Helga Königsdorf las in Ilmenau

Daß sich Helga Königsdorf auf einen „heißen Stuhl“ setzt, eine wild-verwegene These gegen den Zeitgeist im höheren Sinne des Zeitgeist-Magazin-Zeitgeistes verkündet und gegen einige Absolventinnen der höheren Töchterschule, Moraltheologen und andere katholische Fundamentalisten verteidigt, während der wenig moderate Moderator alles „auf den Punkt“ gebracht haben will, weil der Werbeblock drängt, ist schwer vorstellbar. Sie setzt sich stattdessen – in Ilmenau beispielsweise – auf einen eher unspekatulären Bibliotheksstuhl und fragt erst einmal sieben- bis elfmal nach, ob sie in den hineren Reihen auch zu verstehen ist. Und das überschaubare Grüppchen von Lesern, das sich noch erinnert, daß es eine „DDR-Literatur“ gab, versteht auch.

Nicht ganz wie in der Einladung von Ilmenauer Bücherstube und Stadt- und Kreisbibliothek versprochen geht es: Gelesen wird nicht aus „Gleich neben Afrika“, sondern aus „Im Schatten des Regenbogens“. Helga Königsdorf gehört denn offensichtlich auch zu diese seltener werdenden Spezies, die nicht mit Lese-Kammerstückchen tingeln geht und die Pausen für die Lacher oder Weiner schon getestet hat vorm heimischen Rasier- oder Schminkspiegel. Sie liest aus einem noch unveröffentlichten, noch unvollendeten Manuskript, das im Aufbau-verlag erscheinen soll, und zwar noch vor der Frankfurter Buchmesse, die unter den Bedingungen der Bücher-Marktwirtschaft ja neu-bekanntlich als eine Art absatzvorentscheidende Autoren-Werk-Verlags-Peepshow fungiert.

Sie liest das, was die tonangebenden Damen und Herren des Groß-Feuilletons als das Verächtliche schlechthin zu betrachten beschlossen haben, etwas nämlich, was beim Hören nicht wende-opportune DDR-Phobie erzeugt, sondern eher das, was man Heimweh nach dem verordneten Arbeitseinsatz am Samstag nennen könnte (Helga Königsdorf nennt es um Buch auch so ähnlich und kommt darüber nicht ganz ohne Entschuldigung aus, wird aber schon nicht mehr total rot dabei). Es gibt Lacher im Publikum, und zwar hörbar vor allem dort, wo der „Königsdorf-Ton“ der alten Erzählbände neu zu vernehmen ist. Sie bietet lesend Häppchen mit Sichtweisen einzelner Figuren auf einzelne Figuren, alles im neuen alten Groß-Berlin.

Das Buch wird zu empfehlen sein, wenn es wirklich da ist auf dem „Markt“. Ilmenau hatte die Autorin Helga Königsdorf zum ersten Mal als Autorin in seinen Mauern, ein erster Besuch vor Jahren führte die Mathematikerin zum Kollquium auf den Ehrenberg, als dieser noch nicht Campus und die Gebäude dort noch nicht Universität hießen. Eingeweihte wissen, daß es nicht nur eine schlechte Zeit war. Helga Königsdorf hilft ihnen, nicht ganz zu vergessen.
  Zuerst veröffentlicht in: Freies Wort, 15 Mai 1993, Seite 5, unter
  der Überschrift: Eine, die hilft, nicht ganz zu vergessen


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