Georg Seidel: Kondensmilchpanorama

Wann ist eigentlich die deutsche schreibende Öffentlichkeit dazu übergegangen, den Krebs Krebs zu nennen und nicht mehr tückische Krankheit wie bis dahin? Der am 28. September 1945 geborene Georg Seidel starb noch vor seinem 45. Geburtstag, vor 25 Jahren am 3. Juni 1990. Von den vermeintlichen Segnungen der Währungsunion hat er nichts mehr erlebt. Von den vier Preisen, die ihm verliehen wurden, steht bei zweien in Klammern das Wort posthum. Auf den Förderpreis der Schillerstiftung 1989 angesprochen, argwöhnt Seidel in einem der Zeitung JUNGE WELT gegebenen Interview, „dass all die Stücke von mir vielleicht in der nahen Zukunft auf dem Theater nicht mehr gebraucht werden.“ Das war kein Zweckpessimismus und offenbarte zugleich die heroische Illusion von DDR-Literatur: die, gebraucht zu werden. Schon der inzwischen berühmte Buch-Jahrgang 1990 offenbarte in brutaler Offenheit: Ihr werdet nicht mehr gebraucht, Ihr braucht Eure Nischen nicht erst zu verlassen, Ihr müsst ihnen nur neue Namen geben, Verlagsnamen etwa.

Georg Seidels Krebs war nicht tückischer als jede andere Krankheit zum Tode und es ist auch wenig hilfreich, sie galoppierend zu nennen, obwohl sie vielleicht nur in schnellem Trabe verlief, dergleichen makabre Lyrismen reden einen Verlust nicht klein, der auch einer gewesen wäre, wenn Seidel nie ein Stück geschrieben hätte, sondern nur in Dessau oder Berlin Bühnen beleuchtet. Nun hat er aber Stücke geschrieben. Bis zur Sichtung seines Nachlasses war von fünfen die Rede, dann fand sich noch was und am Ende ist es doch nur eine Frage der Statistik. Seidel machte, auch das ist im genannten Interview nachzulesen, die Erfahrung, dass in Basel andere Sätze das Theaterpublikum aufmerken lassen als in der DDR. Weil im Zusammenhang mit seinem Namen gern der Vornamensvetter Büchner genannt wird, sei der exemplarische Fall an ihm demonstriert: Das Ostberliner Publikum kugelte sich in „Leonce und Lena“, als bei dem Satz „Der Staatsrat kommt“, Blinde an Krücken und mit Armbinde die Spielfläche betraten. Darüber lacht niemand mehr, seit der Staatsrat nicht mehr existiert und die Katholiken Zentralkomitees haben.

Seidel hat den Dienst mit der Waffe verweigert und musste deshalb als Bausoldat dienen. Das war in einem Maße mutig, wie es sich heute kaum jemand vorstellen kann. Nichts mit genormter Gewissensprüfung in Kombination mit Plattfüßigkeit. Das war, heutig geredet, das Karriereaus, freilich nicht zwingend verbunden mit Arbeitslosigkeit, Beleuchten ging fast immer. Ich erinnere mich dunkel an mythische Erzählungen über das Puppentheater Dessau (gab es das denn), an dem angeblich promovierte Physiker Kulissen schoben, nur um dem Staat nicht direkter dienen zu müssen. Seidel hat in der DDR, obwohl er das war, was lappig gern umstritten genannt wird, Uraufführungen gehabt, einige verstümmelten, wie später erst offenbar wurde, heftig den Urtext. Die Spezialisten für das falsche Leben im richtigen und umgekehrt hatten keine Zeit, den Dramatiker Seidel zu fragen, warum er das mit sich hat machen lassen. Ich vermute, Seidel hätte verwundert geguckt. Dramatiker wollen gespielt werden, Lyriker gedruckt. Die großen Förderer der DDR-Junglyrik haben vermutlich Hunderte von Gedichten umgeschrieben, um sie anthologiereif zu machen, die Lyriker schwiegen.

Gegen „Jochen Schanotta“ soll das DDR-Volksbildungsministerium eine Kampagne gestartet haben, so war man halt unter Margot Honecker. Als „Carmen Kittel“ am 7. Mai 2010 in Dessau aufgeführt wurde, schrieb Hartmut Krug, der ein Spezialist für Seidel genannt werden darf spätestens seit seiner Besprechung der Grazer Uraufführung der nachgelassenen „Friedensfeier“: „Sie scheinen vergessen, die in den achtziger Jahren entstandenen Stücke des 1990 verstorbenen DDR-Autors Georg Seidel.“ Peter Laudenbach benannte ein reichliches Jahr später in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG auch die näheren Umstände des Vergessenwerdens: „Die Inflation der oft zu Recht schnell vergessenen Uraufführungen sorgt für einen seltsamen Gedächtnisverlust des Theaters. Bedeutende Stücke der vergangenen Jahrzehnte werden von der Flut der Gegenwartsware weggeschwemmt. Zwischen Großklassikern und der zum raschen Verzehr bestimmten Augenblicksdramatik ist für Werke der jüngeren Vergangenheit kaum Platz.“ Das soll dem DDR-Nostalgiker nicht in die Karten reden, verharmlost werden darf es aber auch nicht.

Wenn hochprominente Textflächen-Fließbänder permanent Hauptnachrichten pseudodramatisieren, ist einer wie Seidel nicht mehr von Interesse. Man nehme das vergessenste seiner vergessenen Stücke, den Erstling mit dem seltsamen Titel „Kondensmilchpanorama“. Das Geschehen ist banal, banaler geht kaum. Ein älteres Paar, dessen Tochter und Schwiegersohn und dann allerlei ominöse Figuren, Traumgestalten, Hausgeister. Das ältere Paar fährt unter dem Diktat des Vaters in den Bergurlaub, der Vater ist vor allem Melker, aber auch Rübenhacker, wenn es um zusätzliches Einkommen geht. Die Mutter sitzt im Dorfkonsum an der Kasse, sie hat ständig schmerzende Beine, die sie mit Binden umwickeln muss, die Schmerzen rauben ihr den Schlaf. Seine Protagonisten so reden zu lassen, wie ihnen der Volksschnabel nach menschlichem Ermessen gewachsen ist, ist Seidel gar nicht erst eingefallen, er hat die Banalität der Konstellation mit gebundener und Hochsprache aufgemöbelt.

Von der Bergreise des älteren Paares erfährt der Theaterbesucher und Stückleser nicht viel, das Familiensofa verschwindet im Schnürboden oder steigt von unten her wieder auf. Dann aber tauchen überraschend Tochter und Schwiegersohn auf. Die haben die Kinder, also die Enkel, weggegeben, weil sie allein mit dem Auto ans Schwarze Meer wollen. Der Gattenkonflikt wiederholt sich. Die Alten rechnen damit, dass die Jungen bei ihnen Urlaub machen und weil das Konfliktstoff birgt, trennen sich die Jungen. Der Schwiegersohn fährt allein fort, die Tochter Jutta nimmt das gelassen hin, weil sie sicher ist, der kommt schon rasch wieder, der rast nur hundert Kilometer, dann kehrt er um. Der tut das aber nicht, der bleibt weg. Was Jutta dazu veranlasst, mit dem Auto des Vaters, ohne diesen zu fragen, dem Gatten hinterher zu reisen. Den realen Vater zu DDR-Zeiten hätte ich sehen mögen, der das hingenommen hätte, die Pappe war heilig, da musste ein Antrag gestellt werden, auch wenn es noch keine Bewilligungsbescheide gab. Doch wäre es ja Naturalismus gewesen, der Realität so eng auf dem Pelz zu bleiben.

Die Pointe darf verraten werden. Beide sind nie bis zum Schwarzen Meer gelangt, Tochter Jutta hat es vollends nur zwanzig Kilometer weit gebracht und allein deshalb keine Nachricht gegeben, weil der Poststempel den Aufenthaltsort verraten hätte. Heute geben Poststempel über nichts mehr Auskunft, was einem Sterblichen etwas verraten würde. Einer im Stück, der nur Mann 5 genannt ist, sagt dies: „Sieh dir die Menschen mal an, stehen blöd rum, keiner weiß, wie geht es jetzt weiter. Ich sage dir, damit es auch in Zukunft hübsch vorwärts geht mit der Welt, ist etwas ganz Neues vonnöten. Es muss etwas sein, was alle Menschen begeistert, in Schwung hält und obendrein nützt.“ Man muss nicht zwingend DDR-Insider sein, um zu erkennen, dies war nicht gerade eine sehr optimistische Situationsbeschreibung. Jutta, die Tochter, sagt zu ihrem Gatten Klaus: „Oder ihr Männer macht wieder mal Revolution.“ Mitten in der DDR? Eine Revolution? Wieder mal? Hatte in dieser DDR überhaupt jemals jemand eine Revolution unternommen oder stand das nur in den Büchern, die die Sieger schreiben, wenn sie keine Analphabeten sind?

Alle in diesem „Kondensmilchpanorama“ haben das Gefühl, es müsse etwas geschehen, es müsse etwas ganz anderes kommen, das private Leben ist trist, ist grau, ist wie die Fassaden der Häuser. Da fällt mir doch zwanglos ein Lied ein, 1975 geschrieben von einem gewissen Wolf Biermann, Titel: „Lied vom donnernden Leben“. Er hat es in Köln vorgetragen, auch das, als er zu jeder Schandtat bereit war. Wie NEUES DEUTSCHLAND zu kommentieren wusste. Es heißt in diesem Lied: „Das kann doch nicht alles gewesn sein // Das bisschen Sonntag und Kinderschrein // das muss doch noch irgendwo hin gehn // hin gehn.“ Man kann Georg Seidels dramatischen Erstling als Bühnenparaphrase von Biermanns Lied lesen. Bei Seidel sagt Jutta: „Der Weg zurück ins Paradies ist uns versperrt. …Wenn in uns nichts ist, von außen kommt nichts hinzu.“ Bei Biermann: „Die Überstunden, das bisschen Kies // Und abens inner Glotze das Paradies // da in kann ich doch keinen Sinn sehn // Sinn sehn.“ Seidels Diagnose ist weder eine große noch eine kleine Ermutigung. Dass Zensoren und Erlaubnisgebern da nicht das Herz aufging: verständlich. Das Stück endet mit dem knappen Wortwechsel zwischen Vater und Mutter. Sie: „Besser wird’s nicht.“ Er: „Aber schlechter vielleicht auch nicht.“ So sah sie aus, diese Zukunft. Der Georg Seidel vorzeitig wegstarb. Ein Vierteljahrhundert ist es her.


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