Matthias Biskupek wieder einmal

Plötzlich und unerwartet, für mich alle viel zu früh, lese ich Matthias Biskupek. Also: lese ich wieder Matthias Biskupek. Also: lese ich wieder einmal Matthias Biskupek. Jetzt ist es hinreichend zutreffend gesagt. Eigentlich lese ich, meiner seltsamen Gewohnheit folgend, in „Romane von gestern heute gelesen“, im dritten Band mittlerweile schon, alle drei standen lange eher wie die üblichen Nachschlagewerke herum, ehe ich beschloss, sie nunmehr systematisch von vorn nach hinten und in ordentlicher Reihenfolge zu lesen. Herausgegeben hat diese drei Bände Marcel Reich-Ranicki, dem ich ausdauernd anhänge, die Beiträge standen zuerst im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und sie gaben, will ich heute meinen, einigen der Verfasser sehr willkommenen Gelegenheiten zu einer Nebeneinnahme. Biskupek nannte dergleichen immer Mugge, als wir noch miteinander sprachen bei jedem sich bietenden Zusammentreffen. Ich las also ausgerechnet heute reichlich sechs Seiten von Walter Hinck über „Wolf unter Wölfen“ von Hans Fallada, der, wie wir alle wissen, eigentlich Rudolf Ditzen hieß, Rudolf Wilhelm Friedrich Ditzen. Am 5. Februar hatten wir seinen 75. Todestag als Erinnerungsanlass, den er nicht mehr braucht.

Walter Hinck (8. März 1922 – 21. August 2015) ist nicht nur sehr alt geworden, er hat auch eine ziemliche Menge Bücher veröffentlicht, von denen ich etwas mehr als zehn besitze, in denen ich auch tatsächlich angelegentlich lese. Sein 100. Geburtstag ist wie fast alles im Ukraine-Krieg untergegangen, über die Abberufung des ukrainischen Botschafters Melnik kann er sich nicht mehr freuen. Vielleicht hätte er sich auch gar nicht gefreut. In Deutschland haben viele über die Nähe zu Stepan Bandera großzügigst hinweg geschaut, kein Deutscher mit seiner Vita hätte auch nur in eine einzige Talk-Show gefunden. Man legt keine Blumen an Gräbern von radikalen Antisemiten nieder in Deutschland, es sei man ist Botschafter eines Landes, in dem Bandera Helden-Status genießt. Hinck leitete mich zu den Herren Hans Sarkowitz (1955 geboren) und Alf Mentzer (1966) geboren, deren biografisches Lexikon „Literatur in Nazi-Deutschland“, im Europa Verlag in erweiterter Neuausgabe gedruckt, ich parallel gerade zum dritten Band nahezu täglich nutze, nur noch nicht systematisch von vorn und der Reihe nach, sondern entsprechend den eben aktuellen Namen. Heute also Fallada, morgen Joachim Klepper. Ich staunte über die Einnahmen Falladas von 1939 bis 1942.

Und dann, dann, plötzlich und unerwartet eben, fiel mir Matthias Biskupek ein, der als sein Vermächtnis, könnte man sagen, das Buch „Das literarische Rudolstadt“ noch fertig gestellt hatte, ehe er seinem schlimmen Leiden erlag. Das Buch ist derart solide und aufwendig hergestellt, man kann es kaum aufschlagen, so fest ist seine Bindung, aber dafür bricht solch ein Buchrücken eben nicht wie reihenweise Buchrücken aus den renommiertesten Verlagen. Soweit sie Taschenbücher auf den Markt bringen. Das Buch hat einen Wert, den ich vielleicht nur allein empfinde: Detlev Ignasiak muss es nicht mehr schreiben. Das Reihenkonzept der „Rudolstädter Schriften“ stammt von Jens Henkel, den mit Biskupek nicht nur das Büchermachen verband, die Koordinierung lag in den Händen von Petra Rottschalk, die im Verein mit dem Verleger Christoph Links und dem Schauspieler Marcus Ostberg auch mir einmal ein nettes Rudolstadt-Erlebnis verschaffte, als es galt, mein Buch „Kulturschock NVA“ zu promoten. Zehn Jahre ist das bald her, also kein Effekt mehr zur erwarten aus dieser Schleichwerbung. Zum literarischen Rudolstadt aber, das weiß ich noch von Biskupek selbst, gehörte für kurze Zeit auch Fallada, noch unliterarisch freilich 1911.

Also nahm ich das roséfarbene Buch aus dem Regal zu meiner Rechten, wo es quer über diversen weiteren Biskupek-Titeln liegt, die stehen und ein weiteres, das liegt, vor Staub schützt. Es heißt „Die Blütenlese“, was ein äußerst doppeldeutiger Titel ist. Mein Exemplar trägt die Nummer 79 und ist als solche mit Bleistift signiert. Als ich „Das literarische Rudolstadt“ kaufte, schenken konnte es der Autor mir nicht mehr, er hatte an anderes zu denken als ausgerechnet den ehemaligen Freund, den er sich in seinem späten Denken zum Feind ausgebaut hatte, ohne Not und mehr sehr wenig Grund. Ich las also das gut illustrierte Kapitel „Das Duell am Uhufelsen. Hans Fallada in Rudolstadt“ und da ich Biskupeks Radio-Feature von 2011 nicht kannte als alter Radio-Muffel, was auch in guten Zeiten nie sein Verständnis fand, war das in Sachen Fallada für mich fast purer Informationsgewinn. Und, das will ich gern gestehen: ich war angetan von der Art, wie es geschrieben ist. Nur ein winziger Rückfall in seine vor allem im Tagebuch gepflegten nervigen Wortwitzigkeiten, von denen er nicht lassen konnte (Facebook war ihm ausdauernd Fatzkebuch), worüber vermutlich nicht einmal er selbst lachen konnte. Jetzt nur gediegene Sachlichkeit.

Dennoch kann der Kenner seinen Biskupek erkennen. Der seine Erfahrungen nicht verschweigt: „Bei Schriftstellern ist manchmal „eener dem andern sei Deibel“, liest man gleich auf der ersten Seite zu Fallada. „Aber Fallada ist ein Schriftsteller, der sich auch seinen Lebenslauf baut.“ Auch hier wusste Biskupek, was er schrieb. Manchen seiner eigenen Bausteine habe ich kritisiert, alles, was ich immer wieder kritisierte, ist nach seinem Tod von seiner Webseite getilgt worden, auch seine WIKIPEDIA-Seite enthielt plötzlich nichts mehr von dem, wozu ich ihn mit Nachfragen genervt hatte. Natürlich gehe ich nicht so weit, mir das als spätes Verdienst zuzuschreiben. Immerhin fand ich nach seinem Tod in seinem Internet-Tagebuch eine Passage, die man mit etwas Mühe als Andeutung eines Versöhnungswunsches seinerseits hätte deuten können. Vielleicht wäre ich darauf sogar eingegangen, wenn ich es gelesen hätte, als er es ins Netz stellte. „Hinter den Kulissen geht es, wie oft im Theater, anders zu.“ Auch da kannte sich Biskupek bestens aus. Dass er Vorsitzender des Fördervereins seines Rudolstädter Theaters war und ohne Hemmung dennoch Premieren-Kritiken schrieb, verteidigte er mir gegenüber geradezu verbissen, für mich ein No-Go.

Das Buch hat hinten ein Personen-Register von größter Gediegenheit: dreizehn Druckseiten voller Namen und Lebensdaten, so weit sie zu ermitteln waren. Davor auch ein Literaturverzeichnis, das manchem vermeintlich wissenschaftlichen Buch alle Ehre machen würde. Sechsmal nennt sich Biskupek dabei selbst, das ist keineswegs unbescheiden, denn gerade die üblichen Philologen nutzen jede Gelegenheit, noch ihre entlegensten Publikationen so wenigstens ihrer Bibliographie einzuverleiben. Nur aus diesem Literaturverzeichnis weiß ich zum Beispiel, wann die Erstsendung des erwähnten Radio-Features war, am 17. Oktober 2011, fünf Tage vor seinem 61. Geburtstag. Wie er sie gestaltete, mit O-Tönen etwa, kenne ich auch, weil ich selbst einmal O-Töne zu liefern hatte für ihn, nachdem er mich fragte, ob ich es tun würde. So sprach ich im Rahmen eines Beitrags über Residenz-Städte irgendetwas über Ilmenau, das keine Residenz-Stadt war, niemals. Was ich sagte, weiß ich natürlich nicht mehr, vielleicht war es auch ein anderes Thema, Biskupek saß jedenfalls mit Mikro und Aufnahmegerät in meiner Wohnung. „Zu diesem Autor werden Ende der 70er Jahre in den Archiven auf der Heidecksburg gleich zwei Chronisten fündig.“ Steht im Buch.

Dann kommen zwei Sätze, die ich mir ausdauernd auf der Zunge zergehen lasse: „Der eine heißt Dr. Tom Crepon und veröffentlicht 1978 im Mitteldeutschen Verlag „Leben und Tode des Hans Fallada“. Der andere ist Werner Liersch: Er überschreibt das erste Kapitel von „Hans Fallada. Sein großes kleines Leben“ (1982 Verlag Neues Leben Berlin): „Aus ordentlichem Haus ein unordentlicher Mensch“. Der Crepon verstaubt bei mir hinter den sichtbaren Büchern von Fallada, eine lieblos gemachte Broschur. Interessant ist mir die Nuance: der eine heißt, der andere ist, den Doktor-Titel erwähnt man üblicherweise bei Autoren eher nicht, bei Biskupek aber war es, eine Wette darauf hat freilich keinen Sinn mehr, eine Aversion. Vielleicht sogar ein Komplex. Auch bezüglich Werner Liersch hatten wir Differenzen, wenn auch weniger heftige. Mir war einer, der in seinem Buch „Dichters Ort. Ein literarischer Reiseführer“ (Greifenverlag Rudolstadt 1985) Erwin Strittmatter ignorierte (oder schlicht vergaß?), ihn dann in „Dichterland Brandenburg“ (Artemis & Winkler 2004) kooptierte, um schließlich 2008 über ihn herzufallen wie ein Ein-Mann-Rudel (SS-Vergangenheit, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung), schlicht und ergreifend suspekt.

Biskupek hat seinen Liersch mir gegenüber immer verteidigt, selbst wo er meinen Argumenten mit Verständnis begegnete. „... ein äußerlich spannungsloses Schriftstellerleben hat gelegentlich Mörderisches zu bieten“, schreibt er in seinem Fallada-Kapitel. Aus dem ich erfahre, dass es auch Rudolstädter Gründe gibt, das Fallada-Museum in Carwitz aufzusuchen. Denn dorthin gelangte, was man wohl Effekten nennt in Kriminalfällen, etwa eine Kugel mit Blutanhaftungen. Professor Börnes Alberich würde vermutlich noch so viel DNA extrahieren können, dass die Herkunft des Blutes Herrn Rudolf Ditzen eindeutig zuzuordnen wäre, falls irgendwo Vergleichsmaterial aufgetrieben werden könnte. Schiller und Goethe kommen natürlich auch vor in „Das literarische Rudolstadt“ und das Kapitel „Inge und Dorchen – ein Ehe-Ausbruch“, dessen Substanz mir der Verfasser einst mitteilte, lange bevor er es verfasste, werde ich wohl lesen, wenn es sich ergibt. Zu Inge schrieb ich selbst, am 1. Juli war es genau zehn Jahre her, dass ich „Der goldene Turm“ ins Netz stellte. „Rudolstadt bleibt eine bittere, eine einschneidende Episode.“ Resümiert Biskupek bezüglich Fallada. Und hat am Ende auch Johannes R. Becher ein bisschen mit verarbeitet.


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