Jörg Fauser 75

Wenn ich im Alter keine schlimmeren Gewohnheiten annehme, als in gewissen, eher regel- als unregelmäßigen Abständen anlassgebunden über Jörg Fauser zu schreiben, dann will ich zufrieden sein mit mir. Heute wäre also Jörg Fauser 75 Jahre alt geworden; man kann unter JAHRESTAGE bei mir noch bequem nachlesen, was ich zu „Jörg Fauser 70“ oder „Als Jörg Fauser starb“ zu sagen hatte und als kürzlich des Todestages von Joseph Roth zu gedenken war, griff ich mir zielbewusst abermals Jörg Fauser heraus. Nun ja. In eben dieser Arbeit verwies ich schon auf neuere Anzeichen von neuer Aufmerksamkeit für Fauser, gekoppelt an die neue Werkausgabe, die der Züricher Diogenes-Verlag veranstaltet nur wenige Jahre, nachdem der Berliner Alexander-Verlag seinerseits eine neue Werkausgabe veranstaltet hatte. Was soll man dazu sagen? Am einfachsten nur das, was ich erst gestern von Carl Spitteler in Bezug auf Gottfried Keller zitierte: wie und wann sich Zeitungen einem Autor widmen, der es jederzeit verdient hätte, Zeitungen zum Gegenstand zu werden und es dennoch erst wird, wenn, ja, wenn einem Verleger eine neue Ausgabe beliebt. Dabei kann dann, unbenommen, solider Feuilleton-Journalismus herauskommen plus Konkurrenzlob.
 
In diesem Falle lobte für die LITERARISCHE WELT Philipp Haibach in einem fiktiven Interview mit dem toten Jörg Fauser am 25. Mai einen Beitrag von Julia Encke in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG vom 19. Mai. Haibach hatte die wenig neue, bei Gelingen aber immer lesbare Idee, bei Jörg Fauser Antworten zu suchen, zu entnehmen aus seiner Prosa, journalistischen Arbeiten, Interviews, Songtexten und Briefen und selbst die Fragen dazu zu erfinden. Es ist ihm gelungen, weshalb das „Interview“ empfehlenswert ist. Und ich werde, wenn ich bald wieder die S-Bahn am Savigny-Platz in Charlottenburg verlasse, nicht in Fahrtrichtung zu meinem Hotel, sondern entgegengesetzt, in Richtung „Zwiebelfisch“ aussteigen, wo Haibach sein Treffen mit seiner Kopfgeburt Fauser hatte. Natürlich habe ich bei Julia Encke nachgelesen, die mich beschämte, indem sie auf YouTube verwies, wo ich, allabendlich nahezu, Musik sehe, weil es nur dort so schön Beth Hart mit Joe Bonamassa und Beth Hart mit Jeff Beck gibt, aber bisher nie alte Schlachtfeste des Formats „Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb“. Ich beging den Fehler, erst die Stimmen des kombinierten Rollkommandos Marcel Reich-Ranicki, Walter Jens und Peter Härtling zu hören, bescheiden zugemixt ein Stimmchen von Klara Obermüller, die als Frau las und hörte.
 
Ich gebe zu, dass ich mich gewundert hätte, wäre Klara Obermüller als Mann ins Rennen gegangen, ist sie doch unzweifelhaft als Frau an der Seite von Walter Matthias Diggelmann einst in die DDR gereist zum Sozialismus-Gucken. Nun denn. Julia Encke schrieb sehr unmissverständlich: „Es gibt Momente, in denen Literaturkritik zur Horrorshow wird.“ Das klingt gut, setzt aber voraus, dass das, was sie dann beschreibt, auch tatsächlich Literaturkritik war. Man muss nur hinhören: es war keine. Dennoch ist es lehrreich, sich den Show-Act anzuschauen, im Hinterkopf seine seltsamen Höhenlichter (High-Lights), wo einer sich die Stirn schlitzte, einer nach dem Lesen sein Manuskript fraß, Jörg Fauser hat sich daran, solange er es erlebte, sehr belustigt. Und Kathrin Passig hat sich, als sie den Quell-Code der Klagenfurther Nummer geknackt hatte, unsterblich gemacht mit dem Fabrizieren eines maßgeschneiderten Siegertextes, der auch tatsächlich siegte. Normalerweise sagt man nach einer solchen Geschichte das Ereignis ab. Aber es hängt zu viel dran, ein ganzer dicker Literatur-Betrieb ernährt sich damit, die Preisträger werden herumgereicht, erlangen Buchpreis-Vorreife und Verlagen fällt es angesichts der Liste ihrer Namen leichter, unverlangte Manuskripte in Papierkörbe ohne Boden zu werfen. Dann aber hörte ich mir Jörg Fausers Text selbst an.
 
Der Titel: „Geh nicht allein durch die Kasbah“, handelnd auf Zypern, gelesen an eben jenem 29. Juni 1984, in Buchform erstmals gedruckt im Band II der „Gesammelten Erzählungen“ des schon genannten Alexander-Verlages. Für den Wiener STANDARD führte Stefan Gmünder 2007 ein Interview mit dem Verleger Alexander Wewerka, gedruckt am 7. Juli 2007, da war die Welt der neuen Werkausgabe noch in Ordnung. Gmünder begann das Gespräch so: „Den typischen Fauser-Leser stellt man sich als 25- bis 35-jährigen Mann von düsterem Aussehen und leicht verwahrlostem Äußeren vor.“ Keine gute Idee, mit einer genau solchen Wendung zu beginnen, die Jörg Fauser, der ja auch ein überragender Journalist war, nie unterlaufen wäre. Denn natürlich stellt nicht „man“ sich den Fauser so vor, sondern Gmünder, aus welchen Gründen auch immer, andere haben in Fauser auf Fotos den etwas abgewrackten Versicherungsvertreter erkannt. Ein Jeglicher soll sich nach seiner Fasson irren, sagte ein König in Preußen. Oder so ähnlich. Eine der Antworten  Alexander Wewerkas: „Fauser ist für mich einer der ganz großen deutschsprachigen Schriftsteller, weil er eine für den deutschen Sprachraum sehr untypische Eigenschaft hatte, nämlich zugleich spannend und sehr genau und poetisch schreiben zu können.“ Der Klagenfurt-Jury entging das.
 
Der Verleger Wewerka passt freilich selbst nicht ins übliche Bild des Großliteraten-Betriebs: bei denen liest bekanntlich niemand je etwas, alle lesen nur immer etwas wieder und dann entdecken sie. Wewerka aber bekennt unumwunden: „Jakob Arjouni fragte mich, ob ich „Rohstoff“ von Fauser kennen würde. Ich kannte nur den Namen des Autors und besorgte mir das Buch antiquarisch.“ Ich frage hier nicht erst lange, wer wiederum Jakob Arjouni kennt, den man, viel zu früh gestorben, auch nur noch auf dem Friedhof Heerstraße in Berlin finden kann. Nicht ganz ohne Süffisanz erzählte Wewerka dem Interviewer und somit auch den Wiener Lesern, es habe sich die Verlegerin Elisabeth Ruge (Berlin-Verlag) bei ihm gemeldet und je zehn Exemplare von „Rohstoff“ und „Der Schneemann“ bestellt gegen Rechnung, sie wolle die Bücher an ihre Autoren verteilen. „Der Schneemann“ ist, weil mit Marius Müller-Westernhagen verfilmt, das vielleicht bis heute am ehesten auch breiteren Kreisen bekannte Fauser-Werk. Weder die neue noch die neueste Gesamtausgabe werden viel ändern, auch die Namen jener, die Fauser auf ihrem kleinen Hausaltar stehen haben unter den Jüngeren: Benjamin Stuckrad-Barre, Maxim Biller, Franz Dobler, sind nur Insidern wirklich hilfreich, wobei mir eine Vor-Volontärin einfällt, ach ja, leider Datenschutz.
 
Immerhin: hätte ich sie gefragt, ob sie, weil sie für Stuckrad-Barre schwärmte, auch bereit wäre, Jörg Fauser zu lesen, sie hätte mich wohl ihres zauberhaft fotogenen Lächelns gewürdigt und gar nichts gesagt. Sie lebt heute in München, wo Fauser, was in Fauser-Artikeln seltsam wichtig daher kommt, eine Altbauwohnung bewohnte. Er müsse, so die unausgesprochene Logik, also geradezu sagenhaft reich gewesen sein. Vermutlich wird nur heutige Mietwucher-Rhetorik auf die achtziger Jahre projiziert, wobei München sicher auch damals schon deutlich teurer war als Wattenscheid. Oder Neustadt an der Dosse. Den Zypern-Text, den er 1984 vorlas, las er nicht eben wie ein sehr begnadeter Vorleser, was freilich die Juroren keineswegs der Pflicht enthob, sich mit dem Text zu befassen, den sie vorher ja kannten, das Zwölf-Seitenmanuskript ist längst auch archiviert. Julia Encke hat Punkt für Punkt recht in ihrer Beschreibung des Gebarens der Juroren. Was sie nicht erwähnt, sind die skeptischen Kopfbewegungen der Jurorin Gertrud Fussenegger, die sichtlich nicht einverstanden war mit dem, was Reich-Ranicki da textfern dekretierte und dann in einen Intern-Disput mit Walter Jens überführte, nicht ohne auch noch eine Anekdote über sich und Hilde Spiel in selbiges zu bringen, was mit Jörg Fauser noch weniger zu tun hatte als alles schon zuvor Gesagte.
 
Am heutigen 75. Geburtstag will ich nicht geheimnisvoller tun, als alles ist. Jörg Fauser hat sich den Unmut des repräsentativen Literaturbetriebs herzlich verdient. Er ließ keine einzige Gelegenheit aus, auf die lieben Kollegen, wie Harald Staun sie seit Jahren in seiner Rubrik nennt, einzuhauen: die Kollegen Dichter wohlgemerkt. Und zwar liebte er den Seitenhieb besonders dann, wenn er sich mit eigenen Erwägungen über anglo-amerikanische, vor allem amerikanische Lieblings-Autoren verbinden ließ. Ein Beispiel an höchste Adressen: „Es gibt viele und sinnlose Spekulationen, warum die alten Herren, die den Nobelpreis vergeben, fünft- oder sechstrangige Eintagsfliegen mit ihm illuminiert haben, aber nicht einen der größten Erzähler dieses Jahrhunderts.“ Er meinte Graham Greene. „Alles in allem ist „Der Mann mit der Ledertasche“ glänzendes Entertainment (und mir schon deshalb lieber als das angestrengte Kunstgewerbe der meisten deutschen Literaten)“ – schrieb er über Charles Bukowski, obwohl er die Übersetzung des Buches miserabel fand. „Ich bin ein Kind der amerikanischen Freiheit – ich wünsche Amerikas Politik zum Teufel und liebe seine Literatur.“ In dieser Aussage fand Fauser freilich inzwischen einen ganzen Fanblock. Er lobte US-Reißer, als Deutschland glaubte, „organisiertes Verbrechen sei eine sizilianische Variante des Monopoly.“
 
„Was haben wir von unserer Literatur nicht alles erwartet: 1950 den großen Nazi-Roman, 1960 den großen Roman über den Kalten Krieg, 1970 die Abrechnung mit dem Wirtschaftswunder, 1980 die mit dem Terrorismus – und wo, bitte, bleibt die literarische Antwort auf die Wende?“ Er meinte damit nicht die so genannte friedliche Revolution in der DDR, die er nicht mehr erlebte, er meinte jenen Übergang von Schmidt zu Kohl, der den Begriff in Gebrauch brachte und später erst in den Ost-Export. Wobei wir alle wissen, dass nach dem Wende-Roman auch 2019 immer noch mal gefragt wird. Als er für Dashiell Hammett und dessen „Der dünne Mann“ schwärmte, verglich er sofort mit englischen Krimis, nannte Agatha Christie und Ellery Queen „steifgeschlagene Créme“. „Mit Hammett tritt der Kriminalroman in die gesellschaftliche Wirklichkeit und zugleich in die große Literatur.“ Detektive wie Hercule Poirot oder Nero Wolfe nennt Fauser Pappfiguren und Gummilöwen. „Herr Fauser, wollen Sie was sagen?“ fragte am 29. Juni 1984 der Moderator den eben vernichtend kritisierten Autor. „Nein!“ antwortete Fauser, stand auf und ging von der Bühne.


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