Dürrenmatt: Zur Dramaturgie der Schweiz

1951 schrieb Friedrich Dürrenmatt: „Man erschrickt nicht bei Klassikern. Man klatscht.“ Den Anlass zu diesem Diktum lieferte dem 30 Jahre alten Mann aus Konolfingen ein anderer Friedrich, der nie in der Schweiz war, es dennoch zum Schweizer Nationaldichter brachte: Friedrich Schiller. 70 Jahre später, speziell an seinem heutigen 100. Geburtstag, könnte man den Satz auch auf ihn selbst beziehen: er hat es auf den Sockel geschafft, man erschrickt nicht, wenn man seinen Namen hört, man klatscht. 2021 aber hat es mit dem Klatschen so seine Bewandtnis. Die Inhaber heutiger Feuilleton-Deutungshoheiten haben ein gemeinsames Urerlebnis: sie lasen Friedrich Dürrenmatt in der Schule. Und so verwandelt sich das Gedenken an den jüngeren der beiden Dioskuren der neuen Eidgenossenschaft in einer Art geistigen Klassentreffens, man ruft Bilder auf von weißen Kitteln der Physiklehrer, die bei Schulaufführungen von „Die Physiker“ sich abermals einprägten und in aller Stille schleicht sich aus den Ecken des Gedächtnisses ein tückischer Gedanke: Wer von Schülern gelesen wird, ist womöglich ein Dichter für Schüler, damit ein erledigter Dichter, einer von vorgestern, sobald das eigene Abitur- respektive Matura-Jubiläum so viele Jahre her ist, wie es bis zu diesem Schulfinale dauerte. Dürrenmatt-Gedenken 2021 schreibt deutsche Teilung fort.

Denn in der DDR las niemand in der Schule Friedrich Dürrenmatt, es gab in diesem kleinen Land auch die kleinen kanariengelben Reclam-Bändchen nicht, die wenig Gewicht machten im Schulranzen, der erst später zum Rucksack mutierte. Die immer noch handlichen Diogenes-Bände aus Zürich gab es selbstredend in der DDR auch nicht. Aber Dürrenmatt gab es natürlich. Schon früh in den 60er Jahren taten sich aufstrebende Jung-Marxisten fachübergreifend zusammen, um anhand des eben genannten Stückes „Die Physiker“ das übergroße Thema „Die Verantwortung der Wissenschaft“ zu diskutieren, man erwog anhand keineswegs nur realsozialistischer Literatur den Gedanken an einen hippokratischen Eid für Naturwissenschaftler, zog „Galileo Galilei“ von Brecht für Hilfskonstruktionen heran. Gegen Ende der DDR lag in ihrem finalen Erbmasse-Bestand auch ein durchaus ansehnliches Berglein Dürrenmatt-Bände zur Übersiedlung in Antiquariate oder in Peter Sodanns Bücher-Halden bereit. „Mir ist rätselhaft, warum man einen 65. Geburtstag feiert. Den 70., ja, das geht, aber am besten ist der 100. Da lebt man meist nicht mehr.“ Das mit dem Nicht-mehr-leben“ am 100. Geburtstag hat für Dürrenmatt gut geklappt, dummerweise hat er nicht einmal seinen 70. mehr erlebt, dem er entfliehen wollte. Heute sind wir ohne ihn mit und bei ihm.

Eine milde Geschmacksprobe Schweiz-Erfahrung eines gelernten DDR-Bürgers stellte ich vor mittlerweile auch schon wieder fast zehn Jahren unter den Titel „Mit Links auf Schweizkurs“, bei Bedarf nachlesbar unter http://www.eckhard-ullrich.de/meine-schweiz/14-mit-links-auf-schweiz-kurs. Inzwischen nimmt Friedrich Dürrenmatt in meiner Bibliothek rund einen laufenden Regalmeter in Anspruch, leider verteilt mangels Platz in Konkurrenz zu weiteren 10.000 Büchern, ich bin ein altmodischer Mensch. Ich gehe, wenn eins gespielt wird, in jedes Dürrenmatt-Stück in meinem Kritiker-Umkreis, zuletzt wäre es wiedermal „Der Besuch der alten Dame“ gewesen, wenn nicht eine uns allen bekannte zweite Welle angerollt wäre und meine Premierenkarten-Bestellung hinfällig gemacht hätte. Mich stört es nicht, dass auch Schüler und Studenten dieses böse Werk spielten und spielen, einige Studentenbühnen-Akteure dabei kenne ich sogar persönlich, weshalb ich mir Besuch und Kritik bei ihnen versage. Ich schätze ihre Arbeit sehr, habe aber eine nicht mehr ausrottbare Neigung zum Fremdschämen, wenn ich Missratenes sehe und, es lässt sich leider nicht leugnen, verglichen mit professionellem Spiel ist Amateurspiel immer so oder so missraten. In der Kunst zählt leider oder zum Glück allein der Sprung über die Latte, nicht schon der schöne Anlauf.

Dürrenmatt selbst hält, freilich als Autor, dagegen: „Theater ist so lange schön, wie man probt; wenn das Publikum kommt; ist's schon vorbei...“. Das Interview, aus dem dieses Bekenntnis stammt, erschien am 17. Dezember 1990 in „Schweizer Illustrierte“, geführt hat es René Zeyer im November 1990, mithin ist es eines der letzten, die Dürrenmatt gab. Dort kündigte er auch an, eines Tages ganz mit dem Schreiben aufzuhören, nicht nur mit dem fürs Theaters. Etliche Jahre früher aber schrieb er an einem Text, der fragmentarisch blieb und unter dem heute aus den Werkausgaben bekannten Titel „Zur Dramaturgie der Schweiz“ gedruckt wurde. Es ist ein (mich) auf- und anregender Text, von dem ich weiß, dass in meiner DDR ein Pendant „Zur Dramaturgie der DDR“ vielleicht hätte geschrieben werden können, niemals aber gedruckt worden wäre. Dank des zum Untergang der DDR fast parallelen Geschehens der Enthüllung eines weitreichenden Spitzelei-Skandals schweizerischer „Organe“ gegen die eigene Bevölkerung und vor allem auch die eigenen berühmten Autoren wissen wir, dass auch die Eidgenossenschaft kein staatlich organisierter Fanclub von Nestbeschmutzung war, wie dergleichen regelmäßig genannt wird in kleinen Alpenländern. Dürrenmatt schrieb „Die Schweiz – ein Gefängnis“, nannte die Schweiz den F.C. Helvetia 1291.

Man gönne sich das fast runde Vergnügen, „Das gemästete Kreuz“ zu lesen, zugeordnet den „Stoffen“, die unter den separaten Titeln „Labyrinth“ und „Turmbau“ erschienen, römisch nummeriert. „Das gemästete Kreuz“ schließt die „Stoffe V“ ab. Fast rund heißt: die sehr schöne und sehr tragfähig Idee, die Geschichte der Schweiz als Geschichte eines Fußballclubs darzustellen, der schon lange keine Spiele mehr austrägt, nur noch trainiert oder nicht einmal mehr das, sich aber dessen ungeachtet weiterhin für einen großen Club hält, ist nicht unbegrenzt tragfähig, vor allem gegen Ende, sprich die Gegenwart, hin ist die Wirkung des Bemühten, des Überanstrengten nicht zu leugnen. Immerhin war Dürrenmatt seine eigene Idee gut genug, immer wieder in Gesprächen und Interviews auf sie zurückzukommen. Es stehen Sätze drin wie: „Der Dialektik des patriotischen Glaubens ist keine Niederlage gewachsen. Nicht der Sieg ist wichtig, sondern der Wille zum Sieg.“ Oder: „...denn ohne Glauben, sie sei mehr als eine Firma, bleibt eine Firma nur eine Firma“. Oder „Ein Ruhm, der nicht über den Verein hinaus wirkt, verblasst.“ Dürrenmatt hat über den Verein Schweiz hinaus gewirkt, deshalb hat er es schwerer mit dem Verblassen: man halte ihn neben Kurt Guggenheim oder Kurt Marti, der eine 1896 in der Schweiz geboren, der zweite 1921, beider Jubiläen fallen noch in diesen Monat Januar 2021. Da muss auch das gehobene Feuilleton googeln.

Kurt Marti, das nur in aller Schnelle, war nach Peter Bichsel, Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch und Günter Grass der fünfte und letzte Redner am 8. September 1968 im Stadttheater Basel, wo jeder auf seine Weise auf den Einmarsch der Staaten des Warschauer Vertrags in die CSSR am 21. August 1968 und die folgende Entwicklung reagierte. Dürrenmatt sagte damals Dinge, die in jeder Morgenschulung einer SED-Kreisleitung Begeisterung ausgelöst hätten und er sagte Dinge, die ihm jede nächste Publikation in der DDR massiv erschwert hätten. Fall1: „Kommunist ist ein Ehrenname, nicht ein Schimpfwort, die Prager Kommunisten beweisen es, und wir können den Mut dieser Männer nur dann ehren, wenn wir aus unserer Manifestation nicht eine antikommunistische Manifestation machen.“ Die SED hätte nur die Prager Kommunisten durch drei Punkte ersetzt. „Der Kommunismus ist ein Vorschlag, die Welt vernünftiger einzurichten, ein Vorschlag zur Weltveränderung, den wir durchzudenken und, erkennen wir ihn als vernünftig, durchzuführen haben.“ Doch kaum sind diese netten Sätze gesprochen, kommt es hageldick: „Der Kommunismus unserer Zeit vermag nur zu überleben, wenn er den Mythos einer unfehlbaren Partei fallen lässt, wenn er sich weiter denkt, wenn er demokratisch wird.“ Und schon geht es um die Schweiz.

„Auch wir müssen die Demokratie weiterdenken, denn die Demokratie, die wir praktizieren, trägt in vielem ebenso mythologische Züge wie der Sowjetkommunismus, ist in vielem ebenso kultisch.“ Man muss sich das vor Augen führen: Unseren heutigen SED-Altkadern, harter Kern der Beige-Fraktion, treten die Augen aus den Höhlen, wenn irgendwo von den zwei Diktaturen geredet wird, wenn Kommunismus und Faschismus verglichen werden und hier, zu Füßen von Eiger, Mönch und Jungfrau, wird die Rütli-Demokratie umstandslos mit dem Sowjetkommunismus verglichen. Das Wissen um die eine Urempörung erleichtert die Vorstellung der anderen. Dürrenmatt ging an die Wurzeln, was, wie wir alle gelernt haben, radikal sein bedeutet. Später, als er, als eine seiner letzten öffentlichen Aktivitäten, die Rede für Vaclav Havel hielt, kam Dürrenmatt noch einmal auf diese 30 Jahre alte Rede zurück. Seine neue Rede aber hieß, siehe oben: „Die Schweiz – ein Gefängnis“. Dort sagte er: „Der Schweizer hat damit den dialektischen Vorteil, dass er gleichzeitig frei, Gefangener und Wärter ist. Das Gefängnis braucht keine Mauern, weil seine Gefangenen Wärter sind und sich selber bewachen, und weil die Wärter freie Menschen sind, machen sie auch unter sich und mit der ganzen Welt Geschäfte“. Und fragte: „Was sind wir Schweizer für Menschen?“

Und er antwortete sich selbst: „Vom Schicksal verschont zu werden ist weder Schande noch Ruhm, aber es ist eine Menetekel.“ In der „Dramaturgie der Schweiz“ geht es um eine Untersuchung, ob und wie die Schweiz auf der Bühne darstellbar sei. „Theater muss überall verständlich sein, ohne den Willen, Welttheater hervorzubringen, ist die Dramaturgie eine bloße Ansammlung theatralischer Küchenrezepte.“ Haben die heutigen Erinnerungs-Feuilletonisten diesen Satz einst in ihrem Gymnasium gehört und gar verstanden? Oder ging es dort wie stets genau um die Küchen-Rezepte von Literatur und Theater, die man getrost nach Hause tragen konnte für die Zeit, da man dereinst mit den Enkeln am Kamin sitzt und von früher plaudert? „Neutralität ist eine politische Taktik, keine Moral. Neutralität ist die Kunst, sich möglichst nützlich und möglichst ungefährlich zu verhalten.“ „Wer gegen den Kommunismus ist, ist noch lange nicht für die Freiheit. Der Kommunismus ist nicht das Schlimmste, er bedeutet für viele Länder einen wirklichen Fortschritt, wenn auch nicht für alle.“ „Unser übertriebener Antikommunismus ist zu einem Ritual geworden, zu einem Stammestanz der Schweizer.“ Es wäre ein reines Vergnügen, Satz an Satz zu reihen, es würde jeder eines immer sehr deutlich zeigen: Friedrich Dürrenmatt war ein bedeutender Kopf.

Dass bedeutende Künstler zugleich auch bedeutende Denker sind, ist seltener, als man im ersten Moment glauben mag. Mir will scheinen, als ob gerade bei bildenden Künstlern und auch Filmregisseuren, die große Bilder malen oder grandiose Filme drehen, bisweilen der Gedanke klar bescheidener ausfällt. Hier aber immer Prägnanz mit Tiefe: „Heldentum ist etwas Schönes, Heldentum zu verlangen, etwas Unmenschliches.“ „Eine Nation geht nicht so leicht unter, nicht einmal im Osten.“ Immer wieder, in der „Dramaturgie der Schweiz“ wie in einigen anderen Texten, kommt er auf die Beispiele Dänemark und Tschechoslowakei zu sprechen, die sich nicht verteidigten und überlebten. „Wer nachträglich die Vergangenheit bewältigt, entschuldigt sie nur allzu leicht, wenn auch unfreiwillig.“ Dürrenmatt ist keiner für Schüler, noch die meisten der „Erwachsenen“ sind ihm nicht gewachsen, so tot er zu sein scheint. „Unsere Kantone sind nur noch historisch gewordene Gebilde, die heute fast nur noch fiktiv einer Wirklichkeit entsprechen und deshalb mehr oder weniger störend in die Gegenwart eingreifen.“ „... wir leben nicht mit den französischen und italienischen Schweizern zusammen, sondern beziehungslos nebeneinander her.“ Als Dürrenmatt das festhielt, erlebte die Schweiz ihre jetzt vergessene so genannte „Jura-Krise“.

„Ein Deutschschweizer, der nicht über die französische Kultur, und ein Welscher, der nicht über die deutsche Kultur informiert ist, haben eine Chance verpasst, die ihnen eigentlich gerade die Schweiz bieten sollte. Kultur als ein nationales Kapital ist eine Fiktion, Kultur ist nur das Lebendige, das Schöpferische, das Wirkliche. … Eine Schweiz, die nicht imstande ist, sich einen neuen Sinn zu geben, löst sich auf“. Fünfzig Jahre nach Niederschrift des Fragments und dreißig Jahre nach Friedrich Dürrenmatts Tod gilt nicht der Umkehrschluss: Die Schweiz hat sich nicht aufgelöst, also gelang es ihr, sich einen neuen Sinn zu geben. „Ihre Aufgabe ist zu sein, was sie behauptet zu sein.“ Was ein schöner Schluss wäre an diesem schönen Dienstag im Januar. Da aber den Hausregeln des Journalismus zufolge eine Suppe ohne Haar in ihr keine ist, soll auch ein Satz zitiert werden, der die Aussage ermöglicht: Hier irrte Dürrenmatt. Der Satz aus einem Interview des Jahres 1979 lautet: „Nicht die Politik verändert die Gesellschaft, sondern die Gedanken.“ Das unterstellt gedankenlose Politik und politikfreie Gedanken. Doch sagte Dürrenmatt nur kurz vorher auch: „Wenn heute ein politischer Standort klar ist, dann ist er höchst unklar.“ Warum Friedrich Dürrenmatt unter den Meistern des Grotesken ein Großmeister war, muss hiernach kaum noch erläutert werden.


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