Ernst Wilhelm Lotz 130

Das Vergessen und das Unrecht werden, wenn es um Dichter geht, um Bücher oder Ereignisse, die nicht gleich ganze Epochen prägten, gern in einem Atemzug beschworen. Endlich, so das Lieblingswort im Feuilleton, sei dies und jenes wieder erschienen, suggerierend, es hätten diese oder jene Großgruppen füßescharrend auf etwas gewartet, auf das tatsächlich niemand auch nur irgendwo tatsächlich wartete. Seien wir ehrlich: es ist natürlich verdienstvoll, wenn innerhalb einer Reihe mit dem Titel „Frühe Texte der Moderne“ von Ernst Wilhelm Lotz „Gedichte Prosa Briefe“ erscheinen. Die von Jörg Drews, Hartmut Geerken und Klaus Ramm herausgegebene Reihe ist ein Projekt der Münchener edition text + kritik, genauer: war. Denn das Lotz-Buch, von dem ich hier schreibe, erschien 1994, es ist also mehr Jahre her, als das Leben des Dichters Lotz überhaupt dauerte. Der geboren wurde am 6. Februar 1890 in Culm an der Weichsel und am 26. September 1914 starb, als er mit seiner Kompanie einen Sturmangriff auf die französischen Linien unternahm. Er starb als Kompanieführer, als Leutnant, der er schon vor dem Krieg und vor seinem Ausscheiden aus dem Militärdienst war, und hatte von all seinen hochfliegenden Plänen kaum etwas realisieren können. Für mich ist das Grund genug, ihn gelegentlich kurz aus der Vergessenheit zu erwecken.
 
Der Titel „Gedichte Prosa Briefe“ spiegelt zwar exakt wieder, was auf alles in allem 245 Druckseiten zu finden ist, marktgängige Titel sehen dennoch anders aus. Herausgeber und Nachwort-Autor Jürgen von Esenwein wusste zweifellos, dass auch ein reißerischer Titel seiner Ausgabe kaum mehr Aufmerksamkeit gesichert hätte. Nischenprodukte werben innerhalb ihrer winzigen Zielgruppe für sich selbst, die Nische ist Wert an sich, verhilft ihren Bewohnern zu Selbstwertgefühl, ihrer Zulieferern zum Image des Marken-Produzenten. Schließlich und endlich, das darf nicht verschwiegen werden, bevölkern auch wirklich einige Menschen den deutschen Erdboden, die einst von einer expressionistischen Gedichte-Anthologie „Menschheitsdämmerung“ im preiswerten Segment von Reclams Universalbibliothek etwas wie ein Erweckungserlebnis hatten. Als das Original erschien, war Expressionismus schon im Abklingen, wenngleich es in Prosa und Drama noch länger nachbebte als in der Lyrik. Aber, ich bekenne mich schuldig: nie sind mir die Namen der Beiträger einer Anthologie so unvergesslich geworden wie in diesem einen Einzelfall. In allen anderen Sammlungen blättere ich immer wieder mit Entdeckergeist, hier nicht. Auch die, die später in die zweite oder dritte Reihe sortiert wurden, sind mir vertraut und nahe.
 
Wobei sich die Frage natürlich stellt, was nummerierte Ranglisten im Felde von Dichtung eigentlich bedeuten sollen, was es heißt, wenn mir jemand mitteilt, Dichter X oder Dichterin Y sei minder bedeutend als – und dann kommen die ganz dicken Fische. Neben solchen Goethes oder Rilkes oder wem auch immer, neben Trakl und Heym, neben, sagen wir, Bachmann und Celan sind immer ganze Reihen von anderen minder bedeutend, schon Schiller darf den Hut in den Händen drehen, wenn er neben dem so genannten Dichterfürsten steht, von Heine habe ich nichts geschrieben. Ernst Wilhelm Lotz war einer, den die Ehrfurcht schüttelte, als er sich an Richard Dehmel wandte und diesen Richard Dehmel kennen heute auch schon nicht wesentlich mehr Leute als Lotz. Sollen wir nur die auf den Podestplätzen lesen und den Rest an Antiquariate verschenken, weil auch die heute unwillig sind, für Vergessene Geld zu zahlen, sie verkaufen gern weiter, kaufen aber, das war gestern. Manchmal hat einer nur ein einziges Gedicht geschrieben, das immer wieder zitiert wird, ein Stellvertreter-Gedicht, an dem sich etwas demonstrieren lässt. In der Popmusik heißt das Phänomen „One-Hit-Wonder“, es gibt ganze Editionen davon. Die Super-Hits des Expressionismus waren, es lässt sich nicht beschönigen, immer nur die Super-Hits für die anderen Expressionisten.
 
Ausnahmen bestätigen die Regel, die Regel selbst aber besagt, dass sogar die Hits fast immer Hits für nur eine Gruppe von Jung-Dichtern wurden, andere Gruppen bildeten die feindliche Umwelt. Jede Gruppe hatten einen Guru, mal einen Herwarth Walden, mal einen Kurt Hiller, mal einen Franz Pfemfert, einen Kurt Pinthus. Ernst Wilhelm Lotz gehörte zum Hiller-Kreis, deshalb auch die von mir vor fünf Jahren aus den Grüften des Vergessens gezogene „Gedenkrede auf Ernst Wilhelm Lotz“ (JAHRESTAGE am 13. Februar 2015) von ihm. Vielleicht hätte auch Ernst Stadler später für ihn gesprochen oder geschrieben, der aber fiel wie Lotz auch gleich zu Beginn des Weltkrieges, wie Alfred Lichtenstein. Die Verlustlisten sind Name für Name schrecklich. Man lese, was dieser Lotz fünf Monate vor seinem Tod, noch mitten im Frieden, an seine Eltern schrieb: „Die Natur Dresdens scheint mir sehr wohl gesinnt zu sein; die Luft macht mich weich, so dass die Töne der Elbbrücken und Barocktürme stark in mich eingehen. Ich denke, dass ich hier Jemand werde.“ Er war in Dresden mit Ludwig Meidner zusammen, dem großen Doppeltalent (18. April 1884 – 14. Mai 1966), der später auch Erinnerungen an diese Zeit zu Papier gebracht hat. Ein Jemand werden, das war der Traum, der Wunsch. Am 13. Februar 1913, noch im Hamburg, bedankte sich Lotz bei seinen Eltern für deren Wünsche zu seinem Geburtstag, unter den Geschenken war auch eine Wurst.
 
„Ich war übrigens ganz erstaunt, erst 23 Jahre alt zu sein, denn ich hielt mich schon im ganzen Jahre für so alt und glaubte nun 24 zu werden. Angenehme Überraschung.“ Die Briefe, die Lotz an seine Eltern schrieb, sind von viel Humor gekennzeichnet, er wusste offenbar, dass ihm trotz Vorbehalten gegen seine Lebensführung und Lebensplanung die Liebe seiner Eltern galt, er setzte sich mit fröhlichen Argumenten und munteren Sätzchen über ihre Vorhaltungen hinweg. Wir wüssten, ich schrieb es schon, viel mehr von ihm, wenn nicht Kurt Hillers Briefbestände in die Hände der Nazis gefallen wären, wenn nicht just an einen anderen 13. Februar, nämlich 1945, alles Opfer des angloamerikanischen Großbombardements von Dresden geworden wäre, was bei seiner Mutter verblieben war. So haben wir ein einziges Druckerzeugnis (neben Zeitschriften-Beiträgen), das zu seinen Lebzeiten erschien, eine Flugschrift mit dem Titel „Und schöne Raubtierflecken“, gedruckt bei A. R. Meyer in Berlin 1913, das „Lyrische Flugblatt“ enthielt 12 Gedichte. 40 Gedichte sind versammelt in dem 1917 im Leipziger Kurt Wolff Verlag erschienenen Bändchen der Reihe „Der jüngste Tag“ (Nummer 36), es ist Ludwig Meidner gewidmet. Der hatte das Manuskript mit zehn eigenen Zeichnungen am 27. Februar 1914 an den Verlag geschickt, dazu weitere Zeichnungen.
 
„Ganz bis in die Tiefe“, steht in der Widmung, „an die ich glaube, gehören Dir die Gedichte, - während wir zusammen unter die Menschen gehen, fremd umweht und „Wolkenüberflaggt“.“ Letzteres ist der Titel des Bandes. Das Original wird derzeit in Antiquariaten zwischen 65 und 134 Euro angeboten, es gibt eine preiswerte Reprint-Ausgabe bei Hansebooks. Wolfgang Koeppen soll zu Wort kommen aus dem von Marcel Reich-Ranicki zusammengestellten Band „Die elenden Skribenten“: „Ernst Wilhelm Lotz kam aus dem Kadettenkorps, dem roten Haus in Lichterfelde, war Leutnant schon vor dem Krieg, nahm seinen Abschied, dichtete sich durch die Kontore, Kaffeehäuser, Kneipen und hatte Heimweh nach der Kaserne, den Märschen, dem Biwakfeuer, jugendbewegt. „Von blauem Tuch umspannt und rotem Kragen / Ich war ein Fähnrich und ein junger Offizier.“ Dem stand entgegen: „Es kam ein Palmenwald, ein ganzes Land mit Düften, Negern, Affen, Papageien.“ Er hatte ein Signal aus Frankreich vernommen, den Ruf Rimbauds und wollte den Aufbruch der Jugend „wolkenüberflaggt“. Im Schützengraben 1914 ließ der Kompanieführer Lotz die Mannschaft „Heil dir im Siegerkranz“ singen. Doch sah er, „dass in vagen Finsternissen noch sternenstumme Zukunft vor mir qualmt“. Er fiel nicht fern dem Friedhof von Charleville. Das Kind Rimbaud hatte nicht wenig Lust gehabt, gegen die Preußen zu ziehen. Doch Rimbaud und Lotz vereinte die Sprache der Revolte.“ Achten wir auf das Stichwort Rimbaud.
 
Der französische Dichter Arthur Rimbaud (20. Oktober 1854 – 10. November 1891) war für den deutschen Expressionismus ein Stern höchster Leuchtkraft, „rimbaudisch“ nannte Kurt Hiller, was er gesprächsweise von einem Romanplan erfahren hatte, den Ernst Wilhelm Lotz nicht ausführen konnte wegen eigenes Todes. „Der Held, ein junger Deutscher, der rimbaudisch alle Berufe, alle Lebensstile, alle Denkungsarten durchrast hat, verlässt angewidert Europa und gründet irgendwo jenseits des Ozeans … ein ideale Republik, den nach Jahrtausenden zum ersten Male der Menschheit und dem Geist gemäßen Staat – als dessen Haupt er schließlich die Welt erobert.“ Mit kleinen Visionen wollte sich diese intellektuelle Jugend, denn mehr war es nie und bei keinem, nicht abgeben. Liest man das Gedicht, das den Band „Wolkenüberflaggt“ abschließt, „Aufbruch der Jugend“, dann weiß man, woran man von Beginn an war, nur die vermeintlich Aufbrechenden selbst bemerkten es nicht oder nicht mit der nötigen Konsequenz. „Wie Sturmflut haben wir uns in die Straßen der Städte ergossen / Und spülen vorüber die Trümmer zerborstener Welt.“ Noch war keine Welt zerborsten, noch stürmte niemand über die Straßen, und als es losging, war Lotz schon vier Jahre tot. War er deshalb ein Prophet? Natürlich nicht. Beim Stürmen waren kaum Dichter dabei.
 
Dennoch: „Wir fegen die Macht und stürzen die Throne der Alten, / Vermoderte Kronen bieten wir lachend zu Kauf, / Wir haben die Türen zu wimmernden Kasematten zerspalten / Und stoßen die Tore verruchter Gefängnisse auf.“ Sein Romanheld sollte es bis zum Welteroberer bringen, im Gedicht offenbart sich etwas wie Erlöserglaube: „Beglänzt von Morgen, wir sind die verheißnen Erhellten, / Von jungen Messiaskronen das Haupthaar umzackt, / Aus unsern Stirnen springen leuchtende, neue Welten, / Erfüllung und Künftiges, Tage, Sturmüberflaggt!“ Nein, von kleinen Visionen wollte diese aufbrechende Jugend und ihr selbsternannter Stellvertreter auf Erden, einer von etlichen, nichts wissen. Messias und Zeus werden aufgerufen im Vers, von einem, der seinen Eltern geschrieben hatte: „Wenn Ihr mir nichts anderes raten könnt, so werde ich Schriftsteller, das heißt Bohemien in München, wo ich freilich nicht von der Schriftstellerei allein, sondern noch von verschiedenen andern Tätigkeiten mein Leben fristen muss.“ Im gleichen Brief: „Jedes Gewerbe ist mir jedenfalls recht, sofern es nicht schmutzig ist.“ Das schmutzige Geschäft des Erzfeinde-Tötens brachte ihn um sein Leben. Er war einer, der einmal schrieb: „Jemand hat Maikäfer gepflückt und in meinen Kopf gesteckt.“ Seinen 25. Geburtstag hat er nicht mehr erlebt, keine Wurst mehr im Paket.


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