Schiller: Kabale und Liebe; Staatsschauspiel Dresden

Schwer zu sagen, in welchem Krieg sich Regisseure aller denkbaren Geschlechter diese seltsame posttraumatische Kammerdiener-Störung zuziehen, es könnte eigentlich nur der Fußnotenkrieg der Schiller-Philologen sein. Auch bei Data Tavadze, dem jungen Georgier, der in Dresden Regie führt, fehlt der Kammerdiener. Passend dazu, möchte ich glauben, die Kammerzofe der Lady Milford, Sophie. Mit etwas bösem Willen wäre zu meinen, dass alle, die diese beiden Diener-Figuren dem flinken Rotstift opfern, mindestens unbewusst das bürgerliche Trauerspiel mit seinen vermuteten Phantomschmerzen doch wieder der hohen Tragödie annähern wollen, in der eben echte Könige weinen oder erstochen werden und nicht nur Könige der (Kleinbürger-)Herzen. Im Großen Haus des Staatsschauspiels gab es zwei Stunden und zehn Minuten Jung-Schiller ohne Pause und ich gestehe gern, dass ich selten öfter auf meine Uhr schaute, wann die Erlösung kommt. Die Erlösung zum Beispiel nach dem scheinbar nicht enden wollenden Auftritt der Lady Milford (Betty Freudenberg) am Mikrofon. Warum sie da stand und eine Melange aus ihrem eigenen und dem Text des warum eigentlich gestrichenen Kammerdieners hersagte, entzieht sich meiner armseligen Vorstellungskraft.

Womit wir beim Hersagen wären. Die einzige durchgehend erkennbare Idee der Regie liegt für mich im Entschluss Tavadzes, den Text, die Mono- und Dialoge, auf keinen Fall spielen zu lassen. Die sieben Agierenden (die Cellistin Ekaterina Gorynina ausgenommen, obwohl die als Nummer 8 zum Finale nicht weniger als neun Mal ihren Bogen fallen und dann wieder aufheben lassen musste) sagten ihren jeweiligen Part mit hoher Geschwindigkeit ohne Unterbrechungen und in einer jeweils einzigen Tonlage her. Die gute alte Schauspieler/innen-Art, mittels Hebungen und Senkungen der Stimme, mittels variabler Sprechtempi, mittels Pausen ihr Spiel reich zu machen: diesmal in Dresden verpönt. Das schnelle und zugleich monotone Sprechen versperrt, wenn dies Absicht war, dann Hut ab, Herr Regisseur, den Zugang zum Sinn des Schiller-Textes, der ja eben gerade nicht so flach und simpel ist, dass man ihn schon versteht, wenn er nur am Ohr vorbeirauscht. Wo Schiller seine gedanklichen Aktente setzt, rattert die inszenierte Hersage-Maschinerie darüber hinweg. Dazu auf fast penetrante Weise passend, die rasende Statik (gibt es das??) der Inszenierung: Kaskaden des Hersagen vollziehen sich fast ausschließlich vor unbewegten Tableaus im bunten Bühnenbild.

Thilo Reuter hat sich eine Bühne ausgedacht, die im Hintergrund einen Bar-Tresen zeigt mit Barhockern davor und allerlei Bar-Utensilien, Gläsern, Mixern und was man halt so braucht, wenn man, was eigentlich? - zeigen will. Der Präsident von Walter (Hans-Werner Leupelt) muss mit einer Frisur über die Bühne marschieren, die aussieht, als wäre sie unter einem Beratungsvertrag von Harald Glööckler kreiert worden. Die größte Gefahr, die von diesem vermeintlichen Machtmenschen der absolutistischen Feudalstruktur ausgeht, ist die, sich in seinem Angesicht totzulachen. Dass sein Sohn Ferdinand alternativ mit einem ungekämmten Wuschelkopf den Liebenden zu geben hat, grenzt nicht nur hart ans Klischee, es ist eines. Schwer vorstellbar, dass die biedere Mutter Miller, wenn sie nicht gestrichen wäre in Dresden, an solcher Gestalt ein stilles Gefallen gefunden hätte. Ohne Mutter Miller hat „Kabale und Liebe“ keinen rechten Anfang, die charakterisierende Kraft der ersten Szene des ersten Aktes ist geopfert für den schrägen Einfall, den Musikus und den Wurm, auf einem Sofa nebeneinander sitzend, Text wiederholen zu lassen, als träten Ahmad Mesgarha und Lukas Rüppel als Risse in einer Schiller-Schellack-Platte auf. Es wird leider nicht besser danach.

Obwohl, dies soll keineswegs verschwiegen werden, der Regisseur eher zu viele als zu wenige Einfälle hat. Es bleibt nur bei jedem dieser Einfälle die Frage, welche Absicht, welcher Sinn sich dahinter verbirgt. Die passendste Antwort nach 130 Spielminuten: kein Sinn, ihr Sinn ist die Sinnfreiheit. Oder gibt es eine Antwort auf die Frage, warum der tussenhafte Präsident gerade Bonsai-Fan ist und nicht Primeln pflegt oder Orchideen? Minutenlang topft er im Hintergrund, während vorn Texte hergesagt werden, Bonsai-Bäumchen um. Warum mixt Luise wie eine mondäne Bardame eine rote Limonade, für die sie gleich mehrere Zitronen schneidet und dann ausdrückt und den Saft aus einem dreiviertel Meter Höhe in den Krug tropfen lässt, während dann Ferdinand ewig an seiner Jackett-Tasche zuppelt, bis er das Arsen für den erweiterten Suizid ins Glas füllen kann? Warum rupft sich Ferdinand das Hemd vom Leib und hechtet sich auf Lady Milford, der er lediglich erklären will, dass er eine andere liebt? Betty Freudenberg hat der Regisseur ganz offensichtlich verschwiegen, dass ihre Rolle als Lady eigentlich eine Traumrolle ist, aus deren unaufgehobener Widersprüchlichkeit man spielerischen Honig ohne Ende saugen kann.

Sie stakst stattdessen über die Bühne, als probe sie, wie man sich bewegen muss, um bei Heidi Klum schon im ersten Vorstellungsgespräch durchzufallen. Dagegen muss Luise Aschenbrenner als Luise vor allem liegen, knien und sich auf Knie und Stirn gestützt auf dem Ledersofa obenherum umkleiden. Sie wirkt kindlich, ihr glaubt man sie sechzehn Jahre, wenngleich sie nur einmal Gelegenheit hat, auch so zu reden. Was gab es schon für herrliche Szenen zwischen einer Luise und einer Lady Milford auf anderen Bühnen, Charaktere bewegten sich, Entwicklungen wurde sichtbar, geheime Tiefen und Reichtümer, fast nichts davon in Dresden, weil es nicht so gewollt wurde. Nur warum nicht, das bleibt das Geheimnis der Regie. In gespielten Dramen gibt es Übergänge, gibt es Anschlüsse, Voriges motiviert Späteres, Klippschule all das eigentlich. Tavadze aber wollte wohl testen, ob Deklamier-Theater in fixen Tableaus (das gab es zu Schillers und Goethes Zeiten) sich verquirlen lässt mit allerlei Zutaten aus der Bordküche eines unbekannten Schiffes. Der Verzicht auf die tuntige Zeichnung des Hofmarschalls von Kalb (Raiko Küster), die man schon vielerorts sah, führte in Dresden zu völliger Profillosigkeit der Rolle. Da half auch kein Kampf mit Ferdinand.

Aus unerfindlichen Gründen kündigt das Spielzeitheft 2018/2019 des Staatsschauspiels Dresden „Kabale und Liebe“ als Politthriller an. Sollte das tatsächlich einmal Inszenierungsabsicht gewesen sein, dann ist davon nichts geblieben: Politik - Fehlanzeige, Thriller im Standbild-Modus - kräftig daneben gegriffen. Dafür abgegriffenste Mittel: die Cellistin sitzt zu Beginn in den Parkettreihen und wird von dort abgeholt, man denkt so lange an einen komischen Gag, bis sie sich eben als die Musikerin entpuppt, die dann die ganze Zeit auf der Bühne verbleibt. Ihre gestrichenen Akzente sind dann nicht selten um Längen stärker als alle gespielten (oder eben nicht gespielten). Auftritte und Abgänge durch Seitentüren, was bringt das noch, wenn jeder einzelne Zuschauer dergleichen seit Jahren wieder und wieder erlebt? In der Rezeptionsgeschichte dieses bürgerlichen Trauerspiels ist ausdauernd debattiert worden, ob es denn eine Tragödie sei, eine echte oder eine unechte, ob es nicht zu viele melodramatische Züge trage, ob „Kabale und Liebe“ treffender oder nur der Schillers Nachgiebigkeit anzeigende Titel gegenüber seinem Titel „Luise Millerin“ sei. Keine Inszenierung muss das sichtbar machen, es sei, sie zelebriere wie hier am Ende ganz unerwartete Melodramatik.

Ahmad Mesgarha keuchte noch lange mitleiderregend, als sich das Ensemble verbeugte, hatte er doch eben die bei Schiller nicht einmal vorkommende Schwerstarbeit bewältigt, die tote Luise, warum auch immer, vom Boden auf das Ledersofa zu heben. Die „Leiche“ legte dabei den einen Arm um seinen Hals, um ein Fallen zu verhindern, wie es vermutlich noch in der Generalprobe geschehen ist, so etwas jedenfalls wurde vor Beginn des Abends erklärend verraten. Nein, Luise Aschenbrenner ließ sich nichts anmerken von irgendwelchen starken Schmerzen, die sie hatte. Es hat Regisseure in der Theatergeschichte gegeben, die ihrem Darsteller die ohnehin überflüssige Aufgabe erspart hätten, wäre das rein körperliche Problem beim Heben sichtbar geworden. Es hat allerdings auch Regisseure gegeben, die wussten, dass man keine Schauspielerin zwingen soll zu schreien, wenn das Schreien nicht zu ihren abrufbaren Mitteln gehört. In Dresden wurde geschrien und gerannt. Die Rennerei ist inzwischen so verbreitet, dass es nur noch nervt, das Schreien einfach eine Unart, beides zeigt auf Bühnen fast nie, was es zeigen kann und soll. Stummes Spiel der stets auf der Bühne präsenten Darsteller verbot sich, da sie nur anwesend, nicht aber beteiligt waren.

Liest man, was der der deutschen Sprache seiner eigenen Aussage nach nicht mächtige Regisseur der Dramaturgin Julia Weinreich im Gespräch sagte, muss man sehr tapfer sein. Seine Thesen sind teilweise steil, an Selbstbewusstsein mangelt es ihnen natürlich nicht, aber man darf dagegen halten, dass neu erfundene Fahrräder maximal nur wiederholen können, war schon da war und deshalb von vornherein verschwendete Energie verkörpern. Deshalb wäre auch Dramaturgin Julia Weinreich zu befragen, warum sie auf Schillers Kunst des „zweifachen“ Sprechens hinweist im Programmheft, wo doch weder die gesprochene noch die Körpersprache auf der Bühne auch nur in die Nähe dessen kommen, was man von einem Theater wie dem Dresdner eigentlich erwartet. Momentweise sieht der Zuschauer, was er deuten kann: den Präsidenten mit Ferdinand im Arm in Pietá-Pose, aber sonst: Warum führen Ferdinand und Luise ihren Dialog durch eine Topfpflanze und nicht etwa Rücken an Rücken oder im Handstand? Wie kann eine Person eine andere, die eben aufsteht und sich dann nicht mehr bewegt, fragen: Wohin so eilig? Soll das lustig sein, wie das Beiseitebiegen der Pflanze im Topf? Es lachen ja welche darüber im Parkett. War das tatsächlich die Absicht?

Warum rollt Luise beim Schreiben des ihr abgepressten Briefes an Hofmarschall von Kalb vom Sofa? Ist die alberne Buchstabiererei in dieser Szene zum Verharmlosen des unsäglichen Vorgangs einer Erpressung, einer Quasi-Vergewaltigung gedacht oder ist sie gar nicht bedacht? Dann fällt urplötzlich Ferdinand wie ein Wrestler über den Hofmarschall her und schleudert ihn gegen die nicht vorhandenen Ringe, man fuchtelt mit Pistolen. Derweil die Lady mit dem Schaumweinglas in der Hand die Angetrunkene gibt und den berühmten Schiller(?)-Satz „Butter bei die Fishes!“ sagen muss. Die wirklich dumme Schiller-Frage, die Ferdinand an den Musikus Miller richtet, ob der noch mehr Kinder habe, die ist nicht gestrichen. Denn bei Schiller weiß der Liebende Ferdinand nicht, ob seine Geliebte Luise noch Geschwister hat. Dafür spricht in Dresden, wohl des Schalleffektes wegen, Ferdinand direkt in Luises Mund. Warum? Obwohl „Kabale und Liebe“ in keinem seiner fünf Akte irgendwo außerhalb geschlossener Räume spielt, sieht man lange eine Wald-Projektion im Hintergrund. Warum? Man hört ein Totenglöckchen. Ist es das Arme-Sünder-Glöckchen? Das Premierenpublikum zögerte mit seinem Beifall, ehe es zu den üblichen Jubel-Bekundungen kam.
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