Heinrich Mann 150

Warum nicht mit Johannes R. Becher beginnen? Sein Name ist in so vielen Köpfe heute unter der Registerkarte „Suspekt“ gespeichert, dass es schon wieder zum freudvollen Unternehmen wird, ihn überhaupt zum Zeugen zu rufen. Unter dem 20. März1950, Montag, notierte er in sein Tagebuch: „Heinrich Manns Tod: eine Vollendung – bis auf die Rückkehr in die Heimat. Wie sehr wäre ihm dieser Triumph vergönnt gewesen! So immerhin trotz allem: Tod im Exil. Von mir oft befürchtet als ein besonders Schreckliches.“ Abgründe in diesen wenigen Worten: Bechers eigenes Exil hieß Moskau, ein Tod dort hätte ihn zu einem der Opfer Stalins gemacht, zu einem der vielen Opfer unter den deutsche Kommunisten, die gläubig genug gewesen waren. Heimat war 1950 für den Dichter Becher wie im Text seiner Nationalhymne eine ungeteilte Heimat, Heinrich Mann natürlich kein Heimkehrer in den Teilstaat DDR. Offen ist, wie Becher den Triumph verstanden wissen will. Ist irgendeiner der Exilierten im Triumph, triumphierend, nach Hause zurückgekehrt? Ein ganzes Buch widmet sich den „Erfahrungen emigrierter Schriftsteller mit Westdeutschland“ und es ist kein Propaganda-Buch aus der DDR (Peter Mertz: Und das wurde nicht ihr Staat, C. H. Beck 1985).

Fünf Tage früher, am 15. März, Mittwoch, schrieb Becher: „Wir sind der Versuchung enthoben, Heinrich Manns zu gedenken, das heißt über den Tod anlässlich des Todesfalles von Heinrich Mann nachzudenken. Wir werden sein Leben und sein Werk rühmen, und das Schema bietet sich an: wir werden das, wonach er gestrebt hat, mit vervielfachter Kraft weiter verfolgen ...“. Becher selbst hat es bis zu seinem eigenen Tod unterlassen, Leben und Werk von Heinrich Mann zu rühmen. Und im Tagebuch selbst klingt sein Rühmen so (14. März, Dienstag): „Diese wunderbare, leserliche Handschrift. Lesbar auch für ein Kind! Darin, in der Unvergänglichkeit seines Intimsten, der Handschrift, schien mir immer das besondere Humanistische zu liegen, das Heinrich Mann auszeichnet. Der Humanismus hatte den ganzen Menschen erfasst, bis ins Detail.“ Man muss wissen, dass kommunistische Denkart (in der DDR) den Humanismus immer dann besonders laut betonte und heraushob, wenn die Gemeinten als Bündnispartner erwünscht, ideologisch aber klar abgelehnt wurden. Vor allem also jene zahlreichen Intellektuellen, die sehr prononcierte Antifaschisten waren, keineswegs aber auch zugleich Sympathisanten Stalins und der deutschen KP.

Sonst fällt Johannes R. Becher zu Mann ein, dass der einst einen seiner Gedichtbände lobte und das Lob auch in der „Prawda“ erschien. Am 13. März, Montag: „Soeben Nachricht: Heinrich Mann ist gestorben. Welch ein Glanz dieser Name, als ich begann! Literatur als Wagnis, als ein leuchtendes Abenteuer – diese schneidenden, geschliffenen Sätze, diese eigenwillige Wendung, Hinwendung zu einem seltsam-pathetischen Stil, in der Variante von Hölderlins „Heiliger Nüchternheit“ eine Art „Trunkener Nüchternheit“ (mit mir verwandt in meiner „Nüchternen Trunkenheit“).“ So lesen sich unfreiwillige Offenbarungseide: der Name glänzte, als ich begann, was ja nur heißt: jetzt glänzt er nicht mehr, denn ich habe mich von meinen Anfängen inzwischen so weit entfernt, dass ich sie beinahe leugne. Man lese, weil ihr 150. Geburtstag auch in diesen Monat März 2021 fiel, Bechers gruselige „Hymne auf Rosa Luxemburg“. An und mit ihr kann man sich Becher selbst und den gesamten politisch linken lyrischen Expressionismus gleich mit abgewöhnen. Es steht zu vermuten, dass Becher an den frühen Einaktern Heinrich Manns eben den „seltsam-pathetischen Stil“ mochte, falls er sie zur Kenntnis nahm, jener Stil, der sie nicht erst heute unerträglich und unspielbar macht.

Der Name irgendeines Werkes fällt Becher weder am Tag der Todesnachricht noch an den Tagen danach ein. Dafür erinnert er sich an Nizza 1934, eine Begegnung in einem kleinen Hotelzimmer, „Frau hinter dem Vorhang und während des Gesprächs unsichtbar bleibend. Nur ihr zurückgehaltener Atem, ihre gehemmte Bewegung, und das leise Wehen des Vorhangs. Heinrich Manns Sprache: Akzentuiert, jeder Satz so gebaut, als spräche er die Interpunktion mit. Durchdachte Sätze, ein Sprachdenker. (Verwandtschaft darin zu Georg Kaiser, Sternheim.)“ Becher hat sein Tagebuch „Auf andere Art so große Hoffnung“ von der ersten Zeile an mit Blick auf die Veröffentlichung geschrieben, jede Zeile ist also ebenso von Beginn an der Selbstzensur verfallen. Der spätere Kulturminister kann in seinem Tagebuch natürlich nicht Heinrich Mann demontieren, vordergründig auf keinen Fall. Was er kann: seine Handschrift loben, seine Art zu sprechen. Damit hat er dann doch erreicht, was er wollte: Kein Wort über den Dichter, den Schriftsteller, den Dramatiker, den großen Volksfront-Aktivisten der 30er Jahre zu verlieren. Vielleicht war Becher sogar froh, dass Heinrich Mann starb, ehe er in die DDR kam, die ihn hoch zu ehren bereit war.

Ein eigenes Thema wäre die Sicht, die Arthur Eloesser (1870 – 1938) auf Heinrich Mann hatte, weil er schon allein als Autor des ersten Buches über den Bruder Thomas Mann im Jahr 1925 eher für den Jüngeren sensibilisiert war. Dennoch hier zwei knappe Zitate: „Heinrich Mann hat das stärkere Verhältnis zum Süden, der ihm in einer Periode, die ihn schwärmen ließ, unentbehrlich schien; er hat sich an den Franzosen von Stendhal zu Zola und Anatole France gebildet, er gehört, fast mit einem Rückschlag auf die jungdeutsche Periode, zu den wenigen Deutschen, die nicht in Goethe gelebt haben.“ Und: „Dieser angreifende Aktivismus hat ihn seit der Revolution zu einem Führer der Jugend gemacht, die von ihren Vätern keine Erbschaft annehmen, sich keine Ahnen des Blutes halten, ihre Abhängigkeiten, schließlich auch von der Natur, kündigen wollte, wobei sie über Heinrich Manns Erzogenheit, Festigkeit, Verantwortungsbereitschaft gewiss oft hinausgegangen ist.“ Es wäre auf „Geist und Tat. Franzosen 1780 – 1930“ zu kommen, 1931 zuerst im Berliner Gustav Kiepenheuer Verlag erschienen, 1946 und 1980 jeweils neu aufgelegt. Dort finden sich unter anderem die berühmten und gerühmten Essays „Gustave Flaubert und George Sand“ und „Zola“.

Über Stendhal schrieb Heinrich Mann sehr hintersinnig: „Wer meistens allein ist, beachtet die kaum, die über ihn weggehn, aber er stellt fest, wann er recht bekommt, besonders durch die Fehler der anderen.“ Um mich nicht wiederholen zu müssen, verweise ich auf zwei bereits vorliegende Publikationen von mir: http://www.eckhard-ullrich.de/jahrestage/3973-vor-70-jahren-starb-heinrich-mann; und http://www.eckhard-ullrich.de/jahrestage/3993-heinrich-mann-der-tyrann. Dort finden sich weitere Verweise. Vom Ruhm schrieb Heinrich Mann, bezogen auf Choderlos de Laclos, der würde „heute wohl mit Lächeln den Ruhm hinnehmen, der selten mehr ist als ein weitverbreiteter Irrtum über unsere Person.“ Im Jahr 1931, dem Jahr seines 60. Geburtstages, sprach sich damit sicher eigene Lebenserfahrung aus. Nicht jeder gratulierte ihm damals, einige aber taten es um so herzlicher. In Gedichtform versuchte es Walter Mehring (1896 – 1981) in der „Weltbühne“ vom 24. März: „Für Heinrich Mann“ war auf der Seite 425 zu lesen und darin: „Wenn ihn die Langeweile tödlich peinigt, / Dann liest der Untertan den Untertan - / Dann schreit er auf, dass man den Dichter steinigt! / Er hasst den Mann dafür, dass ein Roman / Bis in das Herz traf seinen Größenwahn!“

Mag sein, dass bedeutendere Gedichte geschrieben wurden im Verlauf der deutschen Literatur-Geschichte, doch selbst Goethe vergaß bisweilen, was er konnte, wenn er sich zum Anjubeln ans Schreibpult stellte. Eine Prosa-Gratulation gab es von Gottfried Benn. Die lobte den Jubilar so ohne jede Einschränkung, so unumwunden, so gerade heraus, dass Marcel Reich-Ranicki glaubte, in seinem Aufsatz „Heinrich Mann. Ein Abschied nicht ohne Wehmut“ (1987) umständliche Deutungen liefern zu müssen, wie das zu verstehen sei und wie keinesfalls, was Benn damals als Redner beim offiziellen Bankett des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller vortrug. Auch die Preußische Akademie der Künste feierte Heinrich Mann und es hat einen Anflug kruden Humors, wenn ausgerechnet die „Junge Welt“ ihren zwei Seiten füllenden Beitrag zum 150. Geburtstag heute mit einem großen Foto von dieser Feier illustriert, das Heinrich Mann zwischen seinem Bruder Thomas und dem damaligen preußischen Kultusminister Adolf Grimme zeigt. Wie auch immer: andere Blätter haben heute dies und jenes, nur nicht Heinrich Mann. Doch zurück zu Gottfried Benn, dessen Rede man zuerst am 29. März 1931 in der „Vossischen Zeitung“ lesen durfte.

Er hielt sie im Auftrag des Präsidenten des Schutzverbandes, Arthur Eloesser. Am 27. März 1931 druckte „Die literarische Welt“ bereits den Gottfried-Benn-Beitrag „Heinrich Mann. Zu seinem 60. Geburtstage“, den seine Rede keineswegs einfach wiederholt. Sie ist ein eigenständiger Text, als solcher deshalb auch enthalten in „Essays und Reden. In der Fassung der Erstdrucke“ (Herausgeber Bruno Hillebrand). „Wieviel Stellen aus seinem Werk, wieviel Gestalten aus seinen Büchern müsste man rufen, um den Zauber dieses Tages zu beschwören. … In wieviel Lagern müsste man ihn suchen, in wieviel Gesichter blicken, aus denen alle seine Züge sehen. … immer dies Gemisch aus Kälte und Brand, Gemisch aus Bewusstheit und Trieben: glühend und eisig, süß und bitter wie die Tränen der Liebenden.“ Etwas später: „Die deutsche Dichtung sah in ihrem letzten Jahrhundert seinesgleichen nicht.“ Benn zitiert zum Schluss seines Artikel für „Die literarische Rundschau“ aus der Gratulation Heinrich Manns zum 60. Geburtstag von Gerhart Hauptmann: „Wer wirkt, frage niemals auf wen. Genug, dass er Keime legt. Sie verbreiten sich, indes er vielleicht zweifelt. Sie treiben – sieh, sie treiben schon in würdigeren Herzen.“ Die Rede ist anders angelegt, rhetorischer.

Sie holt weit aus, so weit, dass der Redner sich schließlich gedrängt sah zu leugnen, er sei sehr weit abgeschweift. Tatsächlich ist vorstellbar, dass die Hörer den Satzperioden Benns zunehmend in Unruhe fallend lauschten, denn Heinrich Mann scheint im Vortrag kaum vorzukommen. Benn nimmt seinen Ausgang bei einem einzigen Text aus dem Band „Geist und Tat“, den sich der Jubilar gewissermaßen selbst zum Geburtstag geschenkt hatte: „Gustave Flaubert und George Sand“. Für Gottfried Benn sind die Namen nicht viel mehr als Vorwände, man könnte, sagte er, auch „Die Kunst“ darüberschreiben, „so haben Sie das Thema des Aufsatzes, der ein einziger großer dramatischer Monolog Heinrich Manns über sich und seine innersten Gewalten ist“. Reich-Ranicki äußerte mehr als fünfzig Jahre später den Verdacht, Benn habe gar nicht sehr viel von Mann gelesen, als wäre das ein Argument. Es reichte jedenfalls für einige sehr klare Worte: „Ich feiere in ihm die erregendste Dichtung der Zeit, lyrisch phänomenal und episch von der gleichen primären Evidenz wie bei Conrad und Hamsun, die entfaltetste deutsche Sprachschöpfung, die wir seit Anfang des Jahrhunderts sahen.“ Wie mag das in den Ohren von Thomas Mann geklungen haben?

Zum 60. Geburtstag gratulierten auch Neffe Klaus Mann und Rudolf Leonhard. Letzterer äußerte sich wiederholt und es bleibt unklar, warum in der Ausgabe seiner Prosaschriften, Titel „Der Weg und das Ziel“ (Verlag der Nation Berlin 1970), der Geburtstagsartikel fehlt, den die „Neue Rundschau“ in Heft 4 des Jahres 1931 druckte. Der griff im Titel eine bereits 1917 veröffentlichte Arbeit „Das Werk Heinrich Manns“ auf, im Text finden sich neue Überlegungen, so ein Versuch der Ehrenrettung der Dramen: „Sie sind in genau dem Sinne theatralisch, in dem, zum Glück, zu unserm Glück, die Romane romanhaft sind: weil sie in lebendigstem Kontakt mit dem heutigen Leben auf dem Boden des klarsten Gefühls von den Notwendigkeiten des heutigen Theaters entstanden sind“. Das werden nicht alle Kenner der Bühnenwerke Manns so unterschreiben wollen. Max Brod aber, meist nur mit Kafka in Verbindung genannt, schrieb in seiner Autobiographie „Streitbares Leben“ am Ende eines kurzen, aber um so hübscheren Abschnitts zu Heinrich Mann: „Es ist mir auch heute unbegreiflich, warum die Bühnen nicht nach einer der schönsten Blumen seines Rechtsgefühls, nach dem wohlgearbeiteten Drama der Bastille „Madame Legros“ greifen.“

Dem Verhältnis von Klaus Mann zu seinem Onkel kann man in einem von Inge Jens und Uwe Naumann herausgegebenen Band des Rowohlt Verlags nachspüren: „Lieber und verehrter Onkel Heinrich“, übersichtlich gegliedert in den Briefwechsel, die Äußerungen des Neffen über den Onkel, die Äußerungen des Onkels über den Neffen. Das ergibt alles in allem 300 Buchseiten und zum 60. Geburtstag am 27. März 1931 verrät Klaus Mann: „Von Heinrich Mann liebe ich jedes Wort“. Das schließt kritische Blicke nicht aus: „neben Höhepunkten stehen plötzlich Kapitel, die nur wie skizziert wirken.“ Zu den klassischen Prosabüchern Deutschlands will der Neffe auch die Essays seines Onkel zählen, „von denen ohne Übertreibung festzustellen ist, dass sie ihresgleichen in unsrem Jahrhundert suchen.“ Der etwas jüngere Neffe Golo Mann hat sich dagegen erst spät ausführlicher zu seinem Onkel geäußert, 1974. Er nahm „Ein Zeitalter wird besichtigt“ zum Anlass und tat etwas, was noch heute eher zu den seltenen Übungen im westlichen Deutschland gehört, er würdigte die Leistung zweier DDR-Germanisten bei der Erschließung: Gotthard Erler und Walter Dietze. Und stellte, man mag an die neue Ostpolitik der alten Bundesrepublik damals denken, seine zweifellos massiven Einwände gegen das vereinnahmende Nachwort von Walter Dietze hintan.

„Ein schönes Buch und höchst eigenartig. Lebenserinnerungen, Autobiographie, wie man sie gewohnt ist, das eigentlich nicht. Eher: Betrachtungen über ein Zeitalter, vermischt mit Betrachtungen über ganz andere Zeiten, mit Glaubensbekenntnissen, mit politischen Bekenntnissen, mit Porträts von Freunden, mit Erlebtem … mit fiktiven Dialogen und Monologen, die der Autor anderen in den Mund legt, obwohl sie doch seine eigenen sind, sogar mit Erzählungen.“ Neffe Golo sieht Onkel Heinrich verblüffend klar und zugleich gelassen: „Ansichten und Gesinnungen eines alten Mannes, der ein Künstler war, so schön ausgedrückte, so tiefe darunter, man nimmt sie wie sie sind.“ Das gilt auch für Wunderlichkeiten, wie Golo Mann sie nennt, von „kindlich verblendeten Texten“. Heinrich Manns Lob der Sowjetunion, sein Abwenden von Menschen, die das Lob nicht nur nicht teilten, sondern das System kritisierten, alles gehört zu ihm, man sollte es tatsächlich nehmen, wie es war. „Diese großen Geburtstage und Ehrenfeste sind doch wohl im Grunde nichts anderes als Anlässe und Vorwände, sich zu erinnern, zusammenzufassen, zu resümieren: was hat dieser, dessen Namen wir bei so vielen Gelegenheiten im Munde führen, uns, alles in allem gegeben?“ Meinte Klaus Mann und heute reden sogar Bundespräsidenten über diesen Onkel.


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