioniert. Es funktioniert ohne Vergewaltigungen, es wird, selbst wenn ihm an der vollen Ursprungstiefe etwas genommen wird, nicht flach, nicht platt im Handumdrehen. Regie, die ihren Darstellern erlaubt, den Strich kräftiger zu ziehen, die Geste zu überdrehen, selbst die Ferkel rauszulassen, die eine Sau erst werden wollen, kurz, die Spielfreude anstoßen, die kann bei einem Lustspiel, das den Namen verdient, gar nicht falsch liegen. Hasko Webers „Minna von Barnhelm“ aus Hannover brachte Weimar innerhalb zweier Wochen den zweiten ansehnlichen Klassiker. Es zeigt auch, wenngleich nicht aus dem eigenen Fundus, dass die missratene „Emilia Galotti“ aus der vorigen Spielzeit nicht das letzte Lessingwort sein muss hier. Selbst Minnas Hinweis während der Protokollaufnahme per Recorder seitens des Wirtes, sie käme näherhin aus Thüringen innerhalb des weiteren Sachsens, hatte balsamische Wirkung auf das Publikums des ersten der drei Gastspielabende.
Warum in Hannover deutlich kräftiger auf die Sachsenkarte als Humorfaktor gesetzt wurde als in Potsdam, soll hier nicht lange erörtert werden. An komischen Dialekten ist Deutschland reich. Zu denen, die nur mit Untertiteln zu verstehen sind, gehört der sächsische nicht, allerdings ist es sein Alleinstellungsmerkmal, übergangslos für Gelächter zu sorgen. Hasko Weber hat Carolin Eichhorst den Part übertragen, als Franziska für dieses Gelächter zu sorgen. Die Darstellerin ist dabei mehr jene komische Lisette der aufklärerischen Lustspieltradition als deren Aufhebung auf höherer Ebene, wie Lessing sie konzipierte. Das tut aber wenig, denn immer noch ist sie weit weg von der trippelfüßigen Dienerin, die das Plappermaul zu geben hat, man merkt ihr die gemeinsame Erziehung mit Herrin Minna noch an. Soll sie ruhig einmal ihren Hintern in die Höh' strecken, wie das Entchen, das auf dem See schwimmt, man erkennt am Horizont den Komödienstadel, er ist es jedoch nicht. Dazu hat Franziska einfach zu viel guten (Lessing-)Text.
Es gibt natürlich auch eine Bühne, auf der alles stattfindet. Sie zeigt dem Zuschauer zunächst einmal vier Türen, drei rechts, eine links, die linke wie die Schwingtüren der Western-Saloons, die wir aus dem Fernsehen kennen und dem Kino. Bei den rechten drei Türen steht eine Trittleiter, welche der Wirt insgesamt dreimal besteigt, um den fragmentarischen Preußenadler an der Wand wie ein Riesenpuzzle zu vervollkommnen. Durch alle vier Türen lässt sich trefflich rennen, hinter allen vier Türen lässt sich trefflich lauschen, an der Schwingtür bleibt schon mal eine Kopfbedeckung auf der Strecke, Thilo Reuther steht im Programmheft dafür gerade. Anette Hachmann hat sich für Kostüme entschieden, die zwanglos Lessingzeit suggerieren, ohne den bekannten Chodowiecki-Stichen kopistisch nahe zu sein. Das sieht gut aus, inklusive der Frisuren, insbesondere die der Minna sieht aus wie fest gemauert in der Erden. Die Herren haben dafür die Zopf-Perücken.
Solange es die „Minna von Barnhelm“ gibt, haftet der Tellheim-Rolle die Undankbarkeit, den so genannten Nebenrollen dagegen die Dankbarkeit an. Hasko Weber hat weder die Dame in Schwarz noch den Feldjäger gestrichen, welcher spät, aber nicht zu spät mit dem königlichen Handschreiben erscheint. Er hat Florian Hertweck diese beiden Figuren spielen lassen und dazu noch den Riccaut. Letzteren haben in den Jahren seit der Uraufführung Heerscharen von Männern gespielt, die Theatergeschichte schrieben, darunter auch, um nur zwei sehr unterschiedliche zu nennen aus der jüngeren Aufführungsgeschichte, Theo Lingen und Bernhard Minetti. Hertweck sammelt zunächst die selbst bei grober Fehlleistung unvermeidlichen Lacher für den Mann in Frauenrolle. Er holt das Geld aus dem Strumpfband, das Tellheim nicht annimmt. Als Feldjäger ist er für die Kürze des Auftritts zum Brüllen komisch und als Riccaut hätte er den Eintritt gelohnt, wenn alle anderen Mimen zu Hause geblieben wären. Der Wirt Andreas Schlager hat seine Momente wie Janko Kahle als Diener Just, der zunächst mit dem Kopf in Richtung Publikum schnarcht, ehe er seine Tirade startet. Später sammelt er das verstreute Geld in seine abgerutschte Perücke, während der Wirt wie der Ulmer Spatz mit der Leiter quer durch eine der Türen will. Als er schildert, wie es zwischen Tellheim und Minna zuging, ist Andreas Schlager auf seinem Höhepunkt des Abends.
Minna und Franziska, für die der Wirt Tellheims Zimmer räumte, weil er keinem anderen Wirt das Geschäft gönnen wollte, erscheinen nach der kurzen Nacht im Vollzug der Morgentoilette, Carolin Eichhorst putzt sich die Zähne und Julia Schmalbrock hat eine Gesichtsmaske auf aus dickster Fettcreme, es ist die Stunde, da alle erotische Anziehungskraft den Nullpegel erreicht und unter ihn fallen würde, wenn dies ginge. Komisch wirkt es seltsamerweise immer auf der Bühne, wenn sich dort jemand lauthals die Beißer bürstet, wir sollten darüber nachdenken. Auch Zahnseide kommt zum Einsatz und Minna glänzt wie eine Speckschwarte, als Franziska die Maske ihrer Herrin entfernt hat. Es gibt ein wenig von jener Lautstärke, die mich im Theater immer, ein Lessing-Wort zu nutzen, verdrüsslich macht. Lautstärke weckt, ich las das irgendwo und glaube es seither, den Verdacht, hier werde ein fehlendes Ausdrucksmittel überspielt. Es kennzeichnet die Inszenierung nicht, auch wenn es nicht zu überhören war.
Den Wachtmeister Paul Werner gibt Aljoscha Stadelmann. Er knutscht Franziska bis knapp vor die einsetzende Schnappatmung beider Beteiligter und sammelt den ersten dicken Szenenapplaus des Abends. Franziska ist anschließend auf Wolke sieben bis neun und das zeigt Carolin Eichhorst, hach, sie zeigt es. Der alte Perückenträger Lessing hat da eine Vorlage geliefert wie Manni Kaltz auf den Kopf von Horst Hrubesch, die szenische Bananenflanke gewissermaßen, die gar nicht so sehr aus der Luft gegriffen ist, wie sie scheint, denn bei Manfred Kaltz plus Hannover 96 gibt es prima Treffer bei sämtlichen Suchmaschinen des weltweiten Web. Stadelmann darf dieser Franziska unter den Rock gucken, weil sie ihn lässt und schon gibt es den nächsten Szenenapplaus. Die Pause danach kommt wie gerufen, denn das Lachen in Parkett und Rang wird massiv selbst Grund zum Lachen, das treibt Schweißperlen auf die Stirn.
Immer wieder auch nach der Pause die Einfälle, die jede Komödie braucht: der beleidigt-enttäuschte Paul Werner verlässt die Bühne und setzt sich in die erste Reihe, bis Tellheim ihn fragt. „Spielst du wieder mit?“ Es gibt Szenenapplaus für puren Lessing-Text (Brief), Szenenapplaus für den Running Gag der Franziska, die sich beim Wirt nach der nächsten Mahlzeit erkundigt, die den Zeitpunkt der Verabredung für die gemeinsame Kutschfahrt wiederholt: „Um Punkte drei!“. Eigens für das weibliche Publikum, soweit es die Phase der eigenen Jungfräulichkeit hinter sich hat, erzielt der wegrutschende Sacklatz des Riccaut einen besonders lang anhaltenden Zwischenapplaus, es gibt eine herrlich getrippelte Ringrückgabe (aneinander vorbei) und so weiter und so fort. Hat bei allem Thomas Mehlhorn, der Tellheim der Inszenierung, eine realistische Chance, nicht unterzugehen? Er hat und das ist vielleicht das Erstaunlichste, was diese Inszenierung zuwege gebracht hat. Jeder Tellheim, der sich vollkommen ernst nimmt, das wussten Kritiker schon vor mehr als einem halben Jahrhundert, wird schnell hölzern. Hasko Weber hat seinen davor bewahrt, indem er ihn nach der Pause komplett von jeder Leine ließ.
Und doch heißt das Stück „Minna von Barnhelm“, es heißt nicht „Ballade vom Frauenzimmerchen und seinem Wachtmeister“ oder „Tellheims Ehre und der Ring“. Julia Schmalbrock spielt die Haupt- und Titelrolle. Sie glänzt nicht nur nach dem Entfernen der Crememaske zu Beginn des zweiten Aufzugs. Sie macht aus dem, was die Rolle hergibt und die Regie anstößt, ein Optimum. Das ist nicht so einfach, wie es scheint, denn ihr Part hat seine Stärken vielleicht am meisten von allen im Text. Der kann noch so gut sitzen, wenn er nicht zu Aktion auf der Bühne wird, haben fast alle anderen die Chance, der Minna die Schau zu stehlen. Julia Schmalbrock hat das nach Kräften verhindert. Sie bringt zum Ausdruck, dass sie die Starke ist und bleiben wird, im Kleidersack den Hochzeitsanzug für Tellheim, der finale Satz des Wachtmeisters für die eben gewonnene Wachtmeisterin, sie werde in zehn Jahren entweder Generalin oder Witwe sein, rutscht fast weg. Es möge nicht bis zum nächsten neuen Intendanten dauern, bis wieder einmal ein solches Gastspiel nach Weimar kommt.