Kleist: Das Käthchen von Heilbronn, Südthür. Staatstheater Meiningen

Der Verlockung, es als besonders originelle Idee auszugeben, die allerletzte Aufführung einer Inszenierung zu besuchen und über sie zu schreiben, will ich gar nicht erst lange nachsinnen. Ich hätte gern eine frühere gesehen, der Terminkalender erlaubte es nicht. Auf alle Fälle aber wollte ich die Neuaufnahme erleben und vergleichen mit dem, was ich am 19. Mai 2010 sah, knapp vier Wochen nach den beiden Premieren. Das Fazit ist für mich höchst einfach: Die gute Leistung von vor zwei Jahren ist noch übertroffen worden. Alle Darsteller, drei von ihnen neue Besetzungen, wobei Matthias Herold auch damals schon dabei war, nur nicht als Kaiser, haben ihre Sache gut gemacht, soweit ihnen die Regie (Thomas Goritzki) dazu die Chance ließ.

Die gespielte Fassung hat alles in allem Stimmigkeit, Streichungen kann man immer bedauern. Hier ist es vor allem eine Erfindung, die mit fast allem versöhnt: der Cherub. Genau die bei Kleist als Rolle gar nicht explizit vorhandene Figur, die im Lauf der langen Aufführungsgeschichte Regisseure und Interpreten immer wieder vor höhere Hürden stellte, wird von Goritzki in einen roten Faden verwandelt, den man wahlweise auch als deus ex machina oder running gag betrachten mag. Hans-Joachim Rodewald gibt dieser Figur mit all seiner Erfahrung und all seinem szenischen Einfallsreichtum ein Profil, das, Phrasenschwein einmal außer Dienst gestellt, durchaus Maßstäbe setzt. Hans-Joachim Rodewald hat damit fast eine Hauptrolle, er darf die Texte etlicher anderer Kleistfiguren des Stücks sprechen, die im Gegenzug dann als eigene Rolle eingespart werden. Rodewald bleibt sich dabei äußerlich immer gleich, langer Mantel, Strickmütze, ein Kofferrolli. So kommt er ganz am Anfang über die Bühne, findet einen Flügel und klemmt ihn sich unter den Arm.

Um wirklich Cherub zu sein, der das Käthchen aus den Flammen rettet, braucht er nur seinen weiten langen Mantel auszubreiten. Einmal darf er, in der Textrolle des Köhlerjungen, den Rapper spielen, was viel Heiterkeit produziert. Ebenso, als er als Mütterchen Brigitte angesprochen wird, kurz stutzt, und dann den Text der Brigitte beginnt, wobei Kunigunde (Liljana Elges) immer, wenn das Wort „Engel“ fällt, einen Lachanfall hat oder simuliert. Rodewald ist Köhler und Köhlersohn, ist Prior Hatto, bläst den Feueralarm wie in Zeitlupe und über sein eigenes Tun erstaunt. Nicht wenigen Winzigkeiten seines Spiels merkt man an: Achtung, Kabinettstück! Und es stört nicht eine Sekunde, weil es immer integriert bleibt.

Noch einer von den „alten“ Haudegen der Meininger Bühne, Michael Jeske, hat sich eine Prachtrolle entwickelt: sein Theobald Friedeborn, Waffenschmied aus Heilbronn, ist ein überaus starker Vater, weil er ein schwacher Vater ist. Er stottert, verspricht sich, als er vor dem Femgericht seine Klage gegen Friedrich Wetter, Graf vom Strahl, vorzutragen hat, er demütigt sich über jedes Maß patriarchaler Zeiten hinaus, als er seinem Käthchen das Kloster von Prior Hatto ausreden will. Zum Ende steht er mit Kapuze und Mantel vermummt als falscher echter Vater neben dem echten falschen Vater Matthias Herold, der einst als Kaiser beim Besuch zu Heilbronn sich Gertrud näherte, die daraufhin neun Monate später zu Käthchens Mutter wurde. Das augenzwinkernde Geständnis ist noch jedem Kaiser-Darsteller zum Spielvergnügen geworden, Herold treibt es mit sparsamer Gestik wie weiland schon Ulrich Kunze.

Sophie Lochmann ist Käthchen und Kleists Käthchen ist noch keine sechzehn Jahre alt. Sie darf naiv sein, sie darf verwundert bleiben, und wenn sie bloß den Satz mit dem verliebten Käfer sagt, wie er nur gesagt werden kann, dann ist sie zugleich schon das ahnungsvolle, ja das wissende Weib voll von all jener weiblichen Überlegenheit über alle Ritter aller Zeiten, die angesichts einer solch zarten Jungfrau an Hirsche denken, die mit ihrem Geweih den Boden aufwühlen. Mit Bedacht gehört zu den vielen Streichungen der Meininger Textfassung auch jene seltsam notgeile Sexphantasie des Ritters, dem der Gedanke an die Hochzeitsnacht schon die Ohrläppchen nach oben drückt. Sophie Lochmann ist ein prächtiges Käthchen, das den letzten Triumph, den ihr Heinrich von Kleist erfand, nicht auf der Bühne erlebt. Der Showdown mit Kunigunde im Brautkleid ist gestrichen.

Liljana Elges, preisgekrönt, muss als Kunigunde hässlich sein, wie ein „maroder Webstuhl“ erscheint sie dem Ritter vom Strahl, als er ihre „mosaische Erscheinung“ noch vor ihrer Fertigstellung vor Augen bekommt. Was das Käthchen schreckensstarr zu verarbeiten sucht, den Anblick dieser Kunigunde, Sophie Lochmann sieht dabei ein wenig aus wie weiland Sissy Spacek als Carrie, ist die hohe Kunst der plastischen Chirurgie und Kosmetik, angewandt, eine lebendige Erscheinung in ihr pures Gegenteil zu verwandeln. Männliche Menschen werden diesen Aufwand nie wirklich verstehen, denn wenn die Eroberung schließlich irgendwann funktioniert, folgt ihr die Stunde der Wahrheit ja unweigerlich auf dem Fuße. Welche Stiftung Brauttest dann auch immer den Betrugsparagraphen der jeweiligen Gesetzbuches heranziehen mag. Liljana Elges ist hässlich, sie ist schrill, sie ist ordinär, sie ist hysterisch. Das alles muss man erst einmal spielen.

Harald Schröpfer, ganz in Weiß mit etwas wie einer eisernen Hand, die wohl für Liebhaber intertextueller Anspielungen erfunden ist, denn Kleist hat natürlich Goethes Götz gekannt, betritt das Drahtseil seiner Rolle unverzagt. Diesem Ritter ist letztlich nicht zu helfen, dieser Rolle haftet von Beginn nicht aufzulösende Widersprüchlichkeit an. Schröpfer wirkte vor zwei Jahren, als ich ihn zuvor als Wilhelm Tell gesehen hatte, als sei er sich nicht ganz sicher, wie er die Rolle auffassen will. Er begann hart und schneidend, aggressiv, bekam dann, was immer das für eine Idee gewesen sein sollte, als er aus der Gerichtshöhle geführt  und ihm die Augenbinde abgenommen wird, einen wild-asthmatischen Hustenanfall und gibt sich danach komisch softromantisch. Er würgt seinen Knecht Gottschalk (Renatus Scheibe), der anschließend röchelnd zu Boden stürzt. Komisch auch die Szene ausgespielt, als Kunigunde, die Mutter des Grafen und der Graf beieinander sind, lange dominiert stummes Spiel, Hände werden bewegt, gerungen, es wird mit Fingern geknackt, dann folgt die ebenfalls in Lustige gezogene Zerreißung der Dokumente, auf die sich Kunigunde stützte, bis sie errettet wurde vom Grafen aus der Gefangenschaft in der Köhlerhütte.

Dass dieser Ritter ständig latent unfreiwillig komisch erscheint, liegt an seiner Männlichkeit, weshalb die Herausforderung heftig ist für jeden Darsteller. Nicht nur hier berühren uns fast unverstellt die Kleistschen Tiefenrätsel, an denen alle Teufelskünste moderner und modernistischer Interpretationsakrobatik Riesenwellen schlagen und schnüffelnasig am Mikrodetail kleben. Harald Schröpfer ist immer auch ein Ritter, der mit weißem Schal heute mal ins Maxim gehen möchte, obwohl das natürlich noch gar nicht existierte zu dieses Kaisers Zeiten. Anachronismen sind ein Kleistsches Markenzeichen nicht nur dieses großen historischen Ritterspiels, das Immunität genießt gegen Kritikasterei in dieser Hinsicht.

Die letzte Aufführung war trotz Sonntags, trotz Fußball-Viertelfinales, trotz Regens draußen, sehr gut besucht. Es gab sehr viel Szenenapplaus und als sich die fünfzehn Darsteller zuletzt verbeugten, sahen sie entspannt und froh aus wie selten. Meine wunderbare Sitznachbarin war mit meinem einfallsarmen Fazit: „Das war gut!“ lächelnd einverstanden. Selbst Josephine Fabian, die als Nichte Eleonore ein Rollenhäppchen zu spielen hatte, dessen Nicht-Streichung wohl nur außerdramaturgische Gründe haben kann, darf allen Beifall auch auf sich beziehen. Um so mehr gilt das für alle Ritter und Femrichter, für Zofe und Mutter und den Diener Gottschalk. Katrin Buschings Bühne mit schräg nach vorn geneigten Wandelementen, mit Spannseilen, die auch als Holunderbusch zu nutzen waren, mit roten und blauen Tüchern, die Feuer und Wasser spielten, bewährte sich wie auch die unaufwendigen, vor allem auf Farbnuancen setzenden Kostüme. Die ganze Ritterei war gezerrtes Metall, das klirrte, rasselte und knallte, mehr musste nicht sein. Nach dem Kleist ist vor dem Kleist, möchte ich für Meiningen mal kalauern.
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