Shakespeare: Verlorene Liebesmühe!; Shakespeare Company Berlin

Auf der Suche nach einer Stimme, die Shakespeares frühe Komödie nicht oberlehrerhaft bemäkelt wie der Lustspiel-Historiker Helmut Prang mit seiner verblüffenden Unempfänglichkeit für Lustspiele, die selbst schon wieder lustig ist, wird man an einer Stelle fündig, die durchaus als Überraschung gesehen werden darf: bei Harold Bloom. Der schreibt: „Aber natürlich haben wir alle wie im Leben so auch in der Literatur unsere besonderen Vorlieben; ich für meinen Teil finde an „Liebes Leid und Lust“ ein so reines Vergnügen, wie es mir kein anderes Stück von Shakespeare zu geben vermag. Ich könnte nicht dafür argumentieren, dass diese Komödie etwa eine besondere ästhetische Qualität besäße, …, ich gestatte mir nur einfach die Illusion, dass Shakespeare eine besondere, unverwechselbare Lust genossen haben muss, als er dieses Werk schrieb.“ Das ist ein bemerkenswertes Statement: ein alles andere als unseriöser Shakespeare-Experte gestattet sich nicht nur eine Illusion, er nimmt sich aus ihr auch den Grund für sein ganz persönliches Vergnügen. „Liebes Leid und Lust“ ist der am alliterierenden Original-Titel orientierte, allerdings den Inhalt der Komödie verfehlende Titel von „Love's Labour's Lost“ in der Übertragung des Grafen Baudissin.

Wer den Spaß auf der Bühne erlebt, speziell in diesem Fall auf der Bühne im Schöneberger Südgelände in Berlin, der kann Harold Bloom aus tiefstem Herzen beipflichten. Das Stück gewinnt auf der Bühne im Vergleich zur Lektüre, gleich welcher Übertragung, geradezu unglaublich viel. Was ist da gemeckert worden: zu wenig und zu platte Handlung, zu viele Geistreicheleien, zu viele Wortwitze, keine Charaktere, keine Situationen, man könnte meinen, hier sei die Rede von einer einzigen theatergeschichtlichen Katastrophe. Für diese Inszenierung, die am 12. Juni 2018 ihre Premiere hatte, also noch sehr frisch ist im Vergleich mit manch anderem Repertoire-Stück der Shakespeare Company, das dennoch lebt wie am ersten Tag, hat sich Regisseur Jens Schmidl im Gespräch für das wie immer sehr bunte Programmheft fragen lassen, was ihn an Shakespeare fasziniere. Die Antwort ist so einfach wie herrlich: „Es gibt nichts Schöneres als Shakespeare zu inszenieren.“ Das wird womöglich den einen oder anderen Elfriede-Jelinek-Adepten sämtlicher gesetzlich zugelassener Geschlechter für zwei oder drei Mikrosekunden irritieren, dort aber geht es bekanntlich nicht um Theater für Publikum, sondern um Textflächen-Anstrich mit Mattglanz.

„Verlorene Liebesmüh“ spielt im Königreich Navarra. Selbst das muss betont werden, weil der altvordere Shakespeare-Anglist Ernst Theodor Sehrt die Handlung aus unerfindlichen Gründen nach Frankreich verlegte seinerzeit und im Verlag seines durchaus lesenswerten Büchleins „Wandlungen der Shakespeareschen Komödie“ das niemand merkte, was peinlich genug ist. Dort sind beim König, Könige scheinen damals kaum ausgelastet gewesen zu sein, einige Männer versammelt, die eine Akademie gründen wollen, was löblich wäre und im Zeitgeist läge, wenn die Gründer sich nicht zu geradezu lächerlichen Selbstverpflichtungen hätten hinreißen lassen, deren wichtigste eine dreijährige Enthaltsamkeit verlangt, verboten ist sogar der Blick auf eine Frau. Natürlich ist in den Satzungstext gewissermaßen das Scheitern schon eingeschrieben. Denn das Königreich Navarra, tatsächlich wie in der Komödie auch, in der unmittelbaren Nachbarschaft Frankreichs gelegen, erwartet eine diplomatische Mission von dort, ausschließlich aus Frauen bestehend, die Delegation wird von der leibhaftigen Tochter des französischen Königs geleitet. Shakespeare hat das Thema Frauenquote in der Außenpolitik also bereits unübertroffen und numerisch unübertreffbar behandelt.

Die Shakespeare Company hat die Not der kleinen Spielfläche und manch andere in beispiellose Tugend verwandelt: was auch immer an Rollen in der Vorlage vorhanden ist, es wird auf sechs Darsteller und Darstellerinnen verteilt und wenn das zu viel ist wie meistens, wird eine Reihe von Rollen einfach gestrichen. In „Verlorene Liebesmüh“ erwischt es auch solche, die als Verluste gebucht werden dürfen. Aus dem Gefolge des Königs ist Longaville eliminiert, aus dem Gefolge der Prinzessin in folgsamer Symmetrie Maria. Es fehlen der Dorfpfarrer Nathanael, der Schulmeister Holofernes, der Wachtmeister Dumm heißt hier Hohl, der Bauer Schädel ist aus dem originalen Costard in den Kostdat der Übertragung von Christian Leonhard verwandelt, Biron in Byron, was noch eine dem Ohr freilich nicht vernehmliche Zusatz-Assoziation ermöglicht. Der Rest ist präsent und zwar, sofort ist es zu sagen, auf durchweg umwerfende Weise. Wenn in der Pause und auf dem Weg zur S-Bahn Priesterweg jene Besucher, die ihre Freude meinten unbedingt verbalisieren zu müssen, von Spielfreude sprachen und einander zustimmend zunickten dabei, dann ist das in der Ordnung. Was der Mann aus der Reihe vor mir meinte, der eine rote Decke stahl, weiß ich nicht.

Immerhin war er für mich der Pausendarsteller schlechthin: Aufrecht mit dem Rücken zur Bühne stehend, entnahm er seinem blau-weißen Rucksack mit Lederverschlüssen zunächst eine Jacke, die er bis zum Abgang an den die Decken und Kissen zurücknehmenden Darstellern vorbei anbehielt, um anschließend die eng gerollte rote Decke quer in eben diesen Rucksack zu quetschen und nicht wieder herauszuholen. Vielleicht sammelt er Theatersouvenirs, er stand ausdauernd die komplette lange Pause mit dem Rücken zur Bühne und kommunizierte mit den beiden Paaren neben sich, deren Damen ein Spiel auf ihren Smartphones spielten. Die Dreistigkeit seines Diebstahls ist wohl sein Erfolgsrezept: niemand, der ihn zufällig beobachtet, glaubt, dass er wirklich klaut, aber er tut es. Aus der Reihe vor ihm bekam ein männlicher Besucher die Chance mitzuspielen, indem er einen Text vom Blatt zu lesen hatte. Er tat das mit erstaunlicher Professionalität, die wiederum von den Damen neben mir aufmerksam registriert wurde. Immerhin: den Decken-Workshop gab es diesmal nicht, wohl aber Musik, Lieder, Tanz und reihenweise überdrehte Bühnenaktionen, die eines sehr deutlich vorführten: wenn das Stück schon keine Handlung haben soll, dann doch furiose Dynamik.

Die Damen des Abends waren Isabelle Feldwisch, Vera Kreyer und Johanna-Julia Spitzer, die Herren Thilo Hermann, Benjamin Plath und Thomas Weppel, im Programm jeweils korrekt alphabetisch sortiert. Als Darsteller der royalen Parts hatten Isabelle Feldwisch eine und Benjamin Plath zwei weitere Figuren zu verkörpern: sie den hier Spross geheißenen Motte, er den Förster und den Wachtmeister. Die Glanzrollen des Abends hatten Vera Kreyer mit ihrem Don Armado und ebenfalls als Wachtmeister Hohl, der somit auf zwei Darsteller verteilt wurde, Johanna-Julia Spitzer als Kostdat und allein schon wegen des schieren Textvolumens, mit dem er souverän jonglierte, Thilo Hermann als Byron. Sein Zweitjob als Jacquenetta des Abends, umworben vom Spanier Don Armado wie vom Bauern Kostdat, gab ihm zusätzlich eine weidlich benutzte Möglichkeit zur Travestie. Der in unregelmäßiger Regelmäßigkeit aufbrandende Szenenapplaus signalisierte immer wieder: das Konzept geht auf, das Spiel macht den Spielenden und den Schauenden merklich Spaß. Dass hinter dem weißen Vorhang mit dem Wort „Fame“ sich noch allerhand verbirgt, sieht der Zuschauer erst fast am Ende: den Original-Titel der Komödie und etwas wie Fachwerk mit Flitter.

Natürlich gibt es auch zu „Verlorene Liebesmüh“ diverse so genannte Forschungsergebnisse, derart, welches Motiv von wo stammen könnte, welcher historische Umstand womöglich das eine oder andere Detail angeregt haben könnte, hauptsächlich aber wie immer Parallelstellen im Shakespeare-Werk selbst, wiederkehrende Rollenprofile. Den heutigen Zuschauer verblüfft womöglich am meisten der Auftritt der drei Herren als Moskowiter, hier ein regelrechter Brüller in der Auffassung von Hermann, Plath und Weppel. Sie führen vor, dass das Shakespeare sehr wohl kennzeichnende Merkmal einer Quasi-Nummernrevue funktioniert, ohne der Stückeinheit zu schaden, im Gegenteil, das prägt sie. Ob da nun zu Shakespeares Zeiten tatsächlich irgendetwas aus dem Reich Iwan des Schrecklichen ins Umland von Navarra oder Südfrankreich kam, ist weitgehend irrelevant, ob und wie er jemals überhaupt Russen ins Blickfeld bekam, wissen wir nicht. Immerhin: das „Spiel im Spiel“ gehört schon sehr früh zu den Lieblingselementen seiner Stück-Strukturen, hier ist es das amputierte Heldenspiel gegen Ende, an dem sich die Herren auf der Bühne delektieren zum eigenen und ebenso zum Vergnügen der Damen und Herren im Publikum. Siehe „Sommernachtstraum“.

Anselm Schlösser, Herausgeber der vierbändigen Aufbau-Ausgabe der Shakespeare-Werke, schrieb vor mehr als 40 Jahren: „Eine Rarität ist es auf der Bühne geblieben. Man möchte das Werk heute mit einem im Haupttrakt gut erhaltenen Lustschloss vergleichen, in dessen Seitenflügeln so manches verfallen und verschüttet ist. Der Geist des Architekten und seine Gesinnung sprechen uns an; das allzu exklusive Baumaterial und die Stukkatur haben der Zeit nicht standgehalten und sind gleichsam zu Purpurstaub zerbröckelt“. Lassen wir die Frage beiseite, ob Stukkatur ein exklusives Baumaterial ist, von Shakespeares Gesinnung ist mir wenig auffällig geworden, wenn ich davon absehe, dass auch hier die Sicht auf Frauen und ihre Darstellung mehr als auffällig ist. Die drei Darstellerinnen wissen und zeigen, was ihnen der Mann Shakespeare da an Spielvorlage liefert. Sie führen überlegene Klugheit vor, Durchsicht, Schlagfertigkeit, mit der sie es spielend-spielerisch schaffen, ihren Willen durchzusetzen, ohne die betroffenen Männer damit in ihrer Eitelkeit zu verletzen. Ob die Herren, als die Damen nach der Nachricht vom plötzlichen Tod des Königs von Frankreich eilig abreisen, ihre Auflagen erfüllen, bleibt der Zukunft nach Stückschluss überlassen.

Was heute nicht mehr Bildungsgut ist, ja es vielleicht nie war: als Shakespeare seine die gesamte Schaffenszeit anhaltende Freude an Wort- und Sprachspielen, verrückten Verballhornungen wieder und wieder exerzierte, war der Übergang von der Kunstsprache Latein zur vermeintlich vulgären Volkssprache, ein Übergang, den alle Länder und Sprachen erlebten, wenngleich nicht synchron, noch so frisch, dass einfach das Experimentieren im unverbrauchten, im unerprobten Material tatsächlich Vergnügen bereiten konnte, wie es Harold Bloom sich vorstellte. Die Sonette, die in „Verlorene Liebesmüh“ immer wieder vorgetragen werden, verweisen auf Shakespeares eigene Sonette, speziell sogar auf die „dunkle Dame“ dort, was dem Theaterbesucher freilich keineswegs bewusst sein muss, um die Dichtungen, die ihm überdreht pathetisch vordeklamiert werden, genießen zu können. Die Shakespeare Company Berlin animiert vielleicht andere Ensembles, die tatsächlich bis heute eher selten gespielte Komödie für sich und ihr Publikum zu erproben. Das wäre eine erwünschte Nebenwirkung. Ich gestehe: Weder von der längsten aller Shakespeare-Szenen noch vom längsten aller Shakespeare-Wörter bemerkte ich etwas: ich bekenne Zerknirschung. Ob das für die Shakespeare-Statistiker oder gegen mich spricht oder beides, überlasse ich der Nachwelt.
www.shakespeare-company.de


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