Schiller: Don Carlos; Theater der Altmark Stendal
Don Carlos, sagt der Mann. Und auch noch von Schiller. Gut, dass Osterferien sind und keine Schüler kommen, die würden danach nie wieder ins Theater gehen. Sagt der Mann, der kein Dummkopf ist. Er ist bei Schiller nur, weil er ein Abo hat, den muss er in Kauf nehmen. Nein, Arnstadt bleibt ein unfassbar schlechtes Pflaster für Sprech-Theater allgemein, für ganze und halbe Klassiker insbesondere. Als die ersten Zuschauer nach drei Stunden mit Pause, von denen eine Viertelstunde bereits eingespart ist seit der Premiere am 2. September 2016, den Theaterplatz betraten, lief der Motor des Theaterbusses aus der Altmark schon. Viel einzupacken war nicht, kaum Kostüme, Requisiten keine, falls die Stühle, wie zu vermuten, Arnstädter Stühle waren. Zu den großen Einfällen zählen die rechts, links und hinten aufgestellten Stühle sicher nicht. Das Landestheater Memmingen ließ vor Jahren Bürostühle hin und her rollen bis zum Überdruss, hier wurde mal einer nach vorn, dann wieder zurück gestellt, einmal wurden sie ausgerichtet wie in einer militärischen Antrete-Ordnung. Bühnenbildner Mark Späth kommt mit solcher Anordnung nicht in Frage für den großen Bühnenbild-Preis. Kostümbildnerin Gretl Kautzsch darf sich fragen lassen, warum sie einen Dominikaner, wenn er schon so genannt wird, in Feuerrot auftreten lässt.
Schaut man sich im weltweiten Netz die Auswahl jener Inszenierungen an, die Regisseur Boris von Poser (Jahrgang 1967) bereits verantwortete, sieht man auf einen einzigen Blick, dass die „Klassiker“ nicht sein Hauptbetätigungsfeld sind. Daran mag es liegen, dass man fast jeden seiner Einfälle, wenn man sie so nennen will, schon irgendwo sah. Der Inquisitor als Frau, seit Andrea Breth immer wieder gern genommen, eine feuerrote Eboli hatte schon Hamburg, High Heels brachten eine Inszenierung in Weimar nahezu zum Straucheln und auch hier, es war kaum zum Ansehen, wie Lea Willkowsky beim ersten Auftritt haarscharf am Hecht zur Rampe vorbeistöckelte. Immerhin, die drei Damen Olivarez, Mondecar und Eboli sind in Stendal (und Arnstadt) ein Eingangstrio, Mondecar (Janine Haufe oder Anna-Luisa Strauer, beide stehen im Programm, wer spielte, war mangels Ansage nicht zu erkennen) piepste zunächst wie eine ängstliche Schultheater-Novizin. Eboli als tragende Rolle lässt sich schlecht streichen, Olivarez (Angelika Hofstetter) steht normalerweise längst auf jeder soliden Streichliste, hier aber hat ihr der Regisseur eine Doppelrolle zugeordnet, die das Programm verschweigt. Das freilich auch sich selbst als Programm verschweigt.
Am Ende nämlich zieht Hofstetter ihr wild frisiertes Kupferdächle vom Kopf, ist kahl und der weibliche Großinquisitor. Jetzt weiß man, warum sie die ganze Zeit im Bühnenhintergrund herumschlich mit einer kleinen Handkamera, warum sie an dem Rollpult manipulierte, auf dem der König Karten, Papiere, Mappen, was er eben so hat, ablegt. Das war ein Abhör-Mikrofon, das bekanntlich zur Zeit Philipp des Zweiten von den pfiffigen Radiotechnikern der Inquisition erfunden wurde. Überwachungsstaat! Ha, mit einem einfachen Symbol ein ganzes Staatswesen charakterisiert! Gab es übrigens auch schon in Wien. Schatullen, aus denen Briefe gestohlen werden können, wenn eine eifersüchtige Frau, die namenlos verletzt auf Rache sinnt, sich zum Werkzeug einer Intrige machen lässt, waren seinerzeit gigantisch groß. Also groß wie ein Metallkoffer mit Schnappschlössern, den man im Fall der Abwesenheit von Schlüsseln mit einem fetten Bolzenschneider knackt. So kommt Neuzeit in eine historische Bühnenscharteke, die ihre so genannte Aktualität ja immer erweisen muss. Und ehe man sich da lange mit dem endlos langen Text herumschlägt, nimmt man eben ein paar Klein-Requisiten. Farbiges Briefpapier etwa.
Die bei Schiller stets unvermeidlichen Briefe lassen sich nicht streichen. Das klappt aber bei der Infantin Klara Eugenia, nach der sich die Königin Elisabeth zwar sehnen darf, aber sehen geht nicht. Das klappt bei all diesen Hofadligen mit ihren diversen Funktionen, der eine ist bei Schiller Admiral, der andere Oberpostmeister, einer nur Ritter des Vlieses. Wer braucht einen Klosterprior oder einen Leibarzt des Königs, einen Neffen des Königs oder eine Gräfin Fuentes? Ging da eine Armada unter vor England? Jede Don-Carlos-Regie steht vor einer Alternative, die Schiller nicht wollte mit ziemlicher Sicherheit: Stelle ich eine Privat-Tragödie auf die Bühne oder will ich es mit den tiefen und tiefsten Substanzen halten, die der Text keineswegs etwa verbirgt, sondern ziemlich offen sichtbar hält? Sieht man von den ganz platten Politik-Beimengungen ab, die sich viele Spielleitungen glauben auferlegen zu müssen, dann gibt es wenigstens an den kleineren Bühnen eine auffallende Zurückhaltung im Politischen. Als wäre das Freiheitspathos nicht einmal in den Jahren einer Bundespräsidentschaft, die Freiheit als jedes zweite Wort im Mund führte, interessant unter einer Regie-Lupe. Was sagt solch ein Apostel Posa da eigentlich wirklich? Mit ihm Schiller?
Wenn er mit der Gedankenfreiheit fertig ist, was seltsamerweise nie jemanden dazu führt, an Fichtes „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens“ wenigstens probehalber zu denken, die Nähe von Schiller und Fichte geht ja über mehr als nur Jena, dann sagt er Erschreckendes zum König. „Dann, Sire, wenn Sie zum glücklichsten der Welt / Ihr eigenes Königreich gemacht – dann ist / Es Ihre Pflicht, die Welt zu unterwerfen.“ Das ist pure Demokratie-Export-Doktrin, mit der sich die Vereinigten Staaten ihre Weltmacht- und Weltpolizei-Rolle schönreden seit vielen Jahrzehnten. Posa-Schiller dachte so. Den Beichtvater Domingo lässt er sagen: „Doch freilich gibt es Fälle, wo der Glauben / Des Volks, und wär er noch zu unerwiesen. / Bedeutend wie die Wahrheit wird.“ Das klingt, als hätte Schiller exakt den Trump-Wähler vorausgesehen, was er natürlich nicht hat. Aber, mehr soll damit gar nicht gesagt sein: in der Kamelle steckt wirklich Aktualität, große, tiefe, überraschende, erschreckende. Um die sich eine Regie nicht kümmern muss. Sie könnte es aber. In Stendal gibt es das Theaterprospekt und was auch immer sonst noch ersetzende Video-Einspiele. Mimen gehen Treppen hinauf und hinunter oder in einer Endlosschleife durch Tapetentüren.
Die schöne Zeit in Aranjuez zeigen Blätter an Bäumen in leichtem Wind mit dem wohl so nicht beabsichtigten Nebeneffekt von Lichtspielen auf den Gesichtern, die dann weiß geschminkt wirken, obwohl sie gar nicht weiß geschminkt sind. Das trifft Posa (Andreas Müller), das trifft auch Don Carlos (Carsten Faseler). Beide wirken sehr jung, was passt, denn auch dieser Carlos ist ja nur 23 Jahre alt und klagt, noch nichts für seine Unsterblichkeit getan zu haben. Es ist (bei Schiller) in manchem noch ein rechter Karl Moor. Sicher schon nach Erwachsenenstrafrecht zu behandeln, aber in vielem noch einem Jugendlichen gleich, wie man bei Gericht sagen würde, um in Erwägung zu ziehen, ob noch mildernde Umstände ins Jugendstrafrecht führen könnten. Bei 23 nicht mehr, weiß man. Beim derzeitigen Durchschnittsalter der Theaterbesucher an kleineren Provinzbühnen sollte schon aus substantiellen Gründen jede Anstrengung vermeiden, ausgerechnet diesen Wirrkopf mit mehr als unvermeidlichen Sympathie-Punkten auszustatten. Man muss ja nur hören, wie erwachsen im Vergleich zu ihm die junge Königin (hier Linda Lienhard) und eben auch der weltkluge und welterfahrene Posa sprechen (und denken), nicht zu reden vom König. Der sollte Mittelpunkt sein.
Denn er hat natürlich vollkommen recht, diesem Sohn die wichtige Mission in Flandern nicht anzuvertrauen. Auch die intriganten Hofleute (Domingo ist Michael Putschli, Alba ist Jochen Gehle) verkennen keineswegs die tatsächlich Gefahr, die von einem solchen Erben des Thrones ausginge. Die Rolle des Königs im Reich, in dem die Sonne nie untergeht, soll hier ausnahmsweise einmal ganz theaterfern charakterisiert werden: „Denn der unbarmherzige königliche Don Quijote, in dessen Mönchszelle sich Blutgeruch mit Weihrauchduft vermischt, der gnadenlose Asket, der die Erde halb beherrscht und völlig verachtet, hasst das Leben um einer heiligen Illusion willen.“ Das steht in einer Buchbesprechung, die Klaus Mann, Sohn von Thomas Mann, dem Roman „Cervantes“ von Bruno Frank widmete im Jahr 1934 und ich hätte es nicht zitiert, wenn nicht der Schiller-Text selbst diesen König in knappen Momenten genau so und nicht anders zeigte. Deshalb und nur deshalb ist mir der Satz „Der König hat geweint“ so unendlich wichtig für den Blick auf dieses Drama und deshalb vermisse ich genau diesen Satz sehr in Boris von Posers Streichfassung. Da nehme ich die Striche in Posas Vermächtnis für Carlos, Elisabeth aufgetragen, fast locker.
Es gibt eine Szene in Schillers „Don Carlos“, die man als Urmutter aller Verwechslungskomödien der neueren Theatergeschichte ansehen könnte. Denn hier wird ein gegenseitiges Missverstehen bis zum bitteren Ende ausgewalzt, indem lang und breit zwei Menschen aneinander vorbei reden. Die Eboli meint, geliebt zu werden, sie hat sich sogar diverse Episödchen gesammelt, die ihr das scheinbar beweisen, sie offenbart damit die Blindheit auch ihrer eigenen Liebe. Und Karlos, naiv wie ein Volltrottel, merkt überhaupt nicht, dass die Prinzessin sich in ihn verliebt hat. Mit den Folgen, die aus der Komödie ein Drama machen. Gespielt wird das von den Altmärkern zu großen Teilen, als wäre es eine Folge aus „Two and a half Men“, was so schlecht gar nicht ist, denn auch eine unfreiwillige Komik der Stückfabel darf natürlich gespielt werden. Nur irgendwie passt diese Eboli nicht. Denn es bleibt wie immer und ewig bei diesem Schiller die Frage, warum ist der König ausgerechnet auf sie so spitz, dass er sogar seinen Beichtvater einspannt, sie in sein Bett zu bekommen, während er gleichzeitig der eigenen Frau mit einer schizophrenen Eifersucht begegnet. Das Kippen in blinde Eifersucht hat Schiller immer wieder gestaltet, man frage sich, warum wohl.
Wenn sich Frank Siebers als König Philipp am Ende in einer fast unglaublichen Weise erniedrigt, klein macht vor dieser inquisitorischen Schleichkatze, dann ist das schon bei Schiller selbst nicht perfekt vorbereitet mit Stücktext. So unvermittelt gespielt, wirkt es noch seltsamer. Boris von Poser entlässt seine Zuschauer nicht mit Fragen, die auf eine Antwort oder auch nur Nachdenken darüber drängen. Sie gehen in dem allenfalls guten Gewissen, wieder mal einen von diesen Klassikern gesehen zu haben. Beim Verbeugen gesellte sich den Spielern der Schlagzeuger Benjamin Ulrich, der das Spiel zu strukturieren hatte mit Einsätzen, die oft wirkten wie ein Tusch beim Büttenabend, der gern Pointen anzeigt, die sonst gar nicht aufgefallen wären. Der Historiker Schiller, manche erinnern sich, hat nicht nur seine berühmte Antrittsvorlesung in Jena gehalten, er hat auch eine ziemlich umfängliche „Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung“ geschrieben und „Briefe über Don Carlos“, zwölf an der Zahl. In einem steht: „Der Hauptfehler war, ich hatte mich zu lang mit dem Stücke getragen; ein dramatisches Werk aber kann und soll nur die Blüte eines einzigen Sommers sein.“ Schiller wusste, was er tat und schrieb.
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