Ich und der Grieche

Der erste Grieche, mit dem ich in Berührung kam, war tot. Er war so lange schon tot, dass niemand genau sagen konnte, wann er gestorben, wann er geboren war. Außerdem mangelte es ihm an einem Familiennamen. Dafür kannten seinen halben Namen auch Menschen, die nicht einmal ahnten, dass er ein Grieche war. Man kannte ihn und kennt ihn, weil es einen Satz gibt, der nach ihm benannt ist: Thales. Ich weiß ehrlich gesagt nicht auf Anhieb, was dieser Satz besagt, denn als ich die Goethe-Schule in Ilmenau besuchte, die eben gerade mit ministerieller Anteilnahme aus Berlin ihre 30 Jahre Spezialklassen bejubelte, da gab es noch keine Spezialklassen und Papa Trost war schon selige Geschichte.

Thales war für mich der Mann, der zuerst kommt in Wilhelm Capelles Vorsokratikern. Der erste, der auf die Idee verfallen ist, für alles einen Urstoff, einen Urgrund zu suchen. Goethe, der Namenspatron meiner Schule in Ilmenau, ist auch nicht viel weiter vorgestoßen zweitausend Jahre später, was nicht gegen Thales spricht. Diese Vorsokratiker waren frühe Pflichtlektüre für angehende Philosophen an der Humboldt-Universität zu Berlin, alles Griechen, alles Männer, die nicht mit der Geschichte in die Geschichte eingingen, dass sie vom griechischen Staat Rente kassierten für ihre vor dreizehn Jahren bereits verstorbene Oma. Sie waren, nachdem der erste von ihnen die Idee hatte, alles auf das Wasser zurückzuführen,  ein Weilchen eingeschränkt kreativ, denn sie ersetzten jeweils nur das Wasser durch ein anderes der Elemente, die damals in der kanonischen Zahl Vier als überschaubare Menge durch Mythenerzähler wie Hesiod vorgeordnet waren. Bis einer kam, der besonders pfiffig alles Elementare beiseite schob, und sein Substitut für das Wasser das „Apeiron“ nannte.

Noch die Strukturalisten aus dem nahen Frankreich, das, manchen überrascht das, uns hier seit dem Kriege fast ununterbrochen mit Neuklassikern versorgt und dominiert, während wir nur im Kanzlerinnen-Vorzeigen und -Haben die Nase im Wind halten, noch diese Strukturalisten haben im Grunde nichts hinzu erfunden seit Thales, sie schwafeln halt vom Diskurs als dem Urstoff und die diskursbasierte Realwelt wird trapsbrav dann von allen nachkonstruiert. Und damit niemand die Dürftigkeit der Konstruktion bemerkt, werden für sie eigens Parallelweltsprachen erfunden, die niemand versteht. Denn wenn sie verstanden würden, würde wieder einmal ein Kind den Zeigefinder lang machen müssen und sagen: Der Kaiser ist ja nackt.

Meine einstige Sekretärin Christine, die im kommenden Jahr ihr sechzigstes Lebensjahr vollendet, war eine Zeit lang die in meinem Leben, die mir permanent den Griechen in allen schönen Farben der Palette ausmalte. Immer, wenn sie von einer der Inseln zurückkehrte, erzählte sie von diesen Griechen und ich blätterte pflichtschuldigst in Katalogen und gab kund, nun endlich auch einmal einen Blick ins Traumland werfen zu wollen. Ich lernte, dass lauwarmes Essen kein Pfusch der Küche vor Ort ist, sondern normal, was mich in Konflikte versetzte. Denn ich bin nahtlos von einer Mutter, die alles, was nicht die Zunge verbrennt, als kalt empfand, an eine Lebensgefährtin weiter gereicht worden, die ungefähr ähnlich strukturiert ist in dieser speziellen Hinsicht. Ich bin, um es kurz zu machen, bis heute nicht nach Griechenland gekommen und wahrscheinlich würde ich, wenn mich der Fluggrusel nicht bremste, eher noch an die kleinasiatische Küste reisen vorher, wo meine alten Griechen, was haben wir damals alles gebüffelt, wegen ihrer Meeresnähe zu so welthaltigen Denkern wurden, anders als alle Schluchtenjodler dieser Erde.

Der Grieche hat, als ihm wegen der nicht mehr stehenden Mauer sein Einmarsch in mein Traumland ermöglicht war, die Gelegenheit sofort beim Schopfe ergriffen. Er hat nicht Glaswerke, Porzellanwerke oder Schiffshebewerke gekauft, sondern Gaststätten eröffnet. Sie hießen alle Athen oder Akropolis, in allen wurde man am Eingang per Handschlag begrüßt, in allen bekam man ein sehr reichhaltiges und sehr wohlschmeckendes Essen, das gar nicht so lauwarm war, wie die Reiseführer es vorwarnend beschrieben hatten. Aber wir erfuhren ja auch rasch, dass die Türken in der Türkei keinen Döner kennen. Der Grieche überraschte uns mit einem klaren Getränk, das er „Ouzo von Haus“ nannte, an das wir uns so wunderbar schnell gewöhnten, dass wir heute schon allein aus dem Grund immer eine Gabel voll mehr in den Schlund schieben als unbedingt nötig, weil sich damit der „Ouzo von Haus“, den jetzt auch unser Kühlschrank nonverbal anbietet, einfacher rechtfertigen lässt.

Anders als DIE MÄRKTE ist DER GRIECHE mithin nichts, was uns wirklich beunruhigt. Ich gebe zu, dass sein in einzelnen Ministerpräsidenten zum kapriolischen Durchbruch kommendes Bedürfnis nach Volksabstimmungen an der falschen Stelle meine Skepsis gegen Volksabstimmungen in partialen Hass auf sie zu verwandeln in der Lage ist, wenn allein die Ankündigung mir in den Beständen meines Fondssparplanes, wie ihn mir mein eigenes Obrigkeitsteam weiland ans Herz drängte, von einem Tag auf den anderen fünftausend Euro entreißt aus meiner Altersvorsorge. Wahrscheinlich habe ich alles schon geahnt, als ich bei Ordnung meiner Bibliothek die lange Reihe alter Griechen durch genau vier Türen innerhalb meiner Wohnung von der kurzen Reihe neuer Griechen separierte. Odysseas Elytis steht also in der maximal möglichen Entfernung von Aristoteles und Platon, obwohl er für alles nichts kann. Und wenn ich meinen Diogenes Laertios zur Hand nehme, um zu überprüfen, ob Hegel die Anekdote von Krates und Hipparchia, die ihr Beilager öffentlich zelebrierten, zutreffend wiedergab, dann denke ich nicht an Papa und Mama Dopulos. Wer hat eigentlich die letzte preiswerte Flasche Ouzo im Aldi erwischt?


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