Kleist: Der zerbrochne Krug; Schauspielhaus Zürich

Man kann es, mit einem abgetakelten Spruch zu beginnen, halten wie die Dachdecker: nur nicht zu hoch. Heinrich von Kleists „Der zerbrochne Krug“ wurzelt auf spezielle Weise in der Schweiz, weswegen eine Inszenierung von dort hier Zusatz-Interesse auf sich zieht. Barbara Frey kann wie alle, die das Stück inszenieren, darauf bauen, dass das Geschehen bekannt ist. Sie kann bei einem kleineren Teil des Publikums auch darauf bauen, dass es weiß: die Begründungen für das Scheitern der vielleicht berühmtesten aller gescheiterten Inszenierungen, der Goethes von Anfang März 1808 in Weimar, führen in die Irre. Noch die längsten Längen in Kleists auf der Aare-Insel bei Thun begonnenem Spiel sind kurz und kurzweilig, wenn die richtigen Darsteller/innen sie spielen. Die Übermacht des Rollenvorbilds Emil Jannings im einstigen UFA-Film, die vor gut 50 Jahren Rolf Michaelis noch guten Gewissens beklagen durfte, belastet heute keine Regie mehr. Es wird längst munter gegen das adipöse Urbild besetzt, der Richter Adam darf mager sein, auch der Rollentausch der Geschlechter ist bei Kleist angekommen. Wenn also in Zürich die Frau Brigitte ein Mann ist (Graham F. Valentine) und der Ruprecht Tümpel eine Frau (Inga Busch), nimmt man das hin wie den Klimawandel, hält sich allerdings nicht mit Schuldzuweisungen auf, sondern genießt oder nicht.

Das Gastspiel des Schauspielhauses Zürich in Dresden war zu genießen mit einer kleinen, wenn auch nicht unwesentlichen Einschränkung: es wurde phasenweise nicht nur für Hörbehinderte zu leise gesprochen. Alles beginnt mit einer noch ziemlich dunklen Bühne, deren Aufbau man allenfalls ahnt: eine Person purzelt aus der Mitte heraus in Richtung Publikum, „Evchen!“ ruft sie mehrmals und es sieht aus, als ob die Person nicht übertrieben viel anhat. Man kennt Dorfrichter Adam aus vielen Inszenierungen als den klassischen Unterhosen-Träger, die langen weißen waren meist nicht mehr sonderlich weiß, dem Damenvolksmund zuliebe, weil der die männliche Abneigung gegen Unterhosenwechsel zu kennen glaubt. Hier ist Adam nackt, nackt wie Edgar Selge, möchte man sagen, wenn man den auf dem Garderobentisch erleben durfte bei Einstieg ins Stück, ich sah ihn so im Maxim-Gorki-Theater, ehe dieses ins Postmigrantische migrierte. Der Züricher Dorfrichter sieht lädiert aus, das geht nicht anders und er bleibt ziemlich lange nackt. Als die Bühne heller wird und der Dialog zwischen dem Schreiber Licht und dem Nackten beginnt, sieht man, was Muriel Gerstner in die Bühnenmitte gesetzt hat: es ist rund, nach vorn offen, dreht sich, oben ist auch etwas rund mit Geländer, das Drehende ist in eine Art offener Kabinen geteilt.

Zwei Dinge sind mir eingefallen dazu, die ich wieder verwarf: ein öffentliches Pissoir und ein Bewahrort, in den man von oben, vom Geländer aus, nach unten schauen kann wie in Weimar auf dem Klassikerfriedhof, wenn man das Geld für die Gruft mit Goethe und ohne Schiller sparen will. Beide Assoziationen sind natürlich unsinnig. Ich tröste mich mit der Ratlosigkeit aller mir vor Augen gekommenen Premierenkritiken, denen auch nichts Brauchbares dazu einfiel. Wie auch zur Querbesetzung der beiden schon genannten Rollen, niemand wollte darin einen Sinn erkennen außer dem, es eben so nehmen zu sollen. Auch Barbara Frey kann an der bemoosten Tatsache nichts ändern, dass ein Mann in Frauenrolle fast automatisch komisch wirkt, eine Frau in Männerrolle keineswegs. Wobei ich gestehe, dass mich als Vorschulkind die Oper „Hänsel und Gretel“ mit Hänsel als singender Frau mit ihren unzweideutigen Wölbungen in der Bluse massiv und sehr lange anhaltend irritierte. Inga Busch kannte ich als Orlando, Katharina Thalbach besetzte seinerzeit in der Komödie am Kudamm alle Rollen mit Frauen, dann ist das wieder eine andere Qualität. Immerhin, kaum unfreiwillig bewertete eine Kritikerin, die die Premiere am 21. Oktober 2017 in Zürich sah, tatsächlich den Körper von Markus Scheumann, imaginierte ihn sich als Unterwäsche-Model.

Als Nacktheit auf der Bühne neu war und skandalträchtig, durfte Georg Hensel gerade ein Jahr lang eine Kolumne für „Theater heute“ schreiben, die zweite widmete er just diesem Thema. Er fragte pseudoprovokant: „Was habe ich davon, wenn Schauspieler nackt sind? Rezensiert man Genitalien, und, falls ja, nach welchem Maßstab?“ Es folgte eine kurze Geschichte der Bühnen-Nacktheit nach 1969, sie belegt nichts und widerlegt nichts, immerhin fand Hensel das schöne Wort von der „adamitischen Welle“, er kannte eine nackte Lady Macbeth, ein nacktes Heilbronner Käthchen. Fausts Gretchen hatte ihre erste Vollentblößung noch vor sich offenbar, denn Hensel stellte sie sich nur vor. „... doch was da ein nackter Mann zu bieten hat, ach, es ist von geringer Ausdruckskraft … Wenn sich die Herren entblößen, so sehen sie allesamt aus, als seien sie entworfen von Niki de Saint Phalle in einer schwachen Stunde.“ Immerhin: einem kann man zustimmen, zumal die Welle verebbte, wie das Wellen so an sich haben, so weit sie sich nicht einfach unter ihren Kolleginnen verlieren: „... auf der Bühne wird auch die Nacktheit zum Kostüm, und die künstliche Nacktheit wirkt dort nackter als die echte.“ Als am Ende der neunzig Spielminuten alle sieben Mimen und Miminnen nackt sind für kurze Zeit in dem Drehteil, ist das vor allem Symbol, weniger Kostüm.

Was Barbara Frey bravourös vollbrachte: eine Strichfassung, die den Eindruck vermittelte, es fehle nichts, obwohl doch so vieles fehlt. Die kleinen Rollen zum Beispiel: was haben andernorts nicht schon die Mägde, der Büttel, selbst der Vater Veit Tümpel für Vorlagen hergegeben zu kleinen, feinen Kabinettstücken. Hier konzentriert sich alles auf sieben Rollen und nicht nur das, es konzentriert sich darüber hinaus auf ein Tableau-Spiel ganz alter Tradition, in dem Darsteller nicht mit Agilität Leben auf die Bühne bringen, sondern mit Sprache, Tonfall, Mimik. Ich will der allgemeinen Begeisterung der Premierenkritiken am Spiel von Markus Scheumann als Adam nicht die Berechtigung absprechen, jedoch auch nicht verschweigen, dass mich am stärksten Michael Tregor beeindruckte. Wie der den Schreiber Licht, der alles durchschaut, alles voraussieht, alles arrangiert und endlich auch profitieren wird, eigentlich ausschließlich durch sein Sprechen, seine Blicke, fast unmerkliche Drehungen im Sitzen zum Charakter macht, das ist großes Bühnen-Kino. Und, tut mir leid, so ernst, so humorreduziert, wie offenbar die Premiere in Zürich wirkte, wirkte es beim Gastspiel im Großen Haus des Staatsschauspiels Dresden auf mich nicht. Der Strichtext mit seinen scheinbar doch unverbrauchten Paradestellen provozierte immer wieder Lacher im Parkett.

Friederike Wagner zelebrierte ihr klagebegründendes Wertgutachten für den Krug, der eben nicht zum Brunnen ging, um dort eines Tages zu brechen, in ehrenwertester Manier. Und ich bin immer wieder begeistert von Krügen, die beim Zerbrechen eigentlich gar nicht zerbrechen, sondern nur ein Loch bekommen, in das man mit dem Finger zeigen kann. Ein solcher Krug, so präsentiert in der neuen Lieblingssendung sehr vieler Deutscher, „Bares für Rares“, würde Spitzenpreise erzielen. Steht er bei Kleist für Geschichte und ein Bild von Geschichte, steht sein Zerbrechen für Verlust von Jungfräulichkeit: jede gelungene Inszenierung führt seltsamerweise von den tieferen Bedeutungen eher weg als zu ihnen hin. Bewegender ist immer wieder, dass Eve, die verdächtigte Eve, eben nicht als Vorhut heutiger MeToo-Debatten einher kommt oder zu vereinnahmen ist (Lisa-Katrina Mayer), sondern als eine dem Missbrauch noch eben so Entgangene, die ihre Rettung in vorletzter Sekunde just dem Ruprecht verdankt, der sie anschließend als Metze bezeichnet und damit seine Liebe eigentlich irreversibel diskreditiert. Wahrscheinlich sah er tatsächlich vor allem die bäuerliche Arbeitskraft in ihr, von der er schwärmt. Liebe ist in diesem Punkt wie Rechtsstaat, ihr sollte immer die Unschuldsvermutung gelten, ehe nicht gerichtsfest das Gegenteil bewiesen ist.

Man könnte, an Schiller denkend und hier anhand von Kleist, zu der Überzeugung gelangen, dass schreibenden Männern mit leichterer Hand junge Männer gelingen, die von einer zur anderen Sekunde das eben noch geliebte, angeschmachtete Mädchen der schnödesten Untreue für fähig halten, den Schein für Sein nehmend, was bei Kleist ein eigens abzuhandelndes Spezielthema ergäbe. Immerhin: Eve Rull war bereit, sich buchstäblich zu opfern für ihren Ruprecht, um dem das Schicksal eines überseeischen Militärdienstes in den Kolonien mit miserablen Überlebensquoten zu ersparen. Er selbst dagegen ist vor allem bockig wie ein Bub, dann freilich auch beredt beim Schildern der Abläufe aus seiner Erlebnissicht, Inga Busch macht das brachial gut. Dem Gerichtsrat Walter (Hans Kremer) geht wie allen Gerichtsräten zeitig ein Licht auf, ein Schreiber Licht vor allem natürlich, und in Zürich akzentuiert er die Absicht, die Ehre des Gerichtswesens unbedingt zu retten, nicht so betont wie andernorts des öfteren. Ihm hört man und sieht man eine gewisse amüsierte Grundsympathie an, denn schließlich und endlich sind die wortakrobatischen Pirouetten, die der Dorfrichter dreht, um sich immer weiter zu verheddern, nebenher einfach nur belustigend. Das Verbrechen, dessen er sich schuldig machen wollte, blieb letztlich ja auch im Vorsatz stecken.

Fußnote zum Programmheft: ein freundlicher der Generation Gleitsichtbrille entgegen kommendes hielt ich lange nicht in den Händen. Es enthält ein Gespräch mit Günter Blamberger, dessen 2011 erschienenes Kleist-Buch ich damals besprach, die Kritik ist noch immer nachlesbar in BÜCHER, BÜCHER unterm Datum 8. September 2011. Es enthält einen Text von Jorge Luis Borges „Die analytische Sprache von John Wilkins“, der einem im Parkett nicht wirklich hilft. Gerhard Schulz, ein anderer Kleist-Buch-Verfasser des Jahres 2011, hat sich auf Henri Bergson berufen und dessen Essay „Das Lachen“, der neuerdings gleich mehrfach neu aufgelegt wurde. Bergson war sich sicher, „dass sich das Komische zuerst an den Intellekt wende“. Schulz meint deshalb: „Kleists Meisterschaft im Lachenmachen ist in der Tat aus vielen Quellen gespeist: aus der Fülle seiner Sprache, aus seiner Menschenkenntnis, aus der emotionalen Anteilnahme an seinen Geschöpfen, aber zugleich aus Vernunft, Wissen, Klugheit. Der intellektuelle Kleist wird oft unterschätzt.“ Es ist ein großes, wenn nicht das größte Verdienst Barbara Freys mit dieser ihrer Inszenierung, solche Unterschätzung zielstrebig vermieden zu haben. Ihre Darsteller/innen machten ihr das leicht. Dresden sah nach Roger Vontobels „Krug“ 2012 ein Gastspiel, das nach Wiederholung ruft.
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