Falscher Rabe, trockner Teich

Mein Balkon ist keiner, von dem aus ich eine Rede an mein Volk halten könnte. Denn erstens ist unten kein Platz für ein Volk, zweitens müsste ich brüllen wie Frank-Walter Steinmeier als Schröder-Stimmen-Imitator, denn mein Balkon liegt drei Treppen hoch. Aber ich habe einen Feldherrenblick. Ich sehe den täglich grüßenden kahlen Lindenberg, dessen zarte Neubegrünung nach dem Kyrill-Angriff noch lange nicht schritthält mit der gesamtdeutschen Politik-Begrünung. Wenn ich den Kopf leicht nach rechts wende, erblicke ich schwarze Objekte, die ich für Vögel hielt, denn sie sehen aus wie Vögel, haben einen Schwanz und einen Schnabel und ihre Farbe, nun ja, ist so schwarz, wie eben die sprichwörtlichen Raben sind.

Ich habe, das beweist meine im Altersfortschritt länger werdende Leitung, ein Weilchen gebraucht, bis mir auffiel, dass diese Vögel eine ungewöhnliche Standorttreue zeigten, man könnte sagen, sie verharrten an ihrem Platz in einem Grad von Regungslosigkeit, die hart an das Dasein von Statuen erinnerten. Dann aber durchfuhr mich die Erkenntnis wie ein Blitz: Das sind gar keine echten Raben, das sind Kunst-Raben, die auf eine Abschreckungswirkung hin platziert wurden vom Eigentümer des Sechsstöckers. Sie sollen, vermute ich, den Angriff der Killer-Tauben abwehren oder den Mauerseglern zeigen, wo der kommunale Vermieter-Hammer hängt. Kaum einmal in dieses selbst gewonnene wissensnahe Ahnen verliebt, entdeckte ich, dass nicht nur die beiden Falschraben, denen meine Aufmerksamkeit traditionell galt, wenn ich mein Duschtuch zum Trocknen auf den Balkon hängte, da waren. Zwei weitere baumelten bewegungsimitatorisch am Dachrand und eine dritte sitzt am anderen Ende des Blockes.

Was der weiten Welt nur bedeuten kann: Man lebt auf dieser Pörlitzer Höhe in einem Entdeckerland. Man kennt nicht nur die, die ihre Hundescheiße traditionell aufheben mit Plastiktüte überm Händchen, und die, die sie liegen lassen, man kennt nicht nur den Mann mit Migrationshintergrund, der einem alle zwei Tage ein Visitenkärtchen ans Auto steckt, damit man weiß, wem man sein Gefährt verscherbeln kann, so man es denn verscherbeln will zugunsten der weiten Automärkte Osteuropas, man kennt eben auch den Überraschungseffekt.

Die regionalen Tageszeitungen haben den Menschen, unseren Menschen, wie der Wohngebietsparteisekretär sagen würde, noch nicht erklärt, warum gegenüber des Sportplatzes an der Unterpörlitzer Straße das große Teichaustrocknen angesagt ist. Biotopgefährdung ist normalerweise ein Thema für eine Schlagzeile, an der man ein paar Tage nuckeln könnte. Müsste aber eben einer da lang fahren oder laufen. Und, die veröffentlichte Soziologie des Wutbürgers hat uns darüber belehrt, das ist unwahrscheinlich, weil der Wutbürger ein Besserverdienender ist und also hier nicht wohnt. Journalisten selbst wohnen auch nicht mehr in Plattenbauten, manche haben nachwendlich schon zwei Eigenheime errichtet. Die meisten haben dabei keinen Balkon gewonnen, von dem aus sie wirklich etwas sehen.


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