Botho Strauß: Ithaka

Man kann, wenn man sich etwas Mühe gibt, alles missverstehen. 1989 war das im Falle von Botho Strauß noch nicht nötig. Da verlieh ihm die Darmstädter Akademie den Georg-Büchner-Preis, den damals wie heute renommiertesten, wenngleich nicht bestdotierten deutschen Literaturpreis. In Abwesenheit des Geehrten hielt Luc Bondy die Lobrede, er schob die Abwesenheit auf die Scheu des zu Lobenden und versicherte buchstäblich fast an Eides Statt, dies sei die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Bondy bekannte sich als Freund, was man ihm natürlich abnahm, allein bis 2005 sind immerhin fünf Botho-Strauß-Uraufführungen mit seinem Namen verbunden und auch der Regisseur der „Ithaka“-Uraufführung vom 19. Juli 1996, Dieter Dorn, hatte bereits doppelte Uraufführungserfahrung mit Strauß, ehe er das vermeintliche Wagnis einging, den großen Skandal zu riskieren (als wäre das im Theater nicht seit ewigen Zeiten das erprobteste Mittel, um halbwegs dauerhaft im Gespräch zu bleiben, kaum ein Großer der Bühne hat nicht mit einem Skandal begonnen und es wird zunehmend schwerer, noch einen hinreichend glaubhaft auf die Bretter zu stellen, denn es war wohl so ziemlich alles schon einmal da). Also „Ithaka“. Vor dem 8. Februar 1993 wäre ihm die Gemeinde vermutlich vollkommen willig hinterher getrottet. Nach dem 8. Februar 1993 aber, nach dem Abdruck von „Anschwellender Bocksgesang“ im SPIEGEL 6/1993, Seiten 202 bis 207, war alles anders. Fast ein Jahr tobten Empörung und Entrüstung durchs deutsche Feuilleton, was damals noch halbwegs neu war, mittlerweile in ähnlichen Konstitutionen nur noch sterbenslangweilig ist außer für die mit glühenden Fingerkuppen in ihre Tastaturen hauenden Empörten und Entrüsteten des jemaligen Kurzzeitskandals.

Der SPIEGEL (Wolfgang Höbel) schrieb am 22. Juli 1996, fast dreieinhalb Jahre nach dem „Bocksgesang“, die Kritiker seien zur „Ithaka“-Premiere in Hundertschaften angereist, der militärische Begriff sagt mehr als er vermutlich soll, und es fragt sich anschließend sofort, wer denn dann das Buh-Konzert veranstaltete, es müssen die Kritiker selbst gewesen sein in phantastisch glatter Rollenverkennung oder waren auch noch andere Premierengäste da? Ein schreibender Luftgitarrist, der 2013 in Celle eine „Ithaka“-Premiere erlebte für NACHTKRITIK, tat Höbel die nicht ganz astreine Ehre an, fast alle seiner Hauptgedanken zu übernehmen, ohne die Übernahme zu kennzeichnen als solche. Immerhin deutete der in dieser Hinsicht wohl doch erfahrene Nachwuchs-Theatergänger mit seinem Wissen, die Kritikerscharen seien in Skandalerwartung nach München gereist, an, worum es im Kern ging und geht. Auch wenn er selbst erst 13 Jahre alt war und wohl eher Gameboy spielte als Antike-Rezeption zu treiben zum Zeitpunkt des Geschehens. Sollten tatsächlich ernst zu nehmende Kritiker der großen Feuilletons angenommen haben, ein Mann wie Strauß illustriere volle drei Jahre nach einem Essay diesen Essay durch ein Stück nach Homers Heimkehr-Gesängen der Odyssee? Höbel wusste 1996, Strauß sei schon immer ein Feind alles Eindeutigen gewesen. Ich will mir nicht vorstellen, wie ein Freund alles Eindeutigen durch die Fleischwölfe der Kritik gedreht worden wäre in allzeit urdeutscher Tradition.

Doch soll es hier eben nicht um „Anschwellender Bocksgesang“ gehen, es sei allenfalls und probehalber die Vermutung in die Welt gesetzt, die ganze künstliche Aufregung 1993 rührte daher, weil Botho Strauß das einmal wieder aus dem Schlaf der Ungerechten gerissen hatte, was der freilich eindeutig (oder etwa doch nicht?) zu rubrizierende Helmut Schelsky die „Priesterherrschaft der Intellektuellen“ genannt hatte. Intellektuelle sind per Genpool offenbar nicht in der Lage, rational zu reagieren, wenn andere Intellektuelle Intellektuellen-Kritik betreiben, man hat für solche Fälle sogar eigens den Begriff „Schelte“ unter Schutz stellen lassen, um schon verbal deutlich zu machen, dass Kritik an Kritikern, Kritik an Trägern viertgewalttätiger Kritik eben nicht Kritik ist, sondern Schelte, etwas Tantenhaftes in der Kittelschürze der Lächerlichkeit. Empörung, die auf Einzelbegriffe reagiert wie Pawlows Dackel auf die Glühbirne, sollte sich einmal der eigenen Lächerlichkeit bewusst werden, ehe sie barbusig die virtuelle Trikolore schwenkt und auf den Feind stürzt, ihn mit Stumpf und Stiel auszu- beinahe hätte ich rotten geschrieben. Botho Strauß schrieb und man zitierte es gern, um ihn von Beginn der Unglaubwürdigkeit zeihen zu können: „Dies ist eine Übersetzung von Lektüre in Schauspiel. Nicht mehr, als höbe jemand den Kopf aus dem Buch des Homer und erblickte vor sich auf einer Bühne das lange Finale von Ithaka, wie er sich's vorstellt. Abschweifungen, Nebengedanken, Assoziationen, die die Lektüre begleiten, werden dabei zu Bestandteilen der Dramaturgie.“

Es wäre, meinte SPIEGEL-Höbel, wenn es so wäre, „sturzlangweilig“. Als hinge es nicht einzig und allein vom dem Kopf ab, der sich aus der Lektüre hebt und dies war im vorliegenden Fall eben der Kopf des Büchner-Preisträgers Botho Strauß. Auch der Homer-Text selbst, den es im Original und in einer kaum noch übersehbaren Zahl von Übertragungen gibt, ist für eine unfassbar große Zahl von Menschen langweilig, wenn ihn nicht Wolfgang Petersen verfilmt, genauer, er ist nicht einmal langweilig, weil eine unfassbar große Zahl von Menschen auch nicht eine einzige Zeile Homer liest und lesen wird. Schon das künstliche Koordinatensystem spannend-langweilig ist intellektuell hochmütig, ist arrogant und blind. Die übersättigten Premierenskandal-Junkies sollten sich allesamt zwischendurch mit Berichten über Feuerwehrfeste in 200-Seelen-Dörfern Ausgleich verschaffen und so wieder in die Nähe des Erdbodens geraten, mit dem ihre Füße kaum noch Kontakt halten. Fast schäme ich mich zu bekennen, dass ich einst atemlos die drei Bände Gustav Schwab verschlang, die kindgerecht oder jugendgemäß oder wie auch immer, mich jedenfalls erreichend, die Welt Homers vorstellbar machten. Seit fünfzig Jahren muss ich nie bei Null anfangen, wenn es um diese Mythen geht, Karl Philipp Moritz und natürlich Homer selbst traten irgendwann hinzu.

Allein die freilich nicht allzu fern liegende Idee, dass nach zwanzig Jahren, zehn Jahren Krieg in Troja, zehn Jahren Irrfahrt des Odysseus mit all den herrlichen Abenteuern, mit den beteiligten Hauptpersonen ein Prozess stattgefunden hat, den wir Altern nennen, hat schon komisches wie tragisches Potential. Kluge Leute meinen, Romeo und Julia müssen genau aus dem Grund vor allem sterben, weil man sie sich nicht mit sechs Kindern, Zellulitis und Halbglatze vorstellen möchte. Und Penelope und Odysseus in jenen Vorzeiten, da die durchschnittliche Lebenserwartung unter jenem Alter lag, in dem heute die moderne berufstätige Frau aus der Führungsetage erstgebärend wird, wie sahen sie wohl aus, als der Sohn Telemach erwachsen war?. Botho Strauß hat es sehr radikal beschrieben eingangs: Penelope ist fett geworden, eine Frustfresserin, wie man heute pseudotherapeutisch sagen würde und genau das hat Dieter Dorn optisch werden lassen an seiner Hauptdarstellerin Gisela Stein anno 1996. Keinesfalls gehört, wie Höbel in dauernder Schreiberregung meinte, behaupten zu müssen, der Chor zum „ordentlichen“ Griechendrama, und wenn Botho Strauß seiner im Kopfheben entstehenden Kopfgeburt drei fragmentarische Frauen zumischt, Knie, Schlüsselbein und Handgelenk, dann ist das nichts, worüber sich das Näslein rümpfen ließe, ehe es seine Probe bestanden oder nicht bestanden hat auf der Bühne.

Freilich geht es bei Botho Strauß im Verlauf der fünf Akte, die natürlich nicht Akte heißen, zu wie bei Homer. Also der Odysseus kommt an, während die Freierschar seine Gattin belagert und den Kleinstaat Ithaka kahl frisst. Er trifft auf einen Hirten, er wird von seiner alten Amme an seiner Narbe am Knie erkannt, er gibt sich seinem Sohn Telemach zu erkennen, er gewinnt den Wettstreit mit dem nur von ihm selbst zu spannenden und zu handhabenden Bogen bravourös und er metzelt dann die ganze Bagage blutig ab. So gesehene Antike störte schon einen gewissen Goethe, der für seine Traum-Antike im Winckelmann-Gewand freilich von der tatsächlichen Überlieferung an Texten, die auch zu Klassikerzeiten schon durchweg bekannt waren, vornehm absehen musste. Kleist war da der Antike näher, wenn er seine Penthesilea die Zähne in Achill schlagen ließ. Nun kann man sich natürlich fragen, was das heute auf der Bühne soll. Zwar haben wir uns solche dämlichen Lehrerfragen schon in der Schule verbeten, wenn es aber gilt, dem Mann des Bocksgesanges eins reinzuwürgen, ist keine Frage zu dumm, kein Missverständnis zu dreist, keine Lesart zu naiv. Und natürlich kann man sich darüber aufregen, dass auch die untreuen Mägde  verkehrt herum aufgehängt werden, dass die alte Amme wie auch der alte Vater Laertes ihrer Mordgier Ausdruck verleihen. Bei vergleichbarem Heiner-Müller-Wüten gab es nie solchen Rumor.

Als 1980 Volker Hage, damals noch für die FRANKFURTER ALLGEMEINE, mit Botho Strauß im West-Berliner KdW einkaufen ging, um den Meister dann in dessen 200-Quadratmeter-Wohnung mit KdW-Blick zu besuchen, schrieb er anschließend: „Unter den deutschen Autoren ist er der geheimnisvollste und zurückhaltendste. Er haßt Lesetourneen, verabscheut Fernsehkameras, und redet am liebsten, wenn überhaupt, unter vier Augen.“ Im gestrigen SPIEGEL, wo Hage inzwischen langjähriger Literaturredakteur ist, bezeichnete er das jüngste Strauß-Buch „Herkunft“ als „sein intimstes Buch“. Hage zitiert den Strauß-Satz: „Man altert, trotz der sozialen Bedeutungslosigkeit von Tradition, immer noch geradewegs in das hinein, was man einst als rettungslos veraltet empfand.“ Fast genau 35 Jahre liegen zwischen Volker Hages (Jahrgang 1949) beiden Umgängen mit Botho Strauß, die hier zu Rate gezogen wurden. Heute ist der siebzigste Geburtstag des in Naumburg geborenen Strauß, heute weiß man mehr von ihm, weil er inzwischen erzählend das eine oder andere seiner Geheimnisse gelüftet hat. Man kann auch „Ithaka“ ohne Vorkrampf lesen, dann erscheinen plötzlich jene Passagen, die nach einem starken König rufen, der die Edelleute in Schach und bei der Stange hält, eher als eine Reminiszenz an den Elisabethaner Shakespeare mit seiner Hochschätzung der absolutistischen Ausgleichspolitik. Gar eine Anspielung auf das Verhältnis von Bund und Ländern zu wittern, wäre allzu stupide und nur wer den Totempfahl des blinden Antiautoritarismus seit fünfzig Jahren taumelnd umhüpft mit geschlossenen Augen, dafür aber um so intensiverem Singsang, kann sich daraus Feindbilder basteln.

Es ist ja schreiende Ironie, wenn am Ende von „Ithaka“ die Göttin Pallas Athene verkündet: „Wir aber verfügen, was recht ist: aus dem Gedächtnis des Volks wird Mord und Verbrechen des Königs getilgt. Herrscher und Untertanen lieben einander wie früher. Daraus erwachsen Wohlstand und Fülle des Friedens den Menschen.“ Ich sehe hier eher einen Fokus auf (west)deutsche Langzeitverlogenheit nach dem Kriege, auf Gründungsmythen, an die zu glauben sogar ihre Schöpfer eine ganze Zeit verwenden mussten. Nicht jeder versteht jede Ironie, es ist schon bezeichnend, wenn sich die Empörung auf das Wort Ausländer beschränkt, während das viel tückische von den Phöniziern offenbar weniger ernst genommen wird. Einer der Freier im Hof der Penelope bekannte übrigens: „Der Krieg! Der Krieg von Troja ist lange vorbei ... Niemand von uns hat einen Nachteil durch ihn erfahren. Im Gegenteil. Wohlstand und neue Fertigkeiten aller Art verdanken wir dem Krieg.“ Und ein anderer lässt die Botschaft heraus, die dem Stück eine besondere Note verleiht (für mich): „Freunde! Es ist eine schlechte Gewohnheit, sich beliebig zu erzürnen, nur um das schöne Schwellen des Zorns in den Adern zu spüren.“ Genau diesen Freunden des schönen Schwellens war (und ist immer noch??) Botho Strauß ein Dorn im Auge, freilich kein Dieter Dorn.

Der Hirt Eumaios soll nicht vergessen sein. Ihm legt Strauß das Wort in den Mund: „In späteren Jahren schwelgt doch der Mensch im Gedenken und freut sich sogar des Jammers, den er vorzeiten erlitt.“ Odysseus darf auch einen Satz sagen, der 1996 durchaus schon den Bürgern des noch frisch erinnerlichen real existierenden Sozialismus auf deutschem Boden hätte in die Glieder fahren können: „Ihr seid keine Schurken, habt aber niemand gehindert, Unrecht zu tun. Euer stilles Dabeisein erscheint mir häßlich genug.“ Haben die Empörten des Jahres dergleichen überlesen oder wollten sie es gern überlesen, um sich an ihre Reizwort-Fibel halten zu können? Für Wolfgang Höbel lautete das Fazit seines Münchner Premierenerlebnisses: „Leute, vertrödelt die Zeit nicht im Theater, setzt euch hin und lest den Homer!“ Dem Luftgitarristen hätte „Ithaka“ in Celle wahrscheinlich sogar gefallen, „wäre da nicht die diskursive Vorbelastung und die Art wie die Inszenierung damit umgeht“. Gut, dass nach der Premiere in die folgenden Vorstellungen nicht nur von Botho-Strauß-Stücken wohl fast ausschließlich Menschen gehen, denen diskursive Vorbelastungen ungefähr so wichtig sind wie die Hintergrundstrahlung von Alpha Centauri.


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