Ibsen: Ein Volksfeind, Südthür. Staatstheater Meiningen

„Mit Ibsen beginnt die Geschichte des Dramas von neuem. Allein das macht ihn schon zum bedeutendsten Bühnenschriftsteller nach Shakespeare und Racine.“ Klarer als George Steiner es 1961 in „Death of Tragedy“ formulierte, lässt sich das kaum sagen. Und dennoch hat es gerade bei „Ein Volksfeind“ aus dem Jahr 1882 immer Versuche gegeben, dem Stück Antiquiertheit nachzusagen. Das sah Herbert Ihering zu Beginn der Zwanziger so, das hat sich in den Fünfzigern wiederholt. Und heute sind wir mit der bei genauem Hinsehen gar nicht so überraschenden Tatsache konfrontiert, dass Ibsen wieder auf allen (deutschsprachigen) Bühnen auffällig präsent ist. Das Jahr seines hundertsten Todestages 2006 hat sicher letzten Anstoß dazu gegeben und nun sind beinahe wellenartige Wiederentdeckungsbewegungen zu registrieren. Erst spielen alle „John Gabriel Borkman“, jetzt eben „Ein Volksfeind“.

Meiningen kann also keinen Originalitätspreis für die Stückwahl beanspruchen, was die Inszenierung (Regie Lars Wernecke) natürlich erst einmal nicht betrifft. Die kann so oder so gut oder schlecht sein oder im weiten Feld dazwischen siedeln. Der Text selbst lässt scheinbar wenig Interpretationsspielraum, seine vermeintlichen oder tatsächlichen Ambitionen scheinen deutlich auf der Hand zu liegen. Wer den Text als „erstaunlich aktuell“ liest, muss sich zuerst fragen lassen, was an solcher Aktualität denn erstaunlich sei. War der Autor so vorausschauend oder hat sich in den 130 Jahren seit der Premiere so wenig substantiell geändert in der Welt, in der wir leben und erleben? Ich bekenne mich zur Fraktion derer, die das Vorausschaupotential auch großer Autoren für überschätzt halten. Am Kapitalismus, den wir jetzt wieder so nennen können, ohne sofort unter Ideologieverdacht zu geraten, hat sich tatsächlich nichts im Kern verändert. Selbst die Entwicklungen, die heute mit dem Etikett Globalisierung beklebt sind, haben die Herren Marx und Engels durchaus schon im Blickfeld gehabt.

Eine Geschichte, wie sie Ibsen erzählt, also die Geschichte eines Umweltskandals, könnte so zwar heute nicht mehr ablaufen. Wir haben alarmistische Medien, denen von seriös bis boulevardesk der Wirbel wichtiger ist als alles andere, wir haben mindestens eine Partei, die aus ausgemalten Horrorszenarien aller Art politischen Honig zu saugen sucht und wir haben vor allem eine hypersensibilisierte Öffentlichkeit, die wie Pawlows Hund schon reagiert, wenn die Lampe allein aufleuchtet, die früher nur im Zusammenhang mit tatsächlichen Gefahren leuchtete. „German Angst“ ist zum globalen Begriff geworden, der Sicherheits-und Rückversicherungswahnsinn zur Methode. Eine Ehrenerklärung eines Bürgermeisters oder Amtsrates in Sachen Wasserverseuchung würde heute buchstäblich niemand mehr auch nur eine Millisekunde glaubhaft finden. Und doch werden Geschichten wie die vom Kurbad mit dem verkeimten Wasser und den Reaktionen verantwortungsloser Verantwortlicher bei Bekanntwerden von Gefahr noch in ganz anderem Gewand einfach als gut vorstellbar hingenommen, man erinnere sich an den „Weißen Hai“.

Hätte Ibsen tatsächlich eine genau solche Geschichte erzählt, dann wäre das nicht Ibsen, sondern ein im Theaterjugendclub selbst entwickeltes Eigenstück zum Sachthema. Ibsen erzählt sehr viel weniger vom Kurbad, vom durch Gerbereien versauten Grundwasser, von falsch verlegten Wasserleitungen als von Doktor Stockmann. Den spielt Ingo Brosch in Meiningen vollkommen zu Recht nicht als Mann, mit dem man sich identifizieren kann. Dieser Badearzt hat wie alle anderen Männer im Stück (die beiden Frauen erst einmal ausdrücklich ausgenommen) private Interessen, die all sein Handeln bestimmen, und zwar auch und vor allem dort und dann, wo er sich dessen nicht bewusst ist. Er verrät sich wie alle anderen Männer auch. Die Regie hat die Rollen durchweg so spielen lassen, dass sie im Nebeneffekt jeweils Selbstentlarvung betreiben. Unter den Zuschauern im leider nicht vollen Großen Saal war immer wieder Verblüffung zu vernehmen, wenn zweite oder wahre Gesichter erkennbar wurden.

Es gab an bezeichnenden Stellen Lacher, die manchmal nur Ungläubigkeit signalisierten. Es gab an bezeichnenden Stellen die Lacher gerade nicht. Als Harald Schröpfer in seiner Rolle als Redakteur Hovstadt sagte: „Wir Zeitungsfritzen taugen nicht viel, meine Liebe“, lachte niemand, später, als er über lokalen Medien meditierte, lachten etliche. Ibsen hat seine Figuren alle, nicht nur den seltsamen Helden Stockmann, so charakterisiert, dass ihnen fast ohne Übergang Zustimmung gegeben oder Ablehnung bis Verachtung gewidmet werden kann oder muss. Wer eben sympathisch erschien, ist plötzlich ein knallharter Egoist. Wer eben liberale Gesinnung erkennen ließ, ist plötzlich engstirnig und ohne Rückgrat. Und die beiden Frauen? Anja Lenßen als Katharina Stockmann, Anne Rieckhof als Tochter Petra Stockmann? Ihnen will am ehesten reine Sympathie zufliegen. Doch das setzt voraus, von der phasenweise fast überdrehten Servilität der Gattin und von dem fast zu infantilen Idealismus der Tochter abzusehen. Bei Anja Lenßen habe ich das nuancenreichste Spiel des Abends gesehen, weil die Rolle das einmal hergibt, weil ihr Facettengehalt aber auch erkannt wurde. Und weil sie es kann.

Souverän und gewohnt markant spielten Michael Jeske den Bruder Peter Stockmann, Hans-Joachim Rodewald den Drucker Aslaksen, Ulrich Kunze Morten Kiil, den Schwiegervater und Gerbereibesitzer. Wenig auffällig blieb Matthias Herold als Kapitän Horster (die Figur ist so), so viel wie möglich und etwas mehr legte Lukas Benjamin Engel in seinen Nachwuchsjournalisten Billing, der gern in die Stadtverwaltung wechseln würde. Harald Schröpfer, schon erwähnt, gab in Person und geäußerter Weltsicht jenen Zeitungsmann, der in der Wertschätzungsskala der Berufe bis heute weit abgeschlagen in der Nähe der Politiker (und jetzt auch den Banker) auf den hinteren Plätzen landet. Die Regie ließ all die Miesigkeiten wirken, die sich Ibsen aus zum Teil kräftiger eigener Erfahrung heraus für sein Stück einfallen ließ: dreiste Erpressung, noch dreistere Unterstellung, eklige Anbiederung, brutale Machtausübung, hohle Phrasendrescherei. Das Stück auf der gut genutzten Bühne (Helge Ullmann, schöner Einfall mit den tropfenden Rohren unten) offenbarte deutlicher als der Text bei Lektüre seine Längen (vierter Akt) . Kürzungen hätte dennoch Verlust bedeutet.

Der „Volksfeind“ Doktor Stockmann, den Ingo Brosch vor allem nach der Pause, die um 21 Uhr erreicht war, so vorführte, dass einem Angst und Bange werden konnte, geht am Ende in einen Ibsen-typischen offenen Schluss. Seine sich bis in Ausrottungsphantasien steigernde Selbstüberhebung macht ihn zum Typus, der in der Realität schon „Öko-Faschist“ genannt wurde. Ostohren, daran sei erinnert, sind zudem sensibler im Umgang mit Bezeichnungen wie „Volksfreund“ und „Volksfeind“. Stalins Generalankläger Wyschinski unseligen Andenkens rief in den Schauprozessen dazu auf, Volksfeinde wie tollwütige Hunde zu erschießen, den Liebhabern des Apfel-Birnen-Vergleichs sei dazu auch Roland Freisler im Volksgerichtshof zu Leipzig ans Herz gelegt und dessen Rhetorik. Vom fliegenden Stein bei Ibsen ist der Weg, meine ich, überschaubar kurz bis in genau jene Regionen. Der DDR-Student erinnert sich jedoch auch des unvermeidlichen Lenin-Titels „Was sind die Volksfreunde und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?“ aus dem Grundlagenstudium, das heute Studium Generale heißt und frei ist von Lenin.

Privat steht Doktor Stockmann nicht nur nahe bei Nietzsche, er könnte auch ein Leser von Kleists Briefen an Wilhelmine von Zenge gewesen sein. Er behandelt seine Gattin (Anja Lenßen) fast nach Kleist-Drehbuch und sie hat ihre Stärken eben darin, die aufgedrungene Rolle anzunehmen, eigeninitiatv zu interpretieren und sie ebenso auch zu konterkarieren. Das macht sie mit all ihrer Schwäche zur starken Figur (und gut gespielten Rolle). In dieser scheinliberalen Familie verlassen die Frauen wortlos auf Befehl des Familienoberhauptes den Raum, sie kommen, wenn der Gatte und Vater ruft, sofort und widerspruchslos. Die starre Statue Gattin verwandelt sich umgehend in die muntere und unterhaltsame Gastgeberin, wenn das verlangt ist und sie hält im entscheidenden Moment auch vorbehaltlos zu ihrem der Hybris verfallenen Badearzt, der sich bis dahin versteigt, Jesu Worte am Kreuz als seine zu wiederholen.

Die Szenerie im Hause des Kapitäns Horster, der als einziger einen Raum zur Verfügung stellte für den Vortrag Stockmanns, bezog den gesamten Saal ein, Versammlungsleiter und Redner wandten sich vom Podest an das Premierenpublikum, als wären es die stimmberechtigten Bürger. Phasenweise spielte das Publikum richtig mit. Und seine Lacher seien wenigstens erwähnt: Als Michael Jeske Ingo Brosch die eigene Meinung verbot (Angestellte haben keine Meinung), als die Frage, ob etwas Relevantes in der Zeitung stehe, verneint wurde, als es hieß, die Allgemeinheit brauche keine neuen Gedanken. Die scheinbar aristokratischen, scheinbar volksfeindlichen Thesen von der dummen Mehrheit, die Doktor Stockmann bis zum Creszendo gesteigert vortrug als Ersatz für seine ihm verbotene Darlegung des Wasserskandals, die irritierten. Das war vielleicht die nützlichste Wirkung des Abends, der viel, wenn auch keinen stürmischen Beifall erhielt.
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