Arthur Eloesser gratuliert Roda Roda

Nähme man jene knappe und vernichtende Kritik zur Grundlage, die Arthur Eloesser 1921 einem Stück mit dem Titel „Die ersten Sporen“ widmete, könnte man sich kaum überreden, die elf Jahre später gedruckte Gratulation zum 60. Geburtstag von Alexander Roda Roda sonderlich ernst zu nehmen. Feuilletonistische Pflicht vielleicht in jenem Goethejahr 1932, das Kräfte band, auch Lese- und Kritikerkräfte des seit dem 1. April 1928 wieder offiziell an seinen alten Arbeitgeber „Vossische Zeitung“ gebundenen Eloesser. Der las in diesem Jahr mehr Goethe als sonst; ob er auch mehr Roda Roda als sonst las, kann man so oder so sehen. 1921 aber war Eloesser reiner Freiberufler, er musste sehen, wo er Aufträge bekam, nachdem er seine Tätigkeit als Dramaturg und auch Regisseur unter Victor Barnowsky aufgegeben hatte. So schrieb er unter anderem für „Das blaue Heft“, so schrieb er als Berlin-Korrespondent für die „Frankfurter Zeitung“ und, wenn sich die Gelegenheit ergab, eben auch einmal für sein altes Hausblatt, dem er von 1899 bis Herbst 1913 fest angehört hatte. Als er „Die ersten Sporen“ sah, war er, das jedenfalls legt seine Kritik nahe, nicht gerade ein vertrauter Experte in Sachen Roda Roda. Von einer Reaktion auf „Der Feldherrnhügel“, nach dem Verbot in Wien in Deutschland allein angeblich mehr als tausendmal gespielt, ist mir bisher nichts bekannt geworden, auch jene Späße, die Roda Roda gemeinsam mit Gustav Meyrink schrieb: Fehlanzeige.

Weil „Das blaue Heft“ heute als entlegene Quelle gelten darf und auch in Bibliotheken nicht ohne weiteres greifbar ist, sei hier die Kritik komplett zitiert, kurz genug ist sie: „Kenner versichern mich, dass die „Ersten Sporen“ in einer früheren Fassung „Bubi“ geheißen haben. Der sie sich in einem nächtlichen Abenteuer verdient, ist ein siebzehnjähriger Bengel, früher ein echter kleiner Graf, jetzt zum Kriegsgewinnlersöhnchen im neu erschobenen Ahnenschloss degradiert. Wenn dem so ist, müssen bei der Urfassung alle Brillanten herausgefallen sein. Unser berühmter Zeitgenosse ist auch ein erfreulicher Zeitgenosse, aber er muss wohl bei der Kleinkunst bleiben: in hundert Zeilen sehr amüsant, in drei Akten unerträglich. Ein Tatbestand, der durch eine unmäßig mäßige Besetzung – auch für Herrn Baselt gab es schon bessere Zeiten – und durch eine übermäßig zerrende, ziehende, schleppende Regie nicht verschleiert wurde. Ich bin sehr für Erotik, aber wenn der Witz sie nicht lichtet und wieder stofflos macht, wenn sie dickflüssig, schleimig, trübe am Rohstoff klebt, dann will meine Nase und mein Gemüt nichts mit ihr zu tun haben. Die geringste Pariser Bijouterie, die uns jetzt dutzendweise offeriert wird, auch die der halb edlen oder ganz unedlen Steine, hat denn doch den besseren Schliff. Und Roda Roda keinen Pli-Pli.“ Das bedeutet, je nach Nachschlage-Medium: Gewandtheit, Mutterwitz, Schliff. Man ahnt, was gemeint ist.

Arthur Eloesser hat im Gang seiner langen Kritiker-Karriere vermutlich mehr platte als leichte Unterhaltung erlebt. Man könnte nicht sagen, dass ihm auf urdeutsche Weise Unterhaltung gegen den Strich ging, kann aber sehr wohl behaupten, dass er gerade bei sehr leichter Kost nicht selten zu einem Sarkasmus im Urteil vordrang, den er sonst nicht auffällig gehäuft zu Wort kommen ließ. Roda, bleib bei deinem Kleinstkunst-Leisten, sagte er hier, so immerhin auch den anerkannten Anekdoten-Meister en passant mit würdigend. Wir wissen heute längst, dass in der Kürze nicht nur die Würze, sondern sehr oft die höhere Kunst liegt. Ein Teigstück plattwalzen, bis es aussieht wie eine Pizza für vier Personen, bedarf nur eines ordentlichen Nudelholzes, auf einer Glatze Locken drehen, wie Karl Kraus es, böse meinend, ausdrückte, ist oft die noch höhere Kunst. Und mit seiner Gratulation, gedruckt im Unterhaltungsblatt der Vossischen Zeitung, Nr. 178 Abendausgabe eben am 13. April 1932, dem rundlichen Geburtstag, liefert Eloesser geradezu vorbildlich den Beweis, dass er die höhere Kunst beherrscht. „Nun werden die jungen Leute auch schon sechzig Jahre alt. Was früher als gefürchtetes Datum galt, ist ein Ziel des Ehrgeizes geworden, und das gerade in einer Zeit, in der der Most der Jugend sich besonders absurd gebärdet. Wie reimt sich das zusammen?“ Der 1870 Geborene ernennt den nur zwei Jahre (und ein paar Tage) Jüngeren zum jungen Mann.

Das kann nur pure Ironie sein. Und so geht es weiter: „Kein Mann färbt mehr an seinen Haaren und an seinem Alter. Neulich beglückwünschte ich einen ganz Berühmten, der auch schon auf das Patriarchenalter losgeht, weil er noch kein graues Haar hätte.“ Er enthüllt das Geheimnis nicht, wen er meinte. Es muss gar keine gedruckte Gratulation gewesen sein. „Aber das ist ja gerade das Unglück, lehnte Se. Prominenz ab, so lange man nicht grau ist, sieht man nach gar nichts aus.“ Nun erst geht der Gratulant auf seinen Mann los: „Wenn ich mir unseren Freund Roda Roda so vorstelle, ich bemerke an ihm nichts graues, nicht an seinen Schläfen, nicht an seinen Schriften. Was ihn aber nicht verhindert trotzdem nach etwas auszusehen.“ Kein Hinweis, ob Eloesser Roda Roda auch persönlich kennt, wenn ja, seit wann und woher. „Der Jubilar gehört zu den Schriftstellern, die man leibhaftig kennt, die man sich auf der Straße, im Kaffeehaus, bei späterer Nachtstunde auch in der Bar zeigt, ohne dass er sich dazu frisiert oder irgendwie zurechtgemacht hätte.“ Roda Roda ist wegen seiner roten Weste berühmt: „Gewiss, er trägt die rote Weste; das ist sein Privileg, sein berechtigtes, sein unentreißbares, und selbst in einer Stadt, wo alles nachgemacht wird, hat noch keiner gewagt, sie nach ihm zu tragen.“ Roda Roda ist 1932 aber auch als Schauspieler bekannt, gleich zweimal hat er in Verfilmungen von „Der Feldherrnhügel“ mitgewirkt. Sogar im Tonfilm!

„Aber die rote Weste macht es nicht, es ist die einmalige Physiognomie des Menschen und des Schriftstellers, die unbedingte Eigenheit, die sich frei geben kann, ohne dass sie irgendwie Original zu sein versuchte. Die Erscheinung Roda Rodas hat gar nichts Absichtliches, gar nichts Angestrengtes; er scheint sich, außer für Kenner, auch als Schriftsteller nicht anzustrengen; er ist eine Natur, um mit dem anderen Jubilar Goethe zu reden, und diese Natur ist kultiviert, geformt, geschliffen, vor allem aber liebenswürdig von oben bis unten.“ Und tut scheinbar sonderbare Dinge: „Vor einigen Tagen sah ich ein Bild von ihm, nicht vor seinem Schreibtisch, nicht vor seiner Schreibmaschine, obgleich sie gewiss nicht oft still steht, sondern hoch zu Ross, sehr hoch zu Ross, indem der Gaul, um mich reiterlich auszudrücken, völlig senkrecht auf der Hinterhand stand.“ Wie das aussah, kann man sich bestens vorstellen, wenn man in der Bildbiographie „Einen Handkuss der Gnädigsten“ von Rotraut Hackermüller, die leider nach 1986 nie wieder neu aufgelegt wurde, die Seite 172 aufschlägt. Dort ist Roda Roda mit glänzendem Zylinder hoch zu Ross zu sehen, das Pferd mit bandagierten Vorderbeinen. Ob das Foto bei jenen Dreharbeiten im Tiergarten entstand, die Roda Roda später Schwiegersohn Ulrich Becher am 13. April 1932 miterlebte, kann ich mangels Beleg nicht behaupten, es ist aber denkbar. Und nun kommt Eloesser sogar auf eigene Erfahrung.

„Ich habe auch schon so gesessen, aber nicht absichtlich und ganz gewiss mit der Frage: Wie komme ich da wieder herunter?“ Auch Roda Roda musste sich bei seinem letzten Ausritt Jahre später mit einem Schemel behelfen und es hat ihn sehr getroffen. Da lebte sein Gratulant aber schon nicht mehr. 1932 aber war er noch bei guter Gesundheit und in guter Form: „Schriftsteller pflegen sonst aus einem germanischen Seminar zu kommen oder sie sind von einem Kontorschemel abgesessen. Dieser Roda Roda war ein großer Reiter, ein großer Fechter und mit Kanonen schießen hat er auch gelernt. Also alles Wesentliche, was zu einer guten Prosa gehört, Instinkt und Selbstbeherrschung, Ausfall und Deckung und das richtige Entfernungsschätzen, nicht zu kurz und nicht zu lang. Da lässt sich dann leicht Anekdoten schreiben.“ Noch immer hat Eloesser kein Werk von Roda Roda genannt. So wird es bis zum Ende des langen Einspalters bleiben, unter dem der klein gedruckte Hinweis steht, dass es am Freitag, 15. April, im „Haus der Presse“ ein Abendessen zu Ehren des Jubilars geben wird, veranstaltet vom Hauptvorstand des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller. Dessen Geschäftsführender Direktor war Eloesser von 1921 bis 1928, von 1930 bis 1932 sogar noch der Vorsitzende. Rechts neben seiner Gratulation finden sich auf dieser Seite 9 noch „Erinnerungen an Wilhelm Buch“ zu dessen 100. Geburtstag: keine schlechte Kombination.

„Der Literarischen Rang- und Quartierliste, wollte sagen dem Literaturkalender, entnehme ich, dass unser Freund in Puszta Zdenci geboren wurde. Das klingt nach Lenau, das duftet nach Heidekraut, und liegt zwischen Drau und Sau. Da hätten auch die Güter seiner Vorfahren liegen müssen, die große Magnaten, verwegene Reiter, Spieler und Frauenliebhaber waren. Ganz genau stimmt das nun nicht, aber sein Vater hat wenigstens ein großes Gut verwaltet, nachdem er Soldat und natürlich Kavallerist gewesen war. Immerhin kann er einem seiner Ahnen nachrühmen, dass er ein bedeutender Pferdedieb war. Das war zwischen Drau und Sau keine plebejische Beschäftigung, und so kommt die Biographie doch wieder in Ordnung. Wer mit Pferden aufwuchs, bleibt ein Kavalier und wenn er auch den weiten Weg von der Puszta bis zu dem zivilisierten Schöneberg zurückgelegt hat, über eine Artilleriekaserne, über die Etappen einiger Kabaretts und er soll auch im Wintergarten so unerschrocken wie zuletzt im Film aufgetreten sein.“ Eloesser gibt seine Quellen an, das ist in diesem Falle gezielte Ehrlichkeit, er scheint sich wirklich erst für sein Feuilleton belesen zu haben. Die Assoziation Lenau führt dabei insofern in die Irre, als der zwar 1802 im Königreich Ungarn geboren wurde, der Ort aber gehört zum rumänischen Banat und hat weder viel mit Puszta zu tun noch mit dem Duft von Heidekraut. Der dürfte in der Steppenlandschaft wenig verbreitet sein.

„Der Mann hat ein riesiges literarischen Gepäck von Romanen, Novellen, Theaterstücken. Aber das scheint ihn gar nicht zu beschweren; der frühere Artillerieoffizier, auch Kriegsberichterstatter auf Schauplätzen des Orients und Okzidents, lässt sich das bequem nachfahren. Roda Roda bleibt der immer neue Anekdotenerzähler. Das musste er wohl werden, aufgewachsen in einer unwahrscheinlichen Gegend, wo deutsche Schwaben, Ungarn, Walachen, Kroaten, Serben durcheinander wimmelten. Einige Jahrhunderte früher geboren, wäre er wahrscheinlich ein orientalischer Märchenerzähler gewesen, der abends am Brunnen sitzt und seine Geschichten erzählt.“ Das ist nun wieder eine sehr schöne Vorstellung, wenngleich Märchenerzähler im allgemeinen keinerlei Neigung zu Ironie aufweisen, je ursprünglichere Erzähler sie sind. „Und er hat immer noch eine neue. Eine spinnt sich aus der anderen. Am liebsten um das alte Österreich, das er liebt, ohne dass er es wieder aufbauen möchte, sein sehr selbständig gewordener Sohn, der sich vor dem Neuen nicht fürchtet.“ Arthur Eloesser kann das gut nachempfinden: auch er liebt das alte Berlin, das seine Kindheit und seine jungen Jahre prägte, ohne es wieder aufbauen zu wollen. Das Neue galt es zu nehmen, weder mit Furcht noch voreiliger Ablehnung. Bis sich im Januar 1933 alles soweit änderte, dass der Jubilar wie sein Gratulant plötzlich auf ihr Judentum reduziert wurden.

„Es gibt keinen vorurteilsloseren Menschen, es gibt auch keinen neidloseren, keinen liebenswürdigeren und hilfsbereiteren Kollegen. Ein Erfahrener, ein Weiser, der aber auch gut zu Pferde sitzt. Die Franzosen würden ihn einen Gentilhomme de lettres nennen. Dass seine beispiellose Erfindungsgabe Geist und Form hat, bewies er in Tausenden von Geschichten. Die aber auch keinen Zweifel darüber lassen, dass unter der roten Weste ein Herz schlägt, das eines Mannes, der noch ein Kind in sich spielen lässt und sich damit eine immergrüne Jugend gesichert hat.“ Seine eigene, eingangs zitierte Kritik an „Bubi“, aus dem „Die ersten Sporen“ geworden waren, hat der Kritiker nobel ausgeklammert. Vielleicht haben er und Roda Roda ja an jenem Freitag während des um 8 Uhr beginnenden Abendessens im „Haus der Presse“ oder danach sogar darüber gesprochen. Es ist nicht überliefert. „Das „Haus der Presse“ in der Tiergartenstraße 16, vormals Villa Liebermann, erbaut von Adolf Liebermann, dem Onkel des Malers, war am 15. April 1932 gerade einmal zwei Jahre im neuen Dienst. Arthur Eloesser konnte ohne sehr viel Mühe zu Fuß dahin gelangen aus der Dahlmannsstraße, Alexander Roda Roda hatte es aus der Innsbrucker Straße in Schöneberg etwas weiter. Für ihn gibt es dort eine der weißen „Berliner Gedenktafeln“ mit blauer Schrift, für Eloesser zwar keine solche Tafel, dafür aber den Margarete-und-Arthur-Eloesser-Park.


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