Tom Lanoye: Mamma Medea, Landestheater Marburg

Meine Euripides-Ambitionen stehen unter einem Unstern in dieser Spielzeit. Nur weil ich noch einmal im Internet nach der genauen Anfangszeit schauen wollte für „Die Bakchen“ in Weimar, sah ich, dass ich beinahe zu einem Abend mit Shakespeare-Sonetten gefahren wäre. Denn Weimar hatte den alten Griechen schon ewig abgesetzt, mir als Vorbesteller der Premierenkarte aber kein Signal davon gegeben. Das aktuell in Finanznöten schwebende Arnstädter Theater im Schlossgarten kündigte im Spielzeitheft, im Monatsspielplan April und selbst noch auf der ausgedruckten Eintrittskarte „Medea“ an. So traf mich fast der Schlag, als ich beim Anmarsch vom Wollmarkt-Parkplatz her am Plakat mit der Aufschrift „Mamma Medea“ vorbeilief. Das Programmheftchen zu einem Euro brachte endgültige Sicherheit: Marburg bringt keineswegs die „Medea“ des Euripides, sondern irgendetwas von irgendwem, von dem ich noch nie vorher, mit Verlaub, gehört hatte.

Ich wäre, das versichere ich vorab, nie im Leben freiwillig zu einem Theaterstück mit dem Titel „Mamma Medea“ gegangen, ich hätte wahrscheinlich nicht einmal sonderlich Neugier entfaltet, wenn ich den Autorennamen Tom Lanoye, es handelt sich um einen flämischen Belgier des Jahrgangs 1958, gelesen oder gehört hätte. Die belgische Literatur bewegt sich in meinem zugegeben laienhaften Horizont zwischen Georges Rodenbach und Georges Simenon, den fast alle für einen Franzosen halten. Ich fühlte mich, um es verständlich zu machen, wie einer, der meint, eine Karte für ein Pink-Floyd-Konzert erworben zu haben und dann eine Revival-Band auf die Bühne kommen sieht. Was auch immer diese Band dann spielen wird und in welcher Qualität, es wird nicht das sein, was ich hören wollte. Da schreibe einer dann noch halbwegs sachlich und objektiv eine Theaterkritik. Ich verordnete mir eine Nacht Ruhe, was ich sonst nie tue.

Also diese „Mamma Medea“ ist tatsächlich schon an sehr renommierten Häusern gespielt worden, Stefan Kimmig brachte sie 2007 in den Münchner Kammerspielen, Jorinde Dröse zwei Jahre später am Thalia in Hamburg. Wenn sich also das Hessische Landestheater Marburg dafür entscheidet, Premiere war am 24. November 2012, eine heutige Adaption eines uralten mythologischen Stoffes zu bringen, dann ist das kein Gegenstand für Mäkelei. Mir aber, der ich nie Stücke sehe, deren Text ich nicht vorher gelesen habe, denn wie sonst sollte ich Umsetzung beurteilen, wenn ich gar nicht weiß, was umgesetzt wird, mir aber verhalf die Kenntnis der Euripides-Übertragung von Dietrich Ebener wohl zu einer beeindruckenden Neubegegnung mit einer der größten antiken Tragödien, die es überhaupt gibt, zugleich aber zu einem Fallhöheerlebnis, wie es nur schwer zu verkraften ist. Die Lektüre des Programmheftes, sonst streng verpönt und frühestens auf die Zeit nach Niederschrift zu Hause geschoben, gab meiner Frustration neue Nahrung.

Der Belgier Lanoye hat, was sein gutes Recht ist, es unternommen, den Gesamtmythos der Argonauten zu dramatisieren, bei Euripides spielt die Vorgeschichte ja nicht einmal in Botenberichten oder Chorerzählungen eine Rolle, er interessiert sich ausschließlich für das mörderische Finale und kündigt es schon durch die Amme zu Beginn an. Das führt dazu, vielleicht auch nur in der Marburger Inszenierung des Regisseurs André Rößler, dass bis zur Pause der Eindruck entsteht, hier werde eine Art von ZDF-History ohne Guido Knopp geboten. Den Part des Fernsehprofessors übernehmen zwei Erzähler, dazwischen gibt es die üblichen Spielszenen. Für die hat die Regie freilich eine optisch durchaus attraktive Präsentation entwickelt. Mittel des japanischen Bunraku-Theaters (gut, dass es im Programmheft steht) zeigen die Akteure in engen schwarzen und etwas mehr gestalteten weißen Kostümen (Simone Steinhorst). Während vier Darsteller im Parkett stehen und wechselweise den Text sprechen, bewegen sich die Figuren auf der Bühne in einem Rund, das vage an ein antikes Amphittheater erinnern mag, wie eine Mischung aus Tänzern und Pantomimen, Münder formen den Text stumm, der unten gesprochen wird. Das hat etwas. Wobei sich mir die Assoziation Griechenland-Japan partout nicht erschließen will.

Eine dem Klassischen nachempfundene Szenerie mit Masken, Kothurn und Chor hätte keinesfalls weniger Fremdheit gegen heute bedeutet. Um so krasser dann der Bruch nach der überlangen Pause, die einigen Arnstädtern dennoch nicht lang genug war, sie störten das neu begonnene Spiel mit ihrer mühsamen und lautstarken Platzsuche empfindlich. Jetzt gab es nicht nur die Fallhöhe von der  Antike zu Lanoye, jetzt folgte ein allzu heftig an die Tragödien des privaten Nachmittagsfernsehens für bildungsferne Schichten erinnerndes Familien-Drama, verwandt mit Jason und Medea wie ein Bierfurz mit dem Widderhorn des Altes Testaments. Auf arg platte weibliche Eifersuchtsnummer heruntergebrochen, erklärt solche Inszenierung immerhin, warum niemand aufschreit, wenn von antikischer Tragödie geredet und geschrieben wird, falls wieder einmal ein oberfränkischer Beamter erst seine Kinder und seine Frau, dann sich mit der Dienstwaffe erschießt.

Um einen falschen Eindruck nicht lange herrschen zu lassen: Das, was die Marburger aus diesem Lanoye-Antike-Verschnitt gemacht haben, ist aller Ehren wert. Es interessiert mich nur eben nicht. Jedenfalls nicht mehr als die Wasserstände und Tauchtiefen in der von Moldawien abgetrennten Republik Transnistrien. All diese aufgesetzten Modernitäten, diese applizierten Klein-Albernheiten von „Gute Zeiten- Schlechte Zeiten“ bis „Verbotene Liebe“, der Blick des Jason-Darstellers Martin Maecker in Richtung seines Gemächts, als das Wort „Speer“ fällt, herrjeh, nicht einmal die Arnstädter riss es aus den Sesseln. Immer dann, wenn mitten im Reality-TV-Geplänkel plötzlich Sätze fast in der gebundenen Sprache der Antike auftauchten, offenbarte das Spiel Tiefe. Merke: Auch Sprache erzeugt Untiefe, unangemessene Sprache versaut beste Absichten. Natürlich kann ich nicht mit Euripides gegen Tom Lanoye argumentieren. Das war keine Euripides-Adaption, das war Marke Eigenbau. Leider, ergänze ich.

Sonka Vogt als Medea und Charles Toulouse als Telamon (einer der beiden den Jason beim Abenteuer Goldenes Vlies begleitenden Argonauten, der andere ist Idas, Ogün Derendeli) haben sich mir am meisten eingeprägt. Wacker die Kinder, sehr gut die Tänzerinnen in immer neuen Tableaus und fast ständig in Bewegung. Den anderen blieb überwiegend aufzusagender Text. Das will das Stück wohl so, auf alle Fälle wollte es die Regie. Die Arnstädter Intendanz bitte ich herzlich, solche Fälle fahrlässigen Etikettenschwindels künftig zu unterlassen. Es ist und bleibt ein Unterschied, ob „Medea“ oder „Mamma Medea“ angekündigt wird.
   www.theater-marburg.de


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