H. H. Houben: Der polizeiwidrige Goethe
1990 veröffentlichte der Leipziger Verlag Philipp Reclam jun. in seiner Universal-Bibliothek ein recht umfangreiches Werk eines bis dahin wohl bestenfalls Eingeweihten bekannten Mannes namens Heinrich Hubert Houben. Es war der Band 1340, der Preis zwar schon in D-Mark, aber noch in der alten Größenordnung des gestützten Preissystems der DDR: 3,50 Mark für fast 500 Buchseiten mit solidem Literaturverzeichnis und einem Nachwort von Günter de Bruyn. Heute würden wir Versandkosten in dieser Höhe in Euro bezahlen. Mein aktueller Preistest: das 35 Jahre alte Reclam-Buch von 5 Euro bis 13,30 Euro, Versandkosten von 2,80 bis 6,50 Euro im Angebot verschiedener Antiquariate. Der Buch-Jahrgang 1990 war in der Noch-DDR (bis zum 2. Oktober) nicht nur der letzte nach weitgehend altem System, er wurde auch ein verlorener Jahrgang. Fast niemand mehr wollte vermeintliche oder tatsächliche DDR-Bücher lesen. Wer sich des rasanten Kahlschlags in Buchhandlungen und Bibliotheken erinnert, weil er alt genug war, die Tragweite des Geschehens zu erkennen, erinnert sich noch eigenen Schauderns. Nicht die Bibliothek Suhrkamp füllte die Regal neu, sondern Heyne, Bastei, Ullstein, nicht Musil, Kafka, Adorno oder Heimito von Doderer kamen. Man grapschte nach Konsalik und nannte ihn nicht den Harry Thürk des Westens.
Dennoch, wenigstens einigen Kritikern fiel der Houben, der zu spät kam, in die Hände. Manfred Nöbel zum Beispiel, viele Jahre für den Henschelverlag Kunst und Gesellschaft Berlin tätig, ließ im Sonntag, der Wochenzeitung des Kulturbundes, für die auch ich einige Jahre arbeitete, eine Kritik drucken, die streng genommen keine war, aber die Zeit sehr genau spiegelte. Nöbel schrieb fast kein Wort zu dem, was in Houbens beiden für Reclam zu einem Buch zusammengebundenen Titeln zu lesen war, widmete dafür aber dem Nachwort von de Bruyn einigen Platz und einer eigenen Klage über DDR-Zensur, die er aber so vage hielt, dass man mit dem Schaffen des Kritikers vertraut sein musste, um zu wissen, was er meinte. Es kann sich bei dem Fall, den Nöbel schildert, nur um das 1970 bei Henschel erschienene Buch von Bernhard Reich „Im Wettlauf mit der Zeit“ handeln, Untertitel „Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten deutscher Theatergeschichte.“ Nöbel fand es seltsam, dass ein Satz die Hauszensur passierte, ein anderer gestrichen wurde. Doch war es in der DDR ja, Uralte erinnern sich, ein Glaubenssatz, dass der Mensch im Mittelpunkt stehe und der Witz, der sich an diesen Glaubenssatz knüpfte, hieß: Nur nicht der Einzelne. Also stand die nicht beanstandete Aussage über ein mögliches Scheitern des Kommunismus in keinem Bezug zu seiner Realexistenz.
Manfred Nöbels zwei Spalten mit der hübschen Schlussthese waren passenderweise am 17. Juni 1990 zu lesen, sie lautete: „So gesehen werden Bücher durch Zensur erst schön …“. Ärgerlich bleibt für die Nachwelt, dass in aller Regel keine Korrektur vorgenommen wird an Streichungen. Die Erinnerungen von Bernhard Reich (20. Juni 1894 – 10. Mai 1972) wird vermutlich niemand so schnell neu auflegen, die gestrichenen Stellen werden also bis auf weiteres geheim bleiben, es sei denn, jemand mache sich auf die Suche in den Jahren 1925 und 1926, wo sich die Originale seiner Äußerungen finden könnten. Manfred Nöbel nannte 1990 nicht einmal den zweiten Houben-Titel des Reclam-Buches: „Der gefesselte Biedermeier“, auch Redakteure waren 1990 in den Ressorts von neuer Großzügigkeit befallen. Interessant ist, dass Neues Deutschland sich noch Monate Zeit gönnte, ehe es seine Kritik erscheinen ließ, die Autorin hieß Ursula Püschel. Manche ihrer Wendungen sind vor allem deshalb interessant, weil sie am 30. Oktober 1990 zu lesen waren, als die DDR bereits zum geschlossenen Sammelgebiet geworden war. Püschel attestiert Houben, er schreibe erstaunlich bildkräftig: „Wer einen trockenen Stil erwartet, wird angenehm enttäuscht.“ Und sie wagt eine dann doch schon billige Verallgemeinerung, die keinerlei Mut mehr benötigte.
„Zensur ist sinnlos auf die Dauer, das ist für alle zu nahezu jeder Zeit ersichtlich, und doch und immer wieder wird sie beibehalten.“ Eher skeptisch liest sie, was de Bruyn schrieb, zitiert dafür lieber Brecht aus dem Jahr 1951, der Grenzen der Kunstfreiheit definierte und nimmt aus dem Nachwort nur zwei Behauptungen de Bruyns: „Ein Ende der Bücherzensur wird es erst geben, wenn Bücher keine Rolle mehr spielen, … das Bücherlesen wird freier, weil es elitärer, also seltener wird.“ Optimismus war Ende Oktober 1990 keine Staatsdoktrin mehr wie zuvor, Intellektuelle durften nun unbehindert trübe Aussichten formulieren. Dass Ursula Püschel jedoch keinen eigenen Satz zur Zensur in der DDR niederschrieb, muss nicht mit ihrer Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit zusammenhängen. Sie war eigenem Bekenntnis nach selbst ohne Verpflichtung zur Zusammenarbeit bereit, ihre diesbezügliche diskontinuierliche Tätigkeit ist gut dokumentiert. Dass ausgerechnet einer der Allergrößten Zensur keineswegs als sinnlos auf Dauer ansah, hätte Püschel auch ohne H. H. Houben wissen können. Mit seinem 1932 erschienenen Buch „Der polizeiwidrige Goethe“ wäre solches Wissen auf sichere Füße gestellt, gerade dieses Buch scheint Püschel aber nie begegnet zu sein, fand sie doch auch die beiden älteren nur in speziellen Bibliotheken ihr zugängig.
1932, es ist aus gutem Grund darauf hinzuweisen, war das erste große Goethe-Jahr der deutschen Geschichte. Während der 100. Geburtstag von Schiller 1859 ein nationales Großereignis war, der 100. Todestag 1905 zum Schiller-Jahr geriet wie 1909 das Jahr des 150. Geburtstages, wurden weder das Jahr 1849 noch 1899 auch nur annähernd zu solchen Ereignissen in Bezug auf Goethe. Wohl wuchs die Goethe-Literatur kontinuierlich an, die Freunde seines Werkes konnten sich in der Halbmonatsschrift „Das literarische Echo“ beispielsweise in regelmäßigen Abständen summarisch darüber informieren. Es war Georg Witkowski (11. September 1863 – 21. September 1939), der die Überblicksarbeit leistete. Auch er legte übrigens 1932 ein Goethe-Buch vor: „Das Leben Goethes“, 498 Seiten stark, Verlag Knaur Nachfolger Berlin. Und hatte einen „Goethe“ bereits 1899 drucken lassen, der bis 1923 in zwei weiteren, jeweils veränderten Auflagen erschien, „Cornelia, die Schwester Goethes“ folgte 1903. Houben aber trat 1924 und 1928 mit einem zweibändigen Werk an die Öffentlichkeit, das man guten Gewissens sein Opus Magnum nennen kann: „Verbotene Literatur von der klassischen Zeit bis zur Gegenwart“, Untertitel „Ein kritisch-historisches Lexikon über verbotene Bücher, Zeitschriften und Theaterstücke, Schriftsteller und Verleger“ (Rowohlt Berlin).
Die beiden Bände enthalten Kapitel zu Johann Gottlieb Fichte und Theodor Mundt, die gut und gern hätten eigene Bücher werden können, auch Schiller ist vertreten, Heine und Heinrich Laube. Aber ein Name fehlt auffallend: Goethe. Nicht einmal das Gesamtregister für beide Bände, die übrigens 1992 im Georg Olms Verlag Hildesheim Zürich New York vorbildlich neu gedruckt wurden, kennt diesen Namen. Das kann, wer „Der polizeiwidrige Goethe“ gelesen hat, nur so deuten, dass Houben sehr lange schon dem Plan folgte, Goethe aus dem Gesamtwerk zu separieren, ihm einen eigenen Band innerhalb des Groß-Themas zu widmen. Nicht auszuschließen ist auch, dass die umfänglichen Archiv-Recherchen, die nötig waren, viel mehr Zeit in Anspruch nahmen und das Projekt der beiden großen Bände des Nachschlagewerkes unnötig verzögert hätten, lagen doch zwischen Band I und Band II auch so schon vier Jahre, verglichen mit Goethe selbst bei wichtigen Werken aber noch immer kurze Abstände. 1932 endlich knapp 200 Seiten zum Thema Goethe und die Zensur, und nicht alle 16 Kapitel bedienen das Thema in gleicher Weise. Den Buchtitel könnte man sogar völlig in Frage stellen, denn öfter als polizeiwidrig waren verschiedene Goethe-Werke kirchenwidrig, sittenwidrig, obrigkeitswidrig. Wie auch immer, Polizei trat kaum jemals eigenverantwortlich auf.
Die Idee, „Der polizeiwidrige Goethe“ mit einem Kapitel „Das Buch auf dem Scheiterhaufen“ zu eröffnen, ist verblüffend nahe liegend. Denn der Scheiterhaufen für Bücher ist sicher die Form obrigkeitlichen Umgangs mit Druckwerken, die auch für eine größere Öffentlichkeit drastische Wirkungen anstrebte und sicher nicht selten erzielt hat. Zudem war Goethe, die Leser seiner Lebenserinnerungen „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“ erinnern sich womöglich, in jungen Jahren einmal selbst Zeuge eines solchen Ereignisses. Houben, der irritierend hartnäckig den Titel in „Wahrheit und Dichtung“ umdreht, hat sich die löbliche Mühe gemacht zu recherchieren, welcher Bücherverbrennung Goethe nun tatsächlich beiwohnte. Das Buch, an das sich der späte Autobiograph zu erinnern glaubte, konnte es aus dem einfachen Grund nicht sein, weil Goethe da gar nicht in Frankfurt war, sondern Student in Leipzig. Was er mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit als Augenzeuge erlebte, war die Verbrennung vom 18. November 1758, Goethe da neun Jahre alt. Verbrannt wurden vier Schriften eines Johann Friedrich Ludwig, Posamentier, der offenbar nicht identisch war mit dem in Portugal hochgeehrten Mann gleichen Namens, denn der starb bereits 1752, konnte also 1758 schlechterdings nicht verhaftet und dann bald wieder freigelassen werden.
Solch ein Eingangskapitel kann gelesen werden als Beschreibung einer Prägung, Houben hat jedoch einen nachvollziehbaren Einwand: „Bücherverbrennungen waren, wie dieses Protokoll zeigt, große Staatsaktionen, und die Schilderung, die Goethe von seinem Jugenderlebnis gab, erweist sich als verhältnismäßig dürftig“. Trefflich ließe sich darüber streiten, ob Erlebnisse einen Neunjährigen Jugenderlebnisse sind und ihre Darstellung mehr als fünfzig Jahre später überhaupt anders als dürftig sein konnte. Immer wieder leitet Houben seine Kapitel mit Zitaten aus „Sprüche in Reimen“ ein, der entsprechende Goethe-Titel erschien erstmals 1908 im Leipziger Insel-Verlag, Herausgeber und Verfasser einer Einleitung sowie umfangreicher Anmerkungen war Max Hecker (6. April 1870 – 9. April 1948). Hecker war 46 Jahre lang für das Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv tätig, sein Grab befindet sich unweit der Fürstengruft in Weimar. „Nirgends erwähnt Goethe, dass auch von seinen eigenen Schriften die eine oder andere demselben Schicksal verfiel wie die Traktätchen des Posamentiers und religiösen Schwärmers Ludwig: sie wurden verboten und, wenn daraufhin bei den Buchhändlern eine Konfiskation erfolgreich war, verbrannt.“ Ausgerechnet ein Leipziger Professor, bei dem Goethe mehrere Kollegia gehört hatte, spielte dabei eine sehr unrühmliche Hauptrolle.
Es handelte sich um Johann August Ernesti (4. August 1707 – 11. September 1781), der am 28. Januar 1775 ein „Pro Memoria an die Churf. BücherCommission“ verfasste, in dem er die Unterdrückung der „Leiden des jungen Werther“ empfahl. Auf diesen Teil seines Wirkens weist weder Gero von Wilperts „Goethe-Lexikon“ (Kröner Stuttgart) hin, noch hat Valerian Tornius (10. März 1883 – 19. Juli 1970) in seinem sonst hervorragend konzipierten Buch „Leipzig im Leben Goethes“ (Insel Verlag Leipzig) es erwähnt. Sein Buch hat generell die wenigstens unterschwellige Tendenz, dem Tourismus-Büro der Messe-Stadt dienstbar sein zu wollen. Was dem Buch, es sei ausdrücklich betont, nicht schadet, es hat halt nur eine wichtige Fehlstelle. „Die Leiden des jungen Werther“ nehmen sehr zu Recht bei Houben einen wichtigen Platz ein, sind doch die Vorwürfe, es handle sich dabei um eine „Apologie des Selbstmords“, deutlich bekannter als andere Vorwürfe gegen Goethe. Wer sich gegen Ende des Buches mit all den Aussagen über die Rezeption des „Faust“, über die beinahe unendliche Geschichte der Text-Verstümmelungen für Aufführungen vertraut macht, ist, mir ging es auf alle Fälle so, versucht zu sagen: Das kann doch nicht wahr sein. Es war aber, es ist wahr. Es führt an einem Präzedenzfall Fortschritt vor, der wenig sympathisch ist.
Was alles noch bis in die frühen Jahre des 20. Jahrhunderts, und zwar regional auf aufschlussreiche Weise, auf Bühnen nicht gesagt werden, nicht gezeigt werden durfte allein aus dem Felde Kirche und Religion, ist haarsträubend. Houben dokumentiert es in imponierender Fakten- und Detailfülle. Und liest man in einer heutigen Wochenschrift die Überschrift „Selbstredend nackt“, dazu die Unterzeile „Performance. Der Leib Christi als Grillgericht: Florentina Holzinger demoliert in ihrer Oper „Sancta“ den katholischen Glauben und stiftet eine feministische Alternativreligion“, auf dem Foto dazu sieht man, natürlich nicht in Frontalaufnahme, „Nackte Nonnen auf der Halfpipe im Mecklenburgischen Staatstheater in Schwerin“, kann man zwanglos zu „Faust“ greifen. Weit vorn in der Tragödie erstem Teil kommt Wagner zu Wort: „Verzeiht! es ist ein groß Ergetzen, / Sich in den Geist der Zeiten zu versetzen, / Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht, / Und wie wir's dann zuletzt so herrlich weit gebracht!“ Houben legt mit seinem Buch freilich die Vermutung sehr nahe, dass der zensierte Goethe im Fall der nackten Nonnen zum Zensor ungeahnter Härte sich aufgeschwungen hätte. Und das ist die Seite seiner Darstellung, die vielleicht wichtiger ist als die Addition aller Fälle, wo Goethe das Opfer von Blindheit, Dummheit und Dreistigkeit wurde.
Goethe war nicht nur in seiner Eigenschaft als Minister, in seiner Verantwortung für die Universität Jena selbst eine Art Zensor, er war von Beginn an der von Karl August dekretierten „Preßfreiheit“ im Herzogtum gegenüber zutiefst skeptisch, er war, auch hier ist Houben sehr informativ, etwas wie ein unfreiwilliger Zeuge der „Karlsbader Beschlüsse“, denn er weilte als Privatperson just zu der Zeit in Karlsbad, als der allseits berüchtigte Fürst Metternich dort aktiv war. Goethe selbst stand in einem alles andere als feindseligen Verhältnis zu Metternich, die zahlreichen Sonnenscheinchen unter den Goethe-Freundinnen und -Freunden schauen gern dezent an dieser Faktenlage vorbei. Denn aus „Der polizeiwidrige Goethe“ ließen sich eben nicht nur Sonderstudien herleiten zu Themen wie „Goethes Misshandlung in Sachsen“ oder „Österreichische Feldzüge gegen Goethe“, es ist auch „Goethe verfolgt Oken-Projekte“ denkbar. Houben hat den Archiven Dokumente entnommen, die etwa den buchstäblichen Goethehass des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm III. belegen. Und solche, die den verklemmten Umgang mit „Das Tagebuch“, den „Venetianischen Epigrammen“ noch sehr lange nach Goethes Tod belegen. Goethe hat immer Saison, Heinrich Hubert Houben nicht, eigentlich nie. Deshalb zu seinem heutigen 150. Geburtstag dieser Versuch.