Horst Beseler: Auf dem Fluge nach Havanna

Vom DDR-Autoren-Jahrgang 1925 sind, soweit sich übersehen lässt, nur zwei älter geworden als Horst Beseler. Eberhard Brüning, fünf Tage jünger als Beseler, starb am 12. Dezember 2023 im Alter von 98 Jahren, Nyota Thun, acht Tage jünger als Beseler, starb am 25. Juli 2021, 96 Jahre alt. Platz 3 der Alters-Hitparade bleibt für den Kinderbuchautor Beseler, der am 29. Mai 1925 in Berlin geboren wurde, am 19. Oktober 2020 in Teterow starb. „Junge Welt“ erinnerte am 22. Oktober 2020 an ihren ehemaligen Journalisten-Kollegen Beseler, der zwischen 1947 und 1952 für „Neues Deutschland“ und eben „Junge Welt“ tätig war. Die Eulenspiegel Verlagsgruppe kündigt für den 10. Juni im Kino Krokodil, Greifenhagener Straße Berlin, eine Filmvorführung mit Buchvorstellung von „Käuzchenkuhle“ an. Das 1965 zuerst im Verlag Neues Leben Berlin erschienene Buch erlebte 1966 schon seine dritte Auflage, wurde Schul-Pflichtlektüre und soll zu den seltenen Büchern dieser Kategorie gehört haben, die trotz Pflicht begeistert verschlungen wurden. Ich kann keine eigene Erfahrung beisteuern, las in meinen jungen Jahren weder dieses noch irgendein anderes Buch von Beseler, warum auch immer. Dabei war gerade 1965 ein besonderes Lesejahr für mich: 120 Bücher.

Und so ist mir auch der Film nicht erinnerlich, der 1969 im Berliner Kino „Kosmos“ uraufgeführt wurde: am 31. Januar. Wikipedia vermeldet eine westdeutsche Erstaufführung für den 13. März 1973. Unter den Darstellern damals Manfred Krug, Thomas Langhoff, Martin Flörchinger, Regina Beyer und Vera Oelschlegel. In die erste Sammlung „Die Eule im Kino“ von Renate Holland-Moritz (Eulenspiegel Verlag 1981) ist keine Kritik zu „Käuzchenkuhle“ aufgenommen worden. Ob es eine gab, kann ich nicht sagen. Ins Blickfeld westdeutscher Dissidenten-Späher scheint Beseler nie geraten zu sein, ich kenne keine Unterschrift von ihm unter einschlägigen mehr oder minder offenen Briefen, ich kenne auch kein vergiftetes Lob. Mein ältestes Archivstück zu ihm ist der „Tribüne“ entnommen, für die ich damals auch sehr regelmäßig schrieb. Horst Buder, vermutlich der Schauspieler, widmete sich Beselers Erzählung „Der lange Schatten“. Am 29. Mai 1990 gratulierte Günter Ebert dem „lieben Horst“ öffentlich zu seinem 65. Geburtstag, Überschrift „Über das Funkeln des Pistolenlaufs“. Nicht sehr viel später wurde Ebert als IM „Neupeter“ enttarnt, sein Augenmerk soll in Neubrandenburg speziell unter anderem auch Brigitte Reimann gegolten haben.

Ebert war ein Vierteljahr älter als Beseler, geboren am 19. Februar 1925, gestorben am 17. Juli 2006, ihm folgten als „Hunderter“ am 22. Februar Erwin Pracht und Hans Pfeiffer, am 13. März Inge Müller, am 15. März Herbert Otto, am 18. März Georg Piltz. Der Amerikanist und ewige Nachwort-Schreiber Karl-Heinz Wirzberger hat am 2. Juni seinen 100. Geburtstag, er starb schon 1976, knapp zehn Jahre nach Inge Müller, die als erste dieses Jahrgangs, eben 41 Jahre alt, aus dem Leben schied. Ebert schrieb in seinem Geburtstagsgruß: „Mit Dir war immer gut streiten, erstens, weil Du ein Kenner vieler Gegenstände bist – vom Kriminalroman bis zur Historie unseres Landes. Und zweitens, weil die von anderen gern belächelte Haltung eines englischen Landlords, die Du gelegentlich zeigst, mit jenem menschlichen Adel verbunden ist, der eine Polemik nie in Rechthaberei oder gehässiges Sticheln ausarten lässt.“ Das waren natürlich kryptische Sätze, die vielleicht nicht einmal der Jubilar Beseler selbst verstand damals. Aber er wurde daran erinnert, mit Ebert im Warschauer Hotel Bristol Chateauneuf-Du-Pape getrunken zu haben, jenen oft extrem hochpreisigen Rotwein von der Rhone, den ich in jedem Katalog weitgehend neidfrei überblättere.

Horst Buder fand 1989 die Topographie des Handlungsraums bemerkenswert an „Der lange Schatten“: „Hier stimmt alles so haargenau, dass man versucht ist, die Straßen an der Berliner Volksbühne und am Kino Babylon abzugehen, um Harry und Tina zu begegnen.“ Es wäre heute schwierig, diesem Rat zu folgen. Wenn ich mir vorstelle, wie meine Mulackstraße aussah, als ich, wie oft, weiß ich nicht mehr, von meiner Nummer 25 in Richtung Kino Babylon ging, dann weiß ich, dass ich nicht einmal mein Wohnhaus mehr wirklich erkenne, noch weniger die Straßenecken und alles unterwegs: die Grundstücke waren einfach zu wertvoll, sie unbebaut zu lassen. Mitte ist nicht mehr Mitte, wie offenbar auch Beseler sie beschrieb. Als er 80 Jahre alt wurde, gratulierte in „Neues Deutschland“ Katrin Pieper, die am 10. Juni selbst schon 89 Jahre alt wird. Sie erinnerte an Beselers erstes Buch „Die Moorbande“ von 1952, in dem Kinder gegen ein Herbstmanöver der amerikanischen Besatzungsmacht protestieren. Man wagt sich kaum vorzustellen, wohin Horst Beseler für immer verschwunden wäre damals, wenn er seine Buch-Kinder gegen ein Manöver der sowjetischen Besatzungsmacht hätte protestierten lassen. Die Idee wäre ihm freilich nie gekommen.

„Beselers Geschichten zielen stets auf den Knotenpunkt, an dem sich menschliche Biografien mit geschichtlichen Prozessen verknüpfen.“ Wäre es so, hätten Biografien und geschichtliche Prozesse nur selten miteinander zu tun, es sei denn, man verleihe dem Wort Knotenpunkt eine völlig neue Bedeutung. Das lag vermutlich nicht in Katrin Piepers Absicht. „Auf dem Fluge nach Havanna“ hatte, ehe daraus das Trompeterbuch Nummer 97 wurde, noch einen längeren Titel. Beim schon erwähnten Günter Ebert ist nachzulesen: „Horst Beseler hat nach „Käuzchenkuhle“ noch einmal das Verhältnis der Kinder zur Vergangenheit der Väter gelungen gestaltet, nämlich in der Erzählung „Auf dem Flug nach Havanna oder Irgendwas mit Blumengießen“, zuerst veröffentlicht in der Anthologie „Die Kastanien von Zodel“ (1970); später dann als Trompeterbändchen mit dem vereinfachten Titel „Auf dem Flug nach Havanna“ (1973)“. Ebert hat nicht nur ein e unterschlagen, er hat das Mädchen Marion in seiner Darstellung auch zur Freundschaftsratsvorsitzenden befördert, obwohl sie im Trompeterbuch doch nur Gruppenratsvorsitzende ist. Sollte Beseler selbst sie degradiert haben auf dem Weg aus der Anthologie ins eigene Buch, nehme ich gern alles zurück.

Eine Kindergruppe in einem Berliner Innenhof will ins Schwimmbad. Das verzögert sich, weil ein Fahrrad repariert werden muss und die Gruppenratsvorsitzende - alle sind nämlich Pioniere - das unbedingt selbst machen, sich nicht helfen lassen will. Plötzlich sind fremde Männer da, die nach einem Herrn Engelke fragen. Der ist aber nicht zu Hause, weil er als rüstiger Rentner noch immer Klempner-Arbeiten ausführt. Die Männer sind mit einem Tschaika vorgefahren, zwei Begleiter und einer, der dann Borissow genannt wird. Es ergibt sich, dass er Herrn Engelke von früher kennt. Er hat ihn seit 25 Jahren nicht gesehen, was den Kindern imponiert, denn das ist eine sehr lange Zeit für sie. Sie haben gerade neben dem kleinen Problem mit dem Fahrrad noch ein größeres, ein echtes Pionierproblem: es geht um die Pflege eines Beetes vor einer Gedenktafel, die Mädchen haben die Pflicht wie selbstverständlich übernommen, die Jungen neigen dazu, sich zu drücken. Die Tafel ist an einer Stelle angebracht, an der während des Krieges Widerstandskämpfer erschossen wurden. Beseler macht einen der Pioniere zum Erzähler, verweigert ihm aber sonst alle weiteren Merkmale oder Eigenschaften. Bei allen anderen handelnden Personen verfährt er anders, charakterisiert sie.

Die repräsentative Darstellung „Sozialistische Kinder- und Jugendliteratur der DDR. Ein Abriss zur Entwicklung von 1945 bis 1975. Von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Friedel Wallesch (Volk und Wissen Volkseigener Verlag Berlin 1977) schildert das Geschehen so: „Obwohl sie gewusst hatten, dass dieser Mann zu den alten Genossen und Widerstandskämpfern zählt, war er ihnen in seiner Bescheidenheit und der Alltäglichkeit seines Verhaltens nie als Held erschienen. Nun aber müssen sie von einem Sowjetbürger erfahren, dass ihr Mitbürger ein höchst verdienstvoller und geachteter Mann ist.“ Das stimmt so gar nicht, denn im Buch erfahren die Kinder nahezu nichts über diese Vergangenheit. Angedeutet ist ein gemeinsamer Ausbruch aus einem Gefängnis. Aber schon die Gründe, warum beide überhaupt zusammen eingesperrt waren, erfahren weder Leser noch die Kinder im Buch. Wer sich in den DDR-Realien etwas auskennt, darf vermuten, dass der Herr Engelke nicht zu den namhaften Antifaschisten gehörte, sonst hätte er nicht in einer Ladenwohnung leben müssen. Die DDR-Organisationen, die für dergleichen zuständig waren, hätten ihm ein besseres Quartier verschafft, vielleicht sogar in der Stalinallee, der späteren Karl-Marx-Allee.

Glucke Hampel, der praktisch Veranlagte unter den Pionieren, der schließlich auch dafür sorgt, dass Herr Engelke gefunden und von der Polizei herbeigebracht wird, ist sich zunächst sicher: „Solche Geschichten wie mit Engelke und diesem Sowjetnik kommen höchstens im Film vor, sozusagen erfunden!“ Beseler verrät nicht, warum der Junge diesen Spitznamen trägt. Er verrät auch die Zeit nicht genauer, in der sich alles abspielt: es gibt schon den Fernsehturm in Berlin, die Hochhäuser in der Nähe. Manche benutzten Wörter deuten auf die sechziger Jahre. Da der Erstdruck 1970 war, kann es nur deren zweite Hälfte sein, wahrscheinlich 1969. Immerhin ist bemerkenswert, dass die Gruppenratsvorsitzende Marion „Niethosen“ trägt und die größeren Schüler, die wegen der Verspätung durch die Fahrradreparatur eher ins Schwimmbad kommen, mit „Kofferheulen“ auf sich aufmerksam machen. Das Wort „Sowjetnik“ aus Kindermund soll vermutlich vorführen, dass Glucke Hampel nicht gerade aus einem Professorenhaushalt stammt. Dieser Borissow jedenfalls ist auf dem Weg nach Havanna, wo er diplomatische Angelegenheiten zu klären hat, von denen der Leser ebenfalls nicht erfährt, worum es sich handelt, nur, dass es jedenfalls länger dauern kann.

Schließlich bleibt den beiden Männern kaum Zeit, sie erkennen sich zwar wieder, umarmen sich und Engelke wird aufgefordert, wenigstens im Tschaika mit bis zum Flughafen Schönefeld zu fahren, mehr aber führt das Buch nicht vor. Der Erzähler offenbart sehr bestimmte Erfahrungen eines jungen DDR-Lebens: „Dennoch befürchtete ich jetzt, dass Marion am Ende losschimpfen und ihm irgendwelche Einzelgängerei vorwerfen und rechthaberisch erklären würde, dass die Notrufmeldung bei der Verkehrspolizei erst im Kollektiv hätte beraten werden müssen.“ Was aber unterbleibt, im Gegenteil: Marion lobt Glucke Hampel. Damit verhält sie sich wie zahlreiche Helden der Erwachsenen-Literatur jener Zeit, als auf der so genannten „Königsebene“ im Interesse der „Sache“, wie das hieß, auch Regelverstöße goutiert wurden. Der Erfolg rechtfertigte fast alles, der Zweck, wäre das zu lesen, heiligte auch, vielleicht gerade im real existierenden Sozialismus die Mittel. Dabei hieß es noch zu Anfang des Büchleins unterschwellig kritisch: „Und Glucke Hampel würde ihr erneut an den Kopf schmeißen, dass sie seit ihrer Wahl zur Gruppenratsvorsitzenden größenwahnsinnig geworden sei.“ Dergleichen kam offenbar auch im Leben junger Pioniere vor.

Unterm Strich sehen Autorenkollektiv und IM „Neupeter“ Horst Beselers Büchlein rundum positiv. Ebert: „Das menschlich Bedeutsame, das den eigentlich ästhetischen Genuss auch in der Kinder- und Jugendliteratur ausmacht, nimmt hier höchst originelle Gestalt an. Die Kinder staunen: Wie denn, der Herr Engelke, der war auch einer von denen gewesen, die sie zu ehren hatten mit Blumen? … Glucke Hampel ist sogar heimlich aktiv geworden, er hat die Polizei alarmiert mit notwendigen Angaben, um den Genossen Engelke ausfindig zu machen. Und sie verstehen auf einmal auf einprägsame Art und Weise, was das ist: Klassensolidarität und proletarischer Internationalismus – so von innen gehören alle zusammen.“ Das Kollektiv: „Mit dieser kleinen Geschichte wird nicht nur bildhaft zum Ausdruck gebracht, welcherart Fäden zwischen dem Einst und Jetzt gespannt und wie eng sie verknüpft sind, sondern zugleich der die Sozialisten der ganzen Welt verbindende Geist des Internationalismus herausgestellt: Etwas, das die sozialistische Kinder- und Jugendliteratur seit je auszeichnet.“ Vedder fragt im Buch, als er Havanna hört: „Zu Fidel Castro, wo sie die dicken Zigarren machen?“ So kam es. Nur die Zigarren gingen in den Export.


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