Sie brachte Hoffnung in vieler Leben

„Ich kam in Berlin in einem Villenvorort an. Er war mit hoher Einquartierung bestraft, weil die Bewohner sich geweigert hatten, Flüchtlinge, die überall in Gruppen auf der Straße lagen, in ihre sauberen Villen aufzunehmen. Nach wenigen Untergrundbahnstationen begann die Einöde, das zerbombte Berlin. Die Straßen erkannte ich nicht wieder. Man mußte über Trümmer zur anderen Seite steigen. Nachts träumte ich in dem Zimmer, das man Freunden und mir beschafft hatte, von den verwirrenden Ausgrabungen neben der mexikanischen Stadt Oaxaca.“ Eine Emigratin war heimgekehrt. Weißhaarig, obwohl noch nicht 47 Jahre alt, weltberühmt vor allem durch einen Roman, der, nur ein Bücherschicksal in dieser Zeit, zuerst in einer fremden Sprache veröffentlicht wurde: „Das siebte Kreuz“.

Begrüßt wurden Anna Seghers und ihre Freunde in jenem ersten Quartier durch Wilhelm Pieck. „Schlaft euch zuerst einmal richtig aus“, sagte Wilhelm Pieck, „ihr seid ja jetzt daheim.“ Hinter Anna Seghers lagen vierzehn Jahre des Exils, schwere Jahre, Jahre aber auch voller Erlebnisse und Erfahrungen, Jahre des Kampfes und – produktive Jahre. Nicht weniger als vier vollendete Romane entstanden allein in den ersten sieben Exiljahren, daneben Erzählungen, Publizistik. Geschont hatte sich Anna Seghers nicht, nicht sich aufgespart für den Schreibtisch. Die Volksfront war ihre Sache geworden, sie hatte den I. Internationalen Kongreß zur Verteidigung der Kultur angeregt und dann, als er stattfand vom 21. bis 25. Juni 1935 in Paris, hielt sie ihre Rede „Vaterlandsliebe“ vor Schriftstellern aus 15 Ländern, die sich in einem einig waren: die Kultur mußte gegen die Barbarei des Faschismus verteidigt werden.

Noch blieb das Wort die Waffe, doch nicht wenige nahmen ohne zu zögern auch das Gewehr, als in Spanien auf dem Rücken des Volkes Putschisten, italienische und deutsche Faschisten für den Weltkrieg probten. Der II. Internationale Schriftstellerkongreß tagte in Madrid: demonstrativ und auch dort war Anna Seghers zugegen. Vierzig Jahre später, im Herbst 1976, ließ sie es sich nicht nehmen, eine Lesung Berliner Schriftsteller zu eröffnen, die Solidarität mit dem spanischen Volk bekundete. Vier Zeilen nur las Anna Seghers: „Ich lege die Hand auf Spanien...“, Verse des Dichters Lopez-Pacheco. Die Hörer in der Berliner Stadtbibliothek waren betroffen, die unvergeßliche Stimme der schon von Krankheit gezeichneten Schriftstellerin machte Schmerz und Hoffnung für ein jahrzehntelang geknechtetes Spanien geradezu körperlich spürbar.

Gut die Hälfte ihres Lebens hat Anna Seghers mit Berlin verbunden. Hier wurde sie Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands, hier trat sie dem am 19. Oktober 1928 offiziell gegründeten Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller bei. Hier schrieb sie für die „Rote Fahne“ und die „Internationale Presse-Korrespondenz“, hier diskutierte sie im Kreis der Genossen und Freunde über die Aufgaben der Literatur im Klassenkampf. Mit Georg Lukacs traf sie hier zusammen, den sie ein Leben lang schätzte, mit dem sie stritt. Von hier aus trat sie eine Reise nach London an, eingeladen vom PEN-Club als frischgebackene Kleist-Preisträgerin – der Laureat des Vorjahres, Hanns Henny Jahnn, hatte sie für den Preis nominiert -, und von hier aus reiste sie zum ersten Male in die Sowjetunion, zum Schriftstellerkongreß in Charkow, sie ging mit der Sammelbüchse um, während Erich Mühsam gegen die drohende Gefahr sprach, stellte ihre Wohnung für die Generalprobe zu einer Antikriegsveranstaltung zur Verfügung.

Wieder nach Berlin kam sie aus Mexiko, auf dem Umweg über Schweden, es war der 22. April 1947, im Gepäck Teile des großen Epochenromans „Die Toten bleiben jung“ und gewillt, sich zuallererst der demokratischen Umerziehung junger deutscher Menschen zu widmen. So bekannte sie in der „Täglichen Rundschau“ in einem ersten Interview. Und Anna Seghers übernahm Pflichten weit über die erste – ihr Werk – hinaus, wurde Präsidentin des Schriftstellerverbandes und Mitglied des Weltfriedensrates, hielt Reden von nachhaltiger Wirkung, obwohl sie nicht gern redete, schon gar nicht von sich. Sie fand ihr privates Leben nicht interessant genug für die Öffentlichkeit, nicht wichtig genug, wie sie auch einmal meinte. Auch in ihr Werk gab sie es nicht direkt, mit einer Ausnahme, der Erzählung „Der Ausflug der toten Mädchen“. Vermittelt aber und verarbeitet hat sie alles, was sie bewegte, gegeben.

Von 1955 bis zu ihrem Tod am 1. Juni 1983 blieb ihre Berliner Wohnung die Volkswohlstraße 81 in Adlershof, die Wohnung mit dem drei Quadratmeter kleinen Balkon, auf dem sie gern saß. „Weit kann die Kraft des Schriftstellers reichen: vom direkten Rat bis zur Auflichtung des Lebens. Sie kann einem einzelnen helfen. Sie kann Hoffnung bringen in vieler Leben, bis sie sich stemmen gegen den Untergang.“ Anna Seghers hat alle diese Möglichkeiten mit ihrem großen Werk verwirklicht.
  Zuerst veröffentlicht in: Berliner Zeitung, Nr. 272, Seite 9,
  19. November 1987 im Rahmen der Reihe „Berliner Biographien“


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