Brecht: Trommeln in der Nacht; Theater Rudolstadt
Eines lässt sich auf keinen Fall behaupten: die „Trommeln in der Nacht“ seien ein aktuelles Stück, gar ein hoch- oder brandaktuelles. Anders wäre kaum zu erklären, dass der 1978 geborene Regisseur André Rößler dem Brecht-Text eine brachiale Rosskur verordnet, die plump und bisweilen fast deprimierend platt einherkommt. Feuerwehreinsatz und Hochamt können ausbleiben, nach 80 Minuten Spiel in Rudolstadt bleibt die Kernfrage ungeklärt: Warum gerade dieses Brecht-Stück? 1922, als es Premiere hatte, zuerst in den Kammerspielen München, die sich damit für immer in die Geschichte des Brecht-Spielens einschrieben, dann am Deutschen Theater in Berlin, beide Male mit Otto Falckenberg als Spielleiter, hielt Siegfried Jacobsohn für die WELTBÜHNE fest: „Aber warum gehöre ich, der ich all diese Tugenden erkenne und mit dem Verstande anerkenne, zu denen, die keinen Augenblick schmelzen? Vielleicht, weil das Drama oder doch seine Aufführung um vier Jahre zu spät kommt: weil die Zeitereignisse, die es Bertolt Brecht entrissen haben, uns heute nicht annähernd mehr so brennen wie damals ihn.“
Soll sich daran in den seither vergangenen fast 100 Jahren tatsächlich etwas geändert haben? Oder war Jacobsohn nur blind, obwohl er doch sonst so ein großer und treffender Kritiker war? Natürlich gab es 1922 auch andere Stimmen, vor allem Brechts Herold Herbert Ihering war von seinem Mann, dem er in eben diesem Jahr den damals sehr wichtigen Kleist-Preis zugeteilt hatte, so euphorisiert, dass er in seinen ersten beiden auf „Trommeln in der Nacht“ bezogenen Texten über das Stück, und ich meine bezeichnender Weise, die wenigsten Worte verlor. Dafür ist Alfred Kerr mit seinen Einwendungen gegen das Drama, das bekanntlich aus einer Urfassung mit dem Titel „Spartakus“ über mehrere Stufen zu dem Text gelangte, dessen Titel Lion Feuchtwangers Gattin Martha zu verantworten hat, aus heutiger Sicht geradezu frappierend hellsichtig gewesen. Und dabei ist es unerheblich, ob denn nun dem jungen Brecht dieser oder jener Einfluss nachgewiesen wird, wie viele Prozent Georg Kaiser, wie viele Sternheim, Bronnen, Wedekind, Strindberg, wer immer gleich auch genannt wurde, ihm denn nun eignen. Wirklich problematisch ist, dass das vermeintliche Revolutionsstück, in das Berliner Hintergrund erst nach und nach diffundierte, noch die Fassung von 1953 hielt genau das für weiterer Präzisierung für nötig, das behauptete Konflikt-Szenario eben nur behauptet und keineswegs vorführt. Genau das Vorführen aber, selbst unter diesem Segel ausdrücklich, ist des späteren Brechts Hauptgeschäft.
Ist es tatsächlich so, dass der Kriegsheimkehrer Andreas Kragler die für alle Zentralkommitees aller marxistisch-leninistischen Kaderparteien wegen ihrer Vorbildwirkung verheerende Entscheidung gegen Teilnahme an der Revolution, für Teilnahme am „kleinen“ Spießbürgerleben trifft? Wieso gerät dieser seltsame Kragler überhaupt in diesen Konflikt? Er hat keinerlei darauf abhebendes Vorleben. Der junge Brecht hat sich zwischen 1919 und 1922, in der Zeit, als er an diesem Stück arbeitete, zeitweise unmittelbar parallel zum „Baal“, dem Skandal-“Baal“, der freilich noch keine Bühne fand, um historische Stimmigkeit eben nicht gekümmert. Mühsam hatten deshalb die Deuter zu sortieren, was denn nun dieser Kragler überhaupt für einer sei: er kommt in blauer Artillerie-Uniform daher, obwohl das deutsche Heer fast von Beginn des Krieges Feldgrau trug. Das ordnet ihn einererseits der Artillerie zu, macht ihn aber notwendig zu einem sehr frühen Gefangenen, der wiederum zwingend in französische Gefangenschaft geraten sein muss, weil nur die Franzosen ihre Gefangenen offenbar nach Afrika schafften. Dazu passt die Erwähnung von Marokko im Text leidlich, keineswegs aber Kraglers Behauptung, dort Neger in die Bäuche geschossen zu haben und Straßen gepflastert. Selbst Rassisten nannten die Araber Nordafrikas nie Neger.
Regisseur Rößler hat erwartungsgemäß, sonst wäre der Blackfacing-Debatten-Beitrag der missratenen „Othello“-Inszenierung in Rudolstadt noch nachträglich absurder gemacht, als er schon so war, dem Brecht den Rassismus ausgetrieben. Immer dort, wo bei Brecht das Wort „Neger“ steht, ist es ganz getilgt oder ersetzt, nur einmal darf dem freilich den Bösen gebenden Vater Balicke (Hans Burkia) ein „Negerkutsche“ entfahren, einmal wird Türke eingesetzt und bei den Bäuchen, in die geschossen wurde, erscheint Menschen. Wir freuen uns bereits auf die Umbenennungskampagne der „Negritude“-Bewegung, Frantz Fanon wird sich vermutlich im Grab umdrehen schneller als ein Ventilator ohne Migrationshintergrund am afrikanischen Äquator. Der Heimkehrer Kragler, der zur Handlungszeit, die eine einzige Nacht umfasst, es ist verblüffend, wie blind manche Besprecher dieser Tatsache gegenüber stehen, vier Jahre weg und vermisst war, es gab aber scheinbar auch falsche Informationen über sein Schicksal, dieser Heimkehrer hat offenbar eine ominöse Vergangenheit. Als Gefangener hat er keinesfalls geschossen, als Artillerist saß er kaum im Graben voller Lehm. Vielleicht aber war er, es darf spekuliert werden, Angehöriger einer deutschen Kolonialtruppe, dann hätte er erst schießen und später Gefangener sein können in Afrika.
Bei Brecht unternimmt Kragler drei Fluchtversuche, der dritte gelingt. Bei Brecht räsoniert der schon erwähnte Vater Balicke über die Moral der Heimkehrer, die am Handlungstag freilich noch gar nicht in Berlin sein konnten massenweise. Aber das ist nebensächlich. Warum jedoch macht Regisseur Rößler aus drei Fluchtversuchen vier?? Weil er seine „Trommeln in der Nacht“ aus dem Jahr 1918 ins Jahr 2024 verlegt? Welch absurde Logik sollte da walten? Um es gleich zu sagen: Mit seiner ärgerlichen Aktualisierung stiftet der Regisseur zusätzliche Anachronismen. Denn wenn schon der keineswegs aufgewertete Journalist Babusch (Joachim Brunner mit Lords-Perücke), der vor lauter Ansagen und Kommentieren gar nicht zum Spielen kommt, 1922 war ein Kritiker froh, das Babusch eben nicht als Chor-Ersatz fungiert, was denkbar schien, mühsam eine Endzeit-Vision zu diffusen Einspielbildern beschwört, dann ist das Jahr 2024 in dieser Vision trotzdem fast unbeachtet geblieben. Denn wie sonst ist es denkbar, dass aus dem geschlachteten Textbestand ausgerechnet das Zeitungsviertel ungetilgt blieb. Sollten tatsächlich in der Nicht-.Revolution von 2024 Zeitungsviertel eine Rolle spielen, die schon heute keine Rolle mehr haben angesichts des Internets und der sozialen Netzwerke dort. Immerhin fällt in Rudolstadt einmal das Wort Facebook. Das bei wirklich jungen Leuten längst keine Rolle mehr spielt. Weil die Rentner es entdecken.
Das Beschwören einer revolutionären Situation im Sinne der klassischen Revolutionstheorie, die Brecht selbst zum Zeitpunkt der Stückentstehung noch gar nicht kannte, in einer wie immer nahen Zukunft, entspricht möglicherweise genau jener Verkürzung der revolutionären Perspektive, über deren Wirkungen schon tief im real existierenden Sozialismus an den passenden Lehrstühlen gesprochen wurde. Der Westen kennt die revolutionäre Ungeduld seiner Adepten auch, man glaubte, mit „direkter Aktion“ Massen in Bewegung setzen zu können und endete im platten und mörderischen Terrorismus. Während die Menschheit es eben mit Kragler hielt, nur dazu dessen Vorbild überhaupt nicht brauchte. Wirklich interessant an der nicht auf der Rudolstädter Bühne, wohl aber im Programmheft vorgeführten Denkwelt der Inszenierung, ist ein latenter neuer Rassismus, der den alten mit der Negern in peinlichster Weise ersetzt und im intellektuellen Revolutionsphrasendunstkreis a la Anne Habermehl kultiviert. Dieser Rassismus grenzt diejenigen strukturell aus, die etwas nicht in ihr Bewusstsein dringen lassen wollen. Der Spießer war der intellektuellen Großmäuligkeit immer der Neger der traditionellen Rassisten, ließe sich zugespitzt formulieren. Wobei das kleine Zitat aus dem Habermehl-Stück ja eher Albert Camus paraphrasiert und dessen für Jahrgänge wie 1981 oder 1978 eigentlich heftig angestaubte Behauptung, dass die Grundfrage der Philosophie die nach dem Sebstmord sei. Das sehr berühmte Buch von ihm hieß übrigens „Der Mensch in der Revolte“, nicht „in der Revolution“.
Die Rudolstädter Inszenierung setzt in diesem Sinne auf eine Art von Publikumsbeschimpfung, die das Publikum auch durchaus pikiert zur Kenntnis nimmt und dann dennoch heftig beklatscht, wie das ja immer geschieht bei allen, die ihr Spiegelbild vorgeführt bekommen und es nicht merken wollen oder können. Wie sonst könnte Kabarett funktionieren, wie Comedy? Würde sich tatsächlich etwas ändern, wäre die Bühne, als moralische Anstalt betrachtet, ja arbeitslos, man muss zwangsläufig auf die durchschlagende Wirkungslosigkeit noch der krassesten Revolutionsphantasie setzen, um auch für den nächsten Stückemarkt noch Provokationen planen zu können. (Wer diese Gedanken unerträglich findet, lese im Programmheft das Textstück von Jörg Drews, der allerhand Sloterdijk durchschimmern lässt, so weit ich das erkenne.) Jörg Schlüter als Andreas Kragler hat mit seiner Publikumsbeschimpfung immerhin eine Darstelleraufgabe, der er sich ziemlich souverän entledigt. Gelobt sei auch gleich noch Anne Kies als Anna Balicke. Die holte Nuancen aus der Rolle, weil sie, Überraschung, auch Mimik einsetzte, während alle anderen auch mit Maske hätten spielen können bis auf kleine und kleinste Ausnahmen.
Wirklich überraschend ist das Agieren fast aller Darsteller in der Band, die von Revolutionszeiten auf Englisch singt und es dennoch klingen lässt wie Neue Deutsche Welle (NDW). Das hatte etwas, wenngleich nichts von und mit Brecht. Das Beste an dessen Stücktext, das mit Abstand Beste, ist „Die Ballade vom toten Soldaten“, die die Regie gestrichen hat, man ahnt, was übrig bleibt. Dabei wäre das nun einmal eine echte Herausforderung gewesen: ein Song-Klassiker von Brecht. Kann den zu Füßen der Heidecksburg jemand, so oder so? Die Regieeinfälle, so weit von ihnen zu sprechen wäre, waren eher nervend, als komisch. Das ständige „Prost“ und anschließende Blasen in die Tropf-Flaschen ist nicht nur für ältere Darsteller akut gesundheitsgefährdend, jeder, der einmal auch nur ein Nackenkissen für eine Busreise aufblies, weiß das gut. Dann war da auch Christian Klischat als Friedrich Murk, der Verlobte und Schwängerer. Der musste aussehen wie ein Wiedergänger der beiden CDU-Generalsekretäre Peter Hintze und Ronald Pofalla, was zwar zu den albernen Anspielungen auf die Verteidigungsministerin und die Kanzlerin passte, sonst aber eher unpassend war. Nur stupider Spießerrassismus baut sein Feindbild auch optisch.
Bleibt für alle, in denen auch ein missratenes Regieabenteuer mit einem Stück eines tatsächlich nicht zum Alteisen gehörenen Dichters die Neugier auf den Urtext nicht tilgen kann, ein Warnhinweis. Man sollte sich vor der Lektüre dieses frühen Brecht auf Expressionismus-Verträglichkeit testen lassen. Was im herkömmlichen Drama Dialog heißt, ist bei Expressionistens und also hier auch bei Brecht das Satzabsondern im Beisein anderer Bühnenfiguren. Manchmal sind diese Sätze traumhaft, wobei ich argwöhne, dass sie ihm unabhängig vom Stück einfielen und aus Zettelkästen stammen. Vieles aber nervt und nervt und nervt. Was einst kühnes Bild schien und sich in Lyrik wohl auch behauptet hätte, ist als absurde Sprache eben nicht mit wirklichen Menschen in Verbindung zu bringen. Und auf Rößlers Regie bezogen, falls er denn tatsächlich schulmäßiges Brecht-Theater machen wollte, sei einfach festgehalten. Wer der Illusion beraubt werden muss, im Theater erlebe er nicht Theater, der war schon zu Brechts Zeiten jünger als zehn Jahre alt oder ein wenig, nun ja, im Geiste auf dem Niveau seiner Kinderjahre geblieben. Die abgelatschten Uraltgesten der Einbeziehung von Publikum sollten junger Regie eigentlich suspekt sein oder was bringt es, wenn nicht wie herkömmlich die Inhaber der ersten Reihe die Darstellerspucke auf der Brille haben, wenn Rampendeklamieren angesagt ist, sondern wegen vorgezogener Vorbühne (Simone Steinhorst) die Inhaber der dritten Reihe? Außer den bereits genannten Darstellern hielten sich auch Ute Schmidt als Amalie Balicke und Sibylla Rasmussen als Prostituerte Marie auf der Bühne auf. Ihr Spiel verriet nicht, dass sie sich dabei wohl fühlten.