Mascha Kaléko. Ein Todestag

Horst Krüger hat Mascha Kaléko erst spät kennengelernt, wenige Monate vor ihrem Krebstod in Zürich am 21. Januar 1975. Sie bestritten eine Lesung zusammen, in Berlin. „Warum soll ich es verschweigen? Ich hatte von ihr kaum etwas gehört, kannte den Namen nur flüchtig – eine Zufallsbekanntschaft.“ So begann Krüger (17. September 1919 – 21.Oktober 1999) seine Erinnerung „Meine Tage mit Mascha Kaléko“. Verschwiegen hat er, ob denn sie von ihm je etwas gehört hatte. Dafür nennt er die Straße, in der sie im Hotel wohnte während ihres Besuches: die Bleibtreustraße in Charlottenburg. Dass sie dort ihre letzte deutsche Wohnung hatte, bevor sie 1938 spät, aber nicht zu spät, außer Landes gelangte, ehe das Auswandern für Juden endgültig unmöglich wurde, das wusste Krüger offenbar nicht. Dass am Haus mit der Nummer 10/11 eine der längst berühmten Berliner Gedenktafeln angebracht ist, konnte er nicht erwähnen, denn die Tafel kam erst, als die „Spötterdämmerung“ schon längst gedruckt war und Nachauflagen erlebte, in die sein Text aufgenommen ist. Krüger zeigt Kaléko das Haus seiner Kindheit im Eichkamp. Gegenüber das Haus bewohnt der Film-Experte Ulrich Gregor mit seiner Frau Erika, die Mascha Kaléko erkennt. Wie es der Zufall so will: Erika Gregor behauptet, ihr sei kurz vorher beim Reinemachen der Bibliothek einer der Gedichtbände in die Hände gefallen, nun hätte sie gern eine Widmung darin.

Das muss so stimmen, denn wer sich das ausdenkt, zieht den Verdacht schlimmer Kolportage auf sich. Warum Horst Krüger von Mascha Kalékos zweitem Ehemann, dem Vater ihres Sohnes, behauptet: „Er war ein sehr erfolgreicher Komponist für jüdische Sakral- und Volksmusik gewesen.“, entzieht sich meiner Kenntnis. Denn es stimmt nicht. Wäre es so gewesen, hätte die Dichterin in den Exiljahren in den USA und später in Israel nicht solche Schwierigkeiten gehabt. Krüger war mit Kaléko auch am Kleist-Grab, am Haus der Wannsee-Konferenz offenbar nicht. Dafür schrieb 15 Jahre früher, just an meinem sechsten Geburtstag, Martin Heidegger einen Brief an sie, in dem er um ein Foto bat. Diese Information fehlt in nahezu keiner gedruckten Äußerung zu Kaléko, wohl aus dem sicheren Wissen heraus, dass zumindest im deutschen Feuilleton jede Erwähnung Heideggers den Speichelfluss der Redakteure anregt und sei es nur zu mehrspaltiger kritischer Spät-Besinnung. Immer dabei sind auch die Namen Tucholsky und Kästner, oft dazu noch Ringelnatz. Und weil Hermann Hesse im schwedischen „Bonniers Litterära Magasin“ Stockholm im Januar 1936 sich sehr freundlich zu „Das lyrische Stenogrammheft“ und „Kleines Lesebuch“ äußerte, gehört auch er zu den Gewährsmännern, die in diesem Falle auch tatsächlich durchweg Männer waren. Sieht man die alten Fotos Mascha Kalékos mit dem Mündchen, ahnt man, warum.

Ähnlich kennt man Elisabeth Bergner, ähnlich kennt man Irmgard Keun, die sich übrigens auch fünf Jahre jünger gemacht hatte: wie Kaléko. Das falsche Geburtsjahr 1912 bot noch der Verlag der Nation Berlin in seiner 1979 erschienen Sammlung „Das Herz auf der Zunge“. Das „Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller“ in zwei Bänden, ebenfalls DDR, kannte den Namen Kaléko gar nicht. Doch da soll niemand mit spitzem Finger auf das verschwundene kleine Land zeigen. Denn neun Professorinnen und drei Professoren verhinderten nicht, dass in dem pseudo-repräsentativen Suhrkamp-Band „Schreibende Frauen“ der Name Kaléko ebenso fehlt wie die Namen von Irmgard Keun und Gina Kaus, um drei mit K zu nennen, es fehlen auch, unsagbare Schande, Ricarda Huch, Annette Kolb, Vicky Baum und Gabriele Tergit. Dafür gibt es Rosita Ionescu, die zur Strafe aber gleich wieder im Register zu Rita Ionescu gemacht wird. Philologie stand früher für peinliche Vollständigkeitssucht und penible Akribie. Wann war das eigentlich? Der Bruch mit dem Rowohlt-Verlag hat, entnehme ich meinem Archiv, unter anderem mit Wolfgang Weyrauch zu tun, den die Kaléko-Gedichte wenig begeisterten. So etwas kommt vor. All die modischen Lyriker der 50er und 60er Jahre, der höchster Ehrgeiz Schwerstverständlichkeit war, konnten freilich mit einer Frau, die auch über Damenstrümpfe schrieb, nichts anfangen, die Begleit-Professoren noch weniger.

Mascha Kaléko schrieb ihr Werk mit Sicherheit nicht in der Absicht, in die Geschichte der deutschen Lyrik einzugehen. Die Lyrikhistoriker zahlen es ihr heim. Weder Ralf Schnell im Band 5 der Stuttgarter Reclam-Lyrikgeschichte noch Hermann Korte in Band 6 erwähnen ihren Namen auch nur ein einziges Mal. Geschweige denn ein Gedicht von ihr. Dafür sind in „50 Gedichte der Neuen Sachlichkeit“, ebenfalls Reclam Stuttgart, immerhin fünf von Kaléko, also zehn Prozent. Sie findet sich in den Kapiteln „Persönliches und Programmatisches“, „Lyrische Großstadtszenen“, „Neue Frauen“, „Sachliche Romanzen“ sowie „Politische Diagnosen und Appelle“. Herausgeberin Gabriele Sander, deren Döblin-Buch (Reclam Stuttgart 2001, Band 17632) ich in guter Erinnerung habe, hat damit sicher absichtsvoll ein auffällig breites Themenfeld der Kaléko-Lyrik abgesteckt. Vermutlich wäre sie nicht auf die Idee gekommen zu behaupten, Kalékos Bücher seien 1933 der Bücherverbrennung zum Opfer gefallen. Dennoch haben durchaus ernst genommen werden wollende Autoren das in die Welt gesetzt, namentlich Rolf-Bernhard Essig, der es im März 2000 für literaturkritik.de schrieb und mindestens Deutschlandradio hielt die Falschmeldung noch sechs Jahre später aufrecht in seinem Lyrik-Kalender. Als Essig 2007 für die Hamburger „Zeit“ über Kaléko schrieb, ließ er den Scheiterhaufen weg, sprach dafür Jutta Rosenkranz jeden Esprit ab.

Die Kaléko-Biografin wird es verkraftet haben, Esprit ist weniger verbreitet, als man vermuten sollte. Humor, Ironie und gar Selbstironie, alles vielfach attestiert für das Werk, sind dagegen in der Lyrik, die aufs Geschichtsbuch schielt, selten wie ein Wombat am Rennsteig. Der dicke Kurt Tucholsky bescheinigte dereinst Irmgard Keun den Humor eines dicken Mannes. Denn den kannte er gut. Er hätte ihn auch Mascha Kaléko ins Stammbuch schreiben können, wobei er sie eher aus der Vossischen Zeitung oder anderen Blättern gekannt haben muss, denn für die Weltbühne hat sie nur ein einziges Mal geschrieben: in der Ausgabe vom 24. Juni 1930 steht auf Seite 974 das Gedicht „Kassen-Patienten“. Das könnte fast von der ersten bis zur letzten Zeile auch heute geschrieben sein. Rilke oder Stefan George wären sicher nie auf die Idee gekommen, dergleichen zu Versen zu machen. Umgekehrt aber auch. Das ergibt in Summe eine doch wirklich schöne Geschichte der deutschen Lyrik, man müsste nur aufhören, sie als eine Abfolge von Avantgarden zu deuten. Neben dem Matterhorn gibt es reihenweise kleinere Gipfel und fast jede Erstbesteigung lockt Nachfolger, selten heißt: der lohnt nicht, man guckt auch nur nach unten von oben. Für Hermann Hesse war es ein Stück romantische Tradition, was er las, damit kannte er sich aus, seine eigene Entwicklung um die Jahrhundertwende lugt aus der Schublade Neuromantik heraus, weit eher gelesen als gelobt.

Eine Autorin, deren Namen ich nicht nenne, schrieb im Oktober 2008, es sei fast 100 Jahre her, dass sie geboren wurde. Dann zählte sie exakt die fünf Namen auf, die immer als Bewunderer der Kaléko genannt werden, Heidegger fehlt bei ihr, und schließt: „... wollte ich alle aufzählen, käme ich nicht mehr zu den Versen“. Nur die nächsten drei hätten mich interessiert, dann wäre auch ich zu den Versen übergegangen. Ruth Klüger blieb es vorbehalten, die entscheidende Frage zu formulieren, als sie 2012 „Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden“ für die „Zeit“ besprach: „Warum werden Autorinnen so oft im Schatten von Autoren gesehen, wie zur Legitimierung, als seien sie Kinder, die sich an einer männlichen Hand festhalten müssen?“ Klüger schrieb das unmittelbar hinter dem Namen Erich Kästner und in Klammern. Sie wusste natürlich auch, dass im „Romanischen Café“ überwiegend Männer saßen, obwohl draußen kein Schild hing: Frauen unerwünscht. Damals begann nach außen gekrempelte Emanzipation mit langen Zigarettenspitzen und dem Rauchen im Freien. Klüger ergänzt auch die meist nur erwähnte Geschichte mit dem von Kaléko abgelehnten Fontane-Preis. Sie nennt nicht nur Hans Egon Holthusen als den Grund, sie weist auf einen von Buttlar, der sich „nicht entblödete“. Herbert von Buttlar (12. Oktober 1912 – 24. Juni 1976) war eine der vielen großen Peinlichkeiten der guten alten Bundesrepublik.

Seine Entgleisung schaffte es bis zu Wikipedia. Ruth Klüger zum Schluss: „Diese Gesamtausgabe sollte wesentlich dazu beitragen, nicht nur neue Leser und Leserinnen für sie zu gewinnen, sondern auch der Literaturwissenschaft, von der sie lange schmählich vernachlässigt wurde und die sich erst in den letzten Jahren um sie bemüht, mit neuen Forschungsmöglichkeiten auf die Sprünge zu helfen.“ Ich gehe davon aus, dass sie nur kurzzeitig vergaß, dass Gesamtausgaben es gerade nicht sind, die neue Leser gewinnen: sie sind teuer, sie enthalten Sachen, für die sich neue Leser kaum interessieren werden, sie bilden bestenfalls die Basis für kleine Neuzusammenstellungen, die dann auch durchaus von Männern gelobt werden dürfen. Astrid Diepes verwandelte anlässlich des 110. Geburtstages von Kaléko im Reiseteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung im Schwung der Begeisterung über einen Novemberbrief das berühmte „Romanische Café“ in Berlin in ein „Römisches Café“, da stirbt die Neugier auf alles Weitere bereits am Ende der ersten Spalte. Zum Glück schrieb 2012 auch Elke Schmitter über Kaléko, im „Spiegel“, der 2007 noch Susanne Beyer ins Rennen geschickt hatte. Schmitter: „Sie wird seit Jahrzehnten wiederentdeckt.“ Ähnlich schon die „Literarische Welt“ 2004: „In der Tat ist Mascha Kaléko die wahrscheinlich am meisten wiederentdeckte und anschließend gleich wieder vergessene deutsche Lyrikerin.“ Warum nicht?

Einen „herzzerreißend würdevollen Brief“ nennt Schmitter das Schreiben, mit dem Kaléko auf den Fontane-Preis verzichtet: „In gespenstisch rasanter Weise schwindet von da an Kalékos Erfolg.“ So gespenstisch ist das gar nicht, wenn man sieht, wie viel der ehemalige SS-Mann Holthusen noch nach 1945 publizierte und offenbar weitgehend unangefochten. Auch ich habe ihn gelegentlich zitiert, das verbietet sich eben gerade nicht von selbst. 2007 ist natürlich auch Marcel Reich-Ranicki nach Kaléko befragt worden. Er nennt wie alle Ringelnatz, Tucholsky und Kästner, hat aber zusätzlich auch Morgenstern parat. Und wie fast immer die griffigen Sätze: „Ihre Gedichte machen es den Kritikern schwer und den Lesern immer leicht.“ „Die Ursache des verblüffenden Erfolgs dieser Lyrik ist ihre authentische Naivität.“ Und auch ein Griff daneben: „Die junge Kaléko wurde die einzige Frau unter den Autoren der Neuen Sachlichkeit.“ Nein, wurde sie nicht. Wer Edda Zieglers „Verboten – verfemt – vertrieben“ zur Hand nimmt (dtv 2010), findet einen passenden Namen gleich auf der nächsten Seite nach Kaléko: Irmgard Keun. Ich nenne den Namen nicht nur, weil sich ihre Tochter einmal bei mir für eine Arbeit über ihre Mutter sehr bedankte. Ich zitiere zum Schluss Mascha Kaléko selbst: „Bei schönem Wetter reise ich ein Stück / Per Bleistift auf der bunten Länderkarte / - An stillen Regentagen aber warte / Ich manchmal auf das sogenannte Glück.“


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