Brecht 1988 reloaded
Brecht ist ein Haus mit vielen Eingängen. Einer davon sieht so aus: „Ich benötige keinen Grabstein, aber / Wenn ihr einen für mich benötigt/ Wünschte ich, es stünde darauf:/ Er hat Vorschläge gemacht. Wir/ Haben sie angenommen./ Durch eine solche Inschrift wären/ Wir alle geehrt.“ Brecht ist gesehen worden, zum Beispiel von Max Frisch: „Die Faszination, die Brecht immer hat, schreibe ich vor allem dem Umstand zu, daß hier ein Leben wirklich vom Denken her gelebt wird.“ Oder von Sergej Tretjakow: „Er ist selbst ein lebendes Gegenargument. Ein geborener Deutscher, ist er trotzdem der reine Hohn auf alles, was wir Ausländer gewohnt sind, für deutsch zu halten.“ Und Brecht hat sich natürlich auch selbst gesehen: „Ich bin ein Stückeschreiber. Eigentlich wäre ich gern Tischler geworden, aber damit verdient man natürlich zuwenig.“ Auch so hat er sich gesehen: „Ich vergesse meine Anschauungen immer wieder, kann mich nicht entschließen, sie auswendig zu lernen.“
Um Brecht kommt man nicht herum. Man kann sich nicht beruhigen an ihm. Man kann ihn benutzen. Er hatte nichts gegen Nützlichkeit. Um zu ermitteln, wer schon über ihn geschrieben hat, ist es einfacher aufzuzählen, wer noch nicht über ihn geschrieben hat, es werden immer weniger. Wenn man ihn einfach lieben will, muß man hören, wie er selbst den „Mackie-Messer-Song“ gesungen hat. Oder Hanns Eislers Auskünfte über Brecht lesen. Man kann dann den Eisler gleich mitlieben. Brecht ist zur Freude der Philologen ihr Ärgernis, als Dialektiker. Er hatte die unglaubliche Fähigkeit, in drei Sätzen mehr zu sagen als manches hochgelobte Buch. Er hatte seine Lieblingsgegner. Die besten waren die, die er am wenigsten kannte.
Eine Katze hatte das Recht, auf seinem Arbeitstisch herumzuspazieren. Und die Beziehungen, die er einging, mußten produktiv sein. Er dachte an die Nachgeborenen. „Dabei wissen wir doch:/ Auch der Haß gegen die Niedrigkeit/ Verzerrt die Züge./ Auch der Zorn über das Unrecht/ Macht die Stimme heiser. Ach, wir/ Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit/ Konnten selber nicht freundlich sein.“ Und las, was über ihn geschrieben wurde, zornig: „nirgends ein ästhetischer begriff; das ganze ähnelt der beschreibung einer speise, bei der nichts über den geschmack vorkommt. wir müßten zunächst ausstellungen und kurse für geschmacksbildung veranstalten, dh für lebensgenuß.“ Man schrieb das Jahr 1950. Noch immer sind Vorschläge anzunehmen, die Brecht gemacht hat, noch immer braucht er diese Ehrung. „Volksherrschaft bedeutet Herrschaft der Argumente“, hat er in seinem „Buch der Wendungen“ notiert. Er hat Argumente geliefert. Wir können sie diskutieren.
Zuerst veröffentlicht in FREIES WORT, Beilage 5, 5./6. Februar 1988
unter dem Titel: „Ehren Brecht, indem wir ihn diskutieren...“
Brecht spricht für sich selbst, allenfalls müßte er seiner Bekanntheit entrissen werden, denn er verdient Aufmerksamkeit. „Sage keiner, erst müssen wir darüber sprechen, was für ein Friede es sein soll. Sage jeder: Erst soll es Frieden sein. Dulden wir da keine Ausflucht, scheuen wir da nicht den Vorwurf, primitiv zu sein! Diffamieren wir alle Regierungen, die den Krieg nicht diffamieren! Erlauben wir nicht, daß über die Zukunft der Kultur die Atombombe entscheidet!“ Brecht hat nicht die durchschlagende Wirkungslosigkeit eines Klassikers: „Das Denken gilt unter Regierungen, die der Ausbeutung dienen, als niedrig.“ Für Brecht war Denken Genuß. Auch Denken über die Kunst: „Die Kunst ist nicht dazu befähigt, die Kunstvorstellungen von Büros in Kunst umzusetzen. Nur Stiefel kann man nach Maß anfertigen.“ Deshalb wandte er sich an die kommunistischen Maler: „Wenn ihr gefragt werdet, ob Ihr Kommunisten seid, so ist es besser, wenn ihr zum Beweis eure Bilder als eure Parteibücher vorzeigen könnt.“
Seine Bilder hat Brecht vorgezeigt. Und er hat davor gewarnt, Nichtdenkende mit Andersdenkenden zu verwechseln. Deshalb ist Brecht kein Gegenstand stiller Verehrung. Er hat über die „Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“ geschrieben: „Da treten viele auf, als seien Kanonen auf sie gerichtet, während nur Operngläser auf sie gerichtet sind.“ Als er gestorben war, schrieb Arnold Zweig im Namen der Akademie der Künste: „Er hat sich zeitlebens nie gescheut, Anstoß zu erregen, oft mit Absicht, bei allen Gegnern des Neuen, Fortschrittlichen. Er hat uns nur einmal wehgetan: gestern nacht.“ Und Max Frisch notierte in sein Tagebuch: „Auch unser Mißverständnis hält er für nützlich; es warnt ihn.“ Brecht ist noch nicht am Ende seiner Möglichkeiten.
Zuerst veröffentlicht in NEUE HOCHSCHULE, Nr. 4, Jahrgang 31,
26. Februar 1988, Seite 5 unter dem Titel „Brecht 90“