Kleist: Der zerbrochne Krug; Berliner Ensemble

Nichts liegt näher, als mit Klaus Maria Brandauer zu beginnen. Es entspräche der puren Berühmtheit, es entspräche dem protokollarischen Protokoll und überhaupt sowieso. Der Dorfrichter eben, der alte Adam. Deshalb beginne ich mit Tina Engel und Ilse Ritter. Man hat ja seinen „Zerbrochnen Krug“ intus, man kennt die Stellen, wo die Fama von Überlängen und Überflüssigkeiten redet. Einer wie Regisseur Peter Stein versteht dergleichen vermutlich als Herausforderung, wobei eine Inszenierung, die seit sechseinhalb Jahren läuft, ohnehin alles bewiesen hat, was zu beweisen gewesen wäre und war. Also diese Tina Engel, ich gestehe es, die mir mehrfach in Potsdam im Hause Hans Otto über den Weg lief, nie aber bisher vor den Augen auf der Bühne stand, ist eine Marthe Rull, die selbst einem Gerichtsrat Walter das scheue Zurückweichen beibringt. Der Krug, von dem sie das von Kleist Aufgeschriebene vorträgt, muss einen glücklichen Sturz hinter sich haben, denn er sieht gut erhalten aus bis auf das Loch, von dem dann freilich ausschließlich die Rede ist. Und Ilse Ritter als Brigitte: sechs Daumen hoch und zwölf grinsende Smileys als WhatsApp aus dem Theater-Foyer an die Daheimgebliebenen.

Wer heute „Der zerbrochne Krug“ auf die Bühne bringt, weiß zweierlei: Das ist eine der ganz großen Komödien deutscher Zunge und niemand, der nicht ausschließlich auf der klaren Wurstsuppe zu rudern pflegt, der das nicht wüsste. Dass es der Dorfrichter selbst war, welcher, auch das weiß bis auf den genannten Ruderklub ein jeglicher, respektive eine jegliche natürlich. Was gleichbedeutend damit ist, dass man die Signale anders setzen kann. Man muss ein Geheimnis, das keines mehr ist, nicht enthüllen. Man muss eine komische Reihe von Zeichen vorführen, die das verbreitete Wissen um das Geheimnis anzeigen. Einen wissenderen Schreiber Licht als diesen Michael Rotschopf sah ich, wenn das Gedächtnis nicht trügt, noch nie. Er spielt sein Wissen vor allem dann, wenn er keinen Text hat. Einfallslos, wie ich bin, erinnere ich an solcher Stelle gern an die Fußballweisheit, dass das Spiel ohne Ball bisweilen wichtiger sein kann als das mit dem Ball am Fuß. Das fällt den ständigen Theatergängern zu Berlin am Schiffbauerdamm vielleicht nicht mehr auf, weil sie meinen, das sei so im Theater. Man sende sie in die Provinzen, wo die textfreien Darsteller bisweilen dastehen als seien sie aus Pappe.

Krasser, fast schon zu krasser Fall der löblichen Berufsauffassung ist Michael Kinkel als Büttel. Klassische Rotstiftrolle das, hier aber könnte man eine Kamera ausschließlich auf ihn gerichtet halten und sogar die YouTube-Gemeinde fände womöglich Gefallen am wortlosen Grimassieren, Kopfwiegen, Augenrollen, Armeschwenken eines solchen tumben Toren aus dem Bilderbuche. Wohl jedem Haus, das Nebenrollen so besetzen kann und nicht tiefgefrorene Altmimen unaufgetaut in die Kulissen stellen muss. Eine sensationelle Rollenauffassung zeigten auch jene Zweibeiner mit Flügeln und Schnäbeln, welche das Personenverzeichnis des Programmhefts Nummer 103 etwas großsprecherisch 12 Hühner nennt. Zwölf habe ich nicht gezählt, vielleicht ist das eine oder andere schon am textimmanenten Pipps verstorben oder in einer großen Suppenschüssel verschwunden, der Rest der rassigen Eierlegerinnen jedenfalls lässt sich sauber unter den Arm klemmen, stellt sich fürwitzig gackernd unter genau die Bank, auf der bald Klaus Maria Brandauer blutig und in Unterhosen Platz nehmen wird. Goethe, der eines leibhaftigen Pudels wegen in den unbefristeten Intendantenstreik treten wollte und gerade am „Krug“ eine Regietat ablieferte, die eher in die Kiste seiner Untaten gehört, Goethe wäre, obwohl es in Weimar sicher auch gute Hühner gegeben hätte, wohl ganz aus dem Dienst geflohen.

Nun doch langsam Klaus Maria Brandauer. Unsereiner, der seine Jugend irgendwann zwischen dem Ende des Dreißigjährigen Krieges und der Großen Kapitalistischen November-Revolution 1989 verlebte, kennt noch diese begeisternden Konzerte, wo einer wie Eric Clapton oder Rory Gallagher oder Alvin Lee Gitarrensoli spielte, die wir hinter den Bergen Dehnemänner nannten. Live kam so ein Titel schnell mal auf zwanzig Minuten. Klaus Maria Brandauer spielt seinen Dorfrichter Adam mit solchen Dehnemännern. Wie Zeitlupe und Echtzeit zugleich. Es fliegt der Ball zwischen Schreiber Licht und Richter Adam, der seine Wunden behandelt, sein Schienbein umwickelt, hin und her, her und hin, die Hand gewissermaßen ganz unten am Griffbrett. Das sieht aus wie Improvisation und ist sehr wohl kalkuliert, es setzt die Töne trennscharf. Es ist komisch. Es lässt nichts aus. Erprobt muss hier nichts mehr werden, es ist erprobt. Es erreicht auch die zwei Schweden links neben mir, den einen Engländer rechts, Franzosen parlieren leuchtenden Auges im Foyer anschließend. Nur im ganz jungen Jungvolk, da gibt es Enttäuschungen. Viel zu schnell und viel zu wenig artikuliert war das, klärte eine hyperschöne Alpha-Blondine der Altersgruppe 17 bis 19 drei Begleiterinnen auf dem Weg nach Bahnhof Friedrichstraße auf, das mache doch ihre Theater-AG besser und die hier bekämen auch noch Geld dafür.

Es fliegt der Ball auch zwischen Gerichtsrat Walter (Martin Seifert) und Richter Adam in Huysum. Auch Seifert signalisiert permanent, was er erst ahnt, dann weiß. In der Pause, als die Brigitte geholt werden muss und der Büttel alle Prozessbeteiligten erst einmal vor die Tür treibt, was ihm nur schwer gelingen will, die sind alle wie angeklebt und angenagelt, in der Verhandlungs-Pause ist der Niersteiner an der Reihe, der Käse aus Limburg und die Braunschweiger Würste. Das fläzt sich am Tisch, das säbelt am Käse, das kippt sich die Gläser Weines rein. Opulenz im Brecht-Haus halt. Genusstheater an der Wiege des explizit Antikulinarischen. Es geht mit Bühnenbild (Ferdinand Wögerbauer) und Kostümen (Anna Maria Heinreich) eben auch, den Hühnern am Anfang folgt am Ende eine weite leicht ansteigende  Schneefläche, eine solche, auf der man Spuren lesen kann von Klumpfüßen, und der Dorfrichter Adam entschwebt nach oben, wo über den Wolken im Schnürboden die Freiheit vermutlich halbwegs grenzenlos ist. Alter Kleist, was willst du mehr? Heinrich, wem graut vor dir? Die Phantome des Perückenmachers. Wie lange kann man brauchen, um in eine schwarze Robe zu gelangen auf der nach oben offenen Dorfrichter-Skala? Gehet und schaut es euch an.

Zum Dorfrichter Adam gehört natürlich ein Evchen. Katharina Susewind ist es, sie hat die im Stück liegende Schwierigkeit zu bewältigen, inmitten komischer Rollen die von Komik am weitesten entfernte interpretieren zu müssen. Das schafft sie mühelos im Zusammenspiel mit ihrer Mutter (Tina Engel) wie mit den Männern Klaus Maria Brandauer, Martin Seifert und auch Roman Kanonik (Ruprecht Tümpel). Der wuchtige Bursche gelangt dabei zu leisen Tönen, die man zunächst kaum erwartet hätte, seinem Vater Veit (Detlev Lutz) blieb die immer etwas undankbare Aufgabe der schon bei Kleist einseitigen Anlage der Figur. Ihr dennoch so viel Raum wie nur möglich gegeben zu haben, ist Peter Steins Verdienst ebenso wie bei den Nebenrollen der ersten und der zweiten Magd (Karla Sengteller und Antonia Bill). Allein, wie sie die Hühner griffen! Dass auch das Ende, die nochmalige Aufklärung des Geschehensablaufs in Eves Mädchenzimmer aus ihrer Sicht, und auf Zureden des Gerichtsrates Walter, ausgespielt wurde, zeigt zweierlei: Vor allem, dass es geht. Aber eben auch, dass hier tatsächlich ein Bruch nicht zu verheimlichen ist. Zwei Stunden und zwanzig Minuten Kleist am Berliner Ensemble, die Premiere war am 13. September 2008 mit zwei Stunden Spielzeit angekündigt, auch das erlebt man eher selten. Mir tat es gut.


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