Heinrich Böll 1965

Eine Geschichte ist es eigentlich nicht. Sie tut nur so. Es ist die Geschichte einer kleinen Recherche, ausgelöst von einer unwichtigen Entdeckung. Von Jochen Vogt stammt nicht nur der Böll-Beitrag im Kritischen Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG), er hat auch in der Reihe der Autorenbücher des Verlags C. H. Beck den Böll-Titel geschrieben. Dort gibt es neben den Anmerkungen und einem leidlich ausführlichen Literaturverzeichnis zwar kein Register, dafür aber eine Zeittafel. Andere Böll-Biographien (Christian Linder, Heinrich Vormweg) haben zwar ein Register, aber keine Zeittafel. Und wenn ich richtig etwas wissen will, nehme ich immer noch am liebsten den uralten dtv-Band „Der Schriftsteller Heinrich Böll“ aus dem Jahr, da der Nobelpreis kam. Bei Jochen Vogt aber hat mich die Zeittafel interessiert. Sie weist für die Jahre 1956 und 1965 nichts aus. Was war da? Schlief Böll den Schlaf der Gerechten? Ruhte er auf seinen Lorbeeren? Oder war, was er trieb, nur derart bedeutungslos, dass es einer Erwähnung nicht wert schien?

Mein Griff zur guten alten zweibändigen Ausgabe der „Gesammelten Erzählungen“ (Kiepenheuer & Witsch), die den Vorteil der chronologischen Ordnung hat, den sicher die 27 Bände der Großen Ausgabe auch haben, nur leider in einem Preissegment, der einfachen Böll-Freunden den Zugriff verleidet, ergibt eine wenig überraschende Überraschung. Dem Jahr 1965 ist eine einsame Erzählung zugeordnet, sie heißt „Die Kirche im Dorf“ und ist runde zwanzig Seiten lang. Man durfte sie als DDR-Leser 1990 in dem späten bb-Bändchen „Der Geschmack des Brotes“ zur Kenntnis nehmen, sie schließt das Buch ab. Und vermittelt, so mein Eindruck bei der Erstlektüre, keineswegs den Eindruck, von einem Verfasser zu stammen, der sich auf dem direkten Weg zum ersten Nachkriegs-Nobelpreis für einen Deutschen befand. Böll hatte zu dieser Zeit seine große Phase als Autor von kurzen Geschichten zweifelsfrei hinter sich, der Themenfundus der frühen Jahre, der Trümmerliteratur, war ihm und überhaupt weitgehend erschöpft. Bei genauer Lektüre jedoch offenbart „Die Kirche im Dorf“ durchaus Schönheiten.

Böll setzt wie so oft einen Ich-Erzähler ein. Es handelt sich um einen namenlosen jungen Mann, der seinen ersten Außendiensteinsatz als Steuerprüfer in einem Dorf namens Brossendorf schildert. Von seinem Chef hat er den Auftrag, in einer bestimmten Reihenfolge vorzugehen, er soll der Einfachheit halber sich vor Ort einquartieren, der Chef kümmert sich darum, weil er dort Verwandte hat. In Brossendorf scheinen überhaupt nur Verwandte zu leben, nicht mehr als vier, fünf Namen begegnen dem Prüfer immer wieder und er hört, dass die keineswegs alle miteinander blutsverwandt seien, schon gar nicht via Inzucht. Der Prüfer hätte lieber in Erfahrung gebracht, wie es sich mit den Steuern verhält, die der Staat von den Prostituierten eintreibt, aber da gibt es einen Spezialisten im Amt. Die kleinen feinen Ironien, die man aus Bölls früheren Satiren gewohnt ist, sind 1965 noch nicht verkümmert, sie scheinen hier und dort auf, ohne sich in den Vordergrund zu drängen. So sagt der Erzähler von sich: „Außerdem waren mir das Amt und seine Materie auf eine Weise gleichgültig, die sogar Ironie ausschloss.“ Der Entfremdungstheoretiker der Mittsechziger konnte an solcher Aussage seine helle Freude haben.

Doch trifft der Prüfer an seinem ersten Tag zunächst auf zwei Frauen, die im Amt den Ruf höchster Steuerehrlichkeit besitzen und folgerichtig findet er auch nichts, was zu beanstanden wäre. Es fällt ihm freilich auf, dass sie die Möglichkeiten nicht ausschöpfen, die sich für Geschäftsleute bei Werbungskosten ergeben. Das Glas mit den Bonbons, aus dem sich Kinder, die in den Laden kommen, bedienen dürfen, wird nicht geltend gemacht und als er darauf aufmerksam macht, was hier verschenkt wird, bekommt er eine verblüffende Antwort: „Wir leiden keine Not, und ich bin nicht erzogen worden, Bonbons zu zählen, die ich verschenke.“ Die Geschichte spielt Ende 1949, es gibt die Bundesrepublik schon, die Währungsreform findet sich in den Prüfunterlagen für 1948, ein Sparkassenbuch über 23.000 Mark verwandelte sich für beide Schwestern in nur noch 1500 Mark. Es galt eine Erziehung, die sich Finanzämter in aller Welt wohl wünschen würden. Ich erinnere mich eines Autors, dem ich jedes Buch, das er mir freundlich und mit Widmung schenkte, quittieren musste: für sein Finanzamt. Der Prüfer, als Engel angesprochen, sagt, er verstehe nun, warum sich viele Menschen vor Engeln fürchten.

Dann prüft er einen Schuhmacher, dessen Buchführung durch auf Nägel gespießte Rechnungen und Quittungen gekennzeichnet ist. Der Prüfer gewinnt den Verdacht, der Mann trage allerhand Geld zu Prostituierten, weil die anderen Frauen eben doch nicht so unbefangen mit einem umgehen, der eine Beinprothese trägt. Und hier überrascht Böll seine Leser. Spät erst enthüllt er, dass der promovierte Steuerprüfer ebenfalls eine Beinprothese trägt, nur nicht von Verdun 1916 her wie der Schuster, sondern aus dem zweiten Weltkrieg, beide ereilte ihre Verwundung mit 18 Jahren. „Zu meiner Überraschung humpelte ich.“ In diesen fünf Wörtern steckt plötzlich große Erzählkunst. Denn mehr sagt der Erzähler nicht. Der Leser aber weiß, dass da eben in Sekundenschnelle und offenbar vollkommen unbewusst sich etwas wie Solidarität gebildet hat für den Mann, den der Prüfer zuvor schon für die „Poesie seiner Notwehrerfindungen“ bewunderte. Verwandelt hat sich auch das Gesamtbild des Dorfes seit der Ankunft am Morgen auf dem Fahrrad und zeitgleich mit dem Bus: „Die Kirche lag mitten im Dorf, nicht wie es mir am Morgen erschienen war, am westlichen Rand.“

Mit dem Titel seiner Geschichte legte Böll seinen Lesern etwas Spielmasse auf den Tisch. Forderte doch der Amtsleiter seinen jungen Mann indirekt auf, „die Kirche im Dorf zu lassen“, also nicht etwa Übereifer an den Tag zu legen, wie das wohl zu verstehen war. Das eigentliche Rätsel aber kommt vom Untertitel her, der da lautet „Das sechste Gebot Du sollst nicht ehebrechen“. In der Gefahr steht der Prüfer während der gesamten Geschichte nicht, die als Geschichte eines ersten von fünf oder mehr Prüfungstagen damit wohl auch heftig überladen wäre und alles andere ohnehin seltsam. Man darf sich des berühmten Monogamie-Bekenntnisses erinnern, das Clown Schnier in jenem Roman abgibt, für dessen italienische Übersetzung Heinrich Böll just 1965 seinen zweiten ausländischen Literaturpreis erhielt, den „Premio d'Isola d'Elba“: „Ansichten eines Clowns“. Böll hat seine Erzählung „Die Kirche im Dorf“ für eine erst 1967 gedruckte Anthologie geschrieben, die aus einer Sendereihe des RIAS Berlin hervorging: „Die zehn Gebote. Exemplarische Erzählungen“, Herausgeber Jens Rehn. Und Blicke hat der Prüfer schon geworfen, Blicke auf die verheiratete Lehrerin Anna, die die jüngere Schwester der zuerst geprüften unverheirateten Frauen ist.

Böll hat von einem nicht auf den Tag genau bestimmbaren Zeitpunkt an keine Gelegenheit ausgelassen, blasphemische Pfeile gegen seine katholische Kirche zu schießen. In „Die Kirche im Dorf“ liest sich das so: „Ich war erst zweimal, beide Male beim Militär, in einer Kirche gewesen, weil ich sonst hatte Kartoffeln schälen müssen...“. Andererseits hat genau dieser Prüfer sehr genaue Vorstellungen von einem Pfarrhaus und seinen Räumlichkeiten: „Woher wusste ich, dass das Zimmer so sein würde, wie es war: voller Bücher, unaufgeräumt, nach Pfeifenrauch riechend, gemütlich, wenn es nicht ungeheizt gewesen wäre? Ja, woher wohl? Ich würde auf meine Erfahrungen mit Pfeife rauchenden Pastoren verweisen, mit denen ich befreundet bin, wenn auch nur im Singular. Mit dem Satz „Ich trank den halben Schnaps und stopfte mir eine Pfeife.“ lässt Heinrich Böll seine Geschichte schwebend ausklingen. Der Steuerprüfer, darf vermutet werden, steht Amt und Materie des Amtes nicht mehr fremd gegenüber, vielleicht findet er sogar ganz neue Lebensaufgaben für sich, vielleicht aber beendet er auch seinen Außendienst nur mit einer neuen Erfahrung, die er als Grundstein einer Sammlung betrachtet.

Das bedeutungslose Jahr 1965 war für Böll trotz allem auch mit dem Erscheinen zweier Bücher verbunden. Im Deutschen Taschenbuch Verlag (dtv 339) erschien unter dem Titel „Als der Krieg ausbrach“ eine Sammlung von 19 Erzählungen, von denen im biographisch-bibliographischen Abriss „Der Schriftsteller Heinrich Böll“ drei dem Jahr 1965 zugeordnet sind: Kümmelblättchen; Spritzenland; Kampfkommandantur. Alle drei fehlen in den „Gesammelten Erzählungen“. Als Band der edition suhrkamp erschien in der Übersetzung von Heinrich und Annemarie Böll George Bernard Shaw: Cäsar und Cleopatra. Historisches Drama (es 102). Im folgenden Jahr 1966 kamen zwei weitere Übersetzungen des Ehepaares Böll auf den Markt, „Der Spanner“ von Brendan Behan und „Neun Erzählungen“ von Jerome D. Salinger. Die Arbeit an beiden Übertragungen wird wohl 1965 ihre hohe Zeit gehabt haben. Und ganz plötzlich erweist sich die vermeintlich zufällige Abfolge von essayistischen Arbeiten Bölls, die dem Jahr 1965 entstammen oder in ihm gedruckt erschienen, als sehr zusammenhängend, ja voller intertextueller Bezüge, die gar nicht sonderlich verborgen liegen.

Ein erstes Beispiel sei noch einmal aus „Die Kirche im Dorf“ genommen. Der Prüfer wirft, während er mit den Unterlagen allein ist, auch einen Blick in das Zimmer, in dem er arbeiten darf. Er sieht Jugend- und Kinderbücher. Und es sind just die Titel (nicht alle natürlich), die in einer Schrift mit dem Titel „Jugendschutz“ auftauchen, gedruckt 1965 in einem von Hans Werner Richter herausgegebenen Band „... der jungen Leser wegen“. Dort finden sich Sätze wie: „Eine nur noch auf Verbrauch ein- und abgestellte Wirtschaft verbraucht am Ende auch den Verbraucher“ und „Gefährlich ist auch die Lektüre des Alten und des Neuen Testaments“. Und Böll definiert, worin für ihn die Glaubwürdigkeit eines Autors besteht. Zur Übersetzung des Dramas von Shaw hat Böll ein Vorwort geschrieben, in dem es gleich eingangs heißt: „Wir müssen auf mindestens fünf von unseren insgesamt vier Ohren taub sein, weil wir nicht verstehen, wieso wörtlich und sinngemäß Gegensätze sein sollen, und im Zusammenhang mit Übersetzen klingt uns das Wort frei anrüchig.“ Böll argumentiert aus eigener Erfahrung sehr stringent, man wünscht sich, dass alle Übersetzer so am einzelnen Wort arbeiten, weiß aber, das es eben nicht so ist.

Ins Jahr 1965 gehören weiter eine Besprechung des Buches „Felder“ von Jürgen Becker, der Kölner widmet sich dem Kölner. Ein autobiographischer Text „Raderberg, Raderthal“, in dem sich Böll seines ersten Umzugs auf einem Handwagen im Alter von vier Jahren erinnert. Ein Beitrag, der sogar den Titel liefert für die Schriften 1964 -1968: „Heimat und keine“, er beschwört zwei Köln, die verloren sind, das ganz alte unzerstörte und das Ruinen-Köln und kommt nach einem Seitenblick auf Dresden zu einem merkwürdigen Gedanken: „Die Deutschen haben dieses Geheimnis, warum sie sich vom Westen so ergeben bestrafen ließen und vom Osten keinen Streich hinnehmen wollen, noch nicht preisgegeben.“ Wie war dieser Böll verfasst, der schrieb: „Mir brach der Angstschweiß aus, als ich die erste unzerstörte Stadt, Heidelberg, nach dem Krieg wiedersah.“ Hat, fragt er sich ohne alle Ironie, möglicherweise eine Operette Heidelberg gerettet? In einer dem Iren Brendan Behan gewidmeten Schrift („Der Spanner“ war in Arbeit) steht die frappierende Überlegung: „Warum schrieb er nicht einen großen Roman? Er war zu sehr Persönlichkeit. Er drückte sich aus in dem, was er sagte und tat, viel mehr als in dem, was er schrieb.“

Fast achtzig Druckseiten kommen zusammen für 1965, nimmt man den vier Monate nach Bölls Tod im November 1985 erschienenen Band „Heimat und keine“ zum Maßstab. Vorn drauf sieht man eine irgendwie grimmig dreinblickende Eule hinter Gittern, vielleicht ärgert sie sich, nicht nach Athen getragen worden zu sein, was damals noch eine Option war. Die Sekundärliteratur über und zu Heinrich Böll, die im Kritischen Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG) für 1965 als Fehlstelle ausgewiesen ist ebenso wie bei den Interviews dort, war tatsächlich natürlich vorhanden. Fünfzehn Literaturstellen weist „Der Schriftsteller Heinrich Böll“ nach, darunter solche in spanischer, italienischer, russischer und japanischer Sprache. Etwas überraschend (für mich zumindest) ist auch der Joseph-Roth-Forscher und Biograph David Bronsen vertreten mit einem Beitrag über „Böll's women“. Zum Jahresausklang 1965 meldete sich Heinrich Böll in Sachen Biermann. Es beginnt so: „Nicht Wolf Biermann fällt irgendjemand in den Rücken. Der einzige, der sowohl Biermann wie allen Schriftstellern in den Rücken fällt, ist Klaus Höpcke und mit ihm die Redaktion des Neuen Deutschland.“ Wo Böll recht hatte, hatte er recht.


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