San Marino forever

Ein kleiner Schaukasten war es im Haus an der Unterpörlitzer Straße nahe der Katholischen Kirche. Leuchtende Farben lockten und ein Preis, den ich heute kaum zu nennen wage, weil er die galoppierende Entwicklung offenbar machen würde, die es seither gab. Wären Löhne und Gehälter so rasch gestiegen wie diese Reisepreise, wir lebten nicht unbedingt in Saus und Braus, aber ein wenig brausen täte es schon. Da stand ein Reiseziel, das noch zwei Jahre zuvor nur eine einzige Bedeutung hatte für mich, für uns, für unsereinen, es war das Land, aus dem die ganz bunten, die ganz schönen und trotzdem erschwinglichen Briefmarken kamen, die man in ganzen Sätzen kaufen konnte: San Marino. Da war nun diese kleine DDR zusammen gebrochen, sie hatte noch ein paar Monate geröchelt, ehe sie endgültig abtrat. San Marino aber, phantastisch viel kleiner als diese kleine DDR, rings umzingelt von einem großen starken Land namens Italien, lebte.

Es war eine Busreise, man erinnert sich: Busreisen, das waren die Reisen, zu denen der Busfahrer sämtliche verfügbaren Tonträger der Kastelruther Spatzen einpackte, sämtliche verfügbaren Witze von Fips Asmussen, man sammelte Mitreisende ein an vielen Zustiegsorten und als es endlich losging, waren die anderen, die mit dem Auto fuhren, schon fast am Ziel. Und unterwegs dann die berühmte Frage in den Alpen, warum die Markierungen dort gelb sind auf der Straße. Damit sie der Winterdienst nicht wegschiebt, hahahaha. Irgendwann dann in der Nacht der Brenner, es gab das Schengener Abkommen noch nicht, aber Kontrolle entfiel trotzdem, plötzlich einfach Italien. Nur ehemalige DDR-Bürger können exakt dies nachempfinden, diese anhaltende Fassungslosigkeit an Grenzen, die letztlich kaum solche waren. Mehr oder minder fröhlich grinsende Zöllner ohne das geringste Bedürfnis, Zahnpastatuben auszudrücken, um zu schauen, ob man nicht vielleicht doch unerlaubt ein paar ungarische Salami darin versteckt hielt, die auf der Zollerklärung nicht verzeichnet waren.

Plötzlich einfach Italien. Das sah gar nicht so nennenswert anders aus zunächst. Dann irgendwann, nach langer Anreise Pesaro, Rossinis Stadt. Ein Hotel wie ein Neubaublock aus der DDR, hochkant geklappt. Freundliche Inhaber. Vom Balkon ein Blick, tatsächlich ein Blick seitlich auf die Adria, die etwas grauer wirkte als auf den Ansichtskarten von Tante Lilo und Onkel Heinz. Ein Stück zu laufen bis zum Zentrum, kein großes Stück. Die Frage des Lederwarenhändlers am Markt an die Lederjackenträgerin: Was isse dasse?? Kein gutes Leder, dass hier ist gutes Leder. In der Tat, Leder und Italien gehören irgendwie zusammen, die eigene Jacke von zu Hause verwandelte sich schnurstracks in eine Kandidatin für die Kleiderspende. Dann Mondavio auf einem Berg, erstmals eine solche Stadt wie später noch manche. Diese Italiener haben seltsam oft oben gebaut, statt unten an den Flüssen.

Das Frühstück im Hotel, mammamia, diese von den Kastelruthern zugedröhnte, von Fips mürbe gekalauerte Bus-Ladung ließ in Sekundenschnelle das gesamte Buffet als Beute in den ausliegenden Servietten verschwinden, was sich zweimal wiederholte, während niemand sichtbar aß. Die freundlichen Inhaber kamen hart an die Grenze ihrer Freundlichkeit, denn in Italien frisst man nicht am Morgen wie ein germanischer Scheunendrescher, um dann die gleiche Menge noch einmal als Wegzehrung bis zum kostenlosen, weil in der Halbpension enthaltenen Drei-Gang-Menü, mit zum Busausflug zu schleppen. Fremdschämen als Phänomen, ein Urerlebnis dieses Reisens.

Dann San Marino. Gleich unten links, Sie wissen schon, gleich, wenn man reinkommt links, die Buden mit den deutschsprachigen Schildern: Jakobskaffee, frischer Kuchen. Die Erklärung der Reiseleitung, wo der Bus steht, wenn es zurück geht nach Pesaro. Die Beschreibung des Weges nach oben und Freiheit. Freiheit war plötzlich nicht mehr die Freiheit der Andersdenkenden, es war die Freiheit der Kaffeesaufenden, die Frage einmal ganz hart zu stellen: Was wollen wir eigentlich in San Marino? Eine Frage brachiale Direktheit, mit den Ärschen beantwortet. Die saßen bei Kaffee und Kuchen, bis wir wenigen Aufstiegswilligen zurückkamen von oben, ärgerlich, verschwitzt und enttäuscht. Vor allem viel zu früh. Wer will schon den Bus verpassen, wer kann schon abschätzen, wie lange es dauert bis zu den hinteren Bastionen? Und dann: der Nebel. Muss ausgerechnet, wenn wir oben sind, unten sich dicker Nebel zusammen brauen, der sich lichtet, kaum das wir neben dem Bus und den Kaffeebäuchen auf die Rückreise warten gen Pesaro? Wir ahnen, was wir hätten sehen können, wenn wir es hätten sehen können.

Die Lehre für das ganze restliche Leben: tausend Kilometer Volksmusik machen aggressiv. Sie machen so unendlich aggressiv. Was sind das für zugedröhnte Sozialpsychologen, die immer wieder diese einfache Frage nicht schlüssig beantworten können, was biedere Familienväter, nette Nachbarinnen zu Killern macht, die neben Penthesilea rasen könnten, ohne aufzufallen. Ich hätte töten können, habe mich für die nächste Busreise aber für Kopfhörer entschieden.


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