Diderot: Der Hausvater
Ein wenig verblüfft es dann doch: Reclams Schauspielführer, 1100 Seiten stark, hat einen einzigen einsamen Satz für ihn übrig: „Denis Diderot (1713 – 1784) schuf mit seinen Comedies larmoyantes eigenständige bürgerliche Dramen.“ Georg Hensel, dessen „Spielplan“ es auf volle 1740 Seiten bringt in meiner zweibändigen Ausgabe, schafft es sogar, Diderot überhaupt nicht zu erwähnen. Es muss also nicht als sonderlich peinlich angesehen werden, dass all die Jubiläumsartikel zu Diderots 300. Geburtstag am 5. Oktober den Theatermann schlicht vergessen, obwohl doch immerhin ein gewisser Gotthold Ephraim Lessing diesen sehr wichtig nahm und ihm in seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ über Wochen eine ganze Reihe von Druckseiten widmete. Geradezu ein Wunder wäre es angesichts dieser Umstände, wenn die große Kleist-Gemeinde, die vor zwei Jahren erst ein Jubiläumsjahr über sich ergehen ließ, mit dem Namen Diderot etwas anzufangen wüsste. Nur Peter Michalzik teilte den Lesern seiner Kleist-Biographie mit, dass Kleist seinen Diderot gut kannte, andere Kleist-Autoren haben gleich im Dutzend den Namen Diderot nicht für der Rede wert befunden, obwohl doch bei Kenntnis des „Hausvaters“ das eine oder andere Signalglöcklein durchaus hätte läuten können.
Peter Szondi darf für sich in Anspruch nehmen, in seinen Vorlesungen, die im Druck den Titel „Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert“ erhielten, Diderot als Theoretiker wie Praktiker des Theaters ernst genommen zu haben. Die unselige elitäre Praxis freilich, Hörern wie Lesern mit endlosen französisch-originalsprachlichen Zitaten den Zugang zu erschweren, hebt die Leistung teilweise wieder auf. Zumal Szondi nach einem leider nicht erkennbaren Prinzip bisweilen selbst übersetzt, da aber, wo eine durchaus gewichtige deutsche Fassung eben seit Lessing vorliegt, auf diese und ihre möglichen Schwächen nicht einmal hinweist. So gilt es heute festzuhalten, dass die speziell deutsche Tradition des hochmütigen Verachtens von Grenzüberschreitern, wie sie in Diderot ihren Musterfall haben, nur gegen ihre Pfleger spricht. Schon Lessing sah sich freilich genötigt, als er erste Ausformulierungen Diderotscher Theatertheorie in dessen Roman „Die geschwätzigen Kleinode“ zur Sprache brachte, auf die Gefahren hinzuweisen, die ein solcher Publikationsort, noch dazu verwoben in einen Dialog, mit sich bringt.
„Der Hausvater“, darum soll nicht herumgeredet werden, hat jegliche Bühnentauglichkeit verloren, falls er sie jemals besaß. In Frankreich lief das Werk miserabel und das lag ganz sicher nicht nur daran, dass es gegen die herrschende Bühnenmode recht heftig verstieß. Vielleicht zeigen sich die Grenzen von Aufklärung schon mitten auf deren Höhe am frühesten dort, wo sie ziemlich pur auf die Bühne gestellt wird. Kombiniert mit Theorie und Moral und Moraltheorie ist dem Publikum entgegen erklärter Absicht wohl doch mehr an Vergnügen genommen, als gut ist. Die Einbettung eines Dramas in eine dem Publikum aktual nicht verfügbare Ideengeschichte, der polemische Subtext von Szenen und Dialogen, der möglicherweise sogar europäische Relevanzen beansprucht, das überschreitet die Zumutbarkeit. Spielte man die fünf Aufzüge heute, in denen alleweil sich eine Person in einen Sessel wirft, die andere auf ihre Knie und das wäre dann schon alles an Aktion, der Rest ist Empfindsamkeit in der Sprache, dann würde man wohl nur Kopfschütteln ernten, zumal die Story selbst tückische Fallen stellen kann, zu Missdeutungen geradezu einlädt.
Worum geht es? Der Hausvater, dessen Name d'Orbesson ihn dem niederen Adel zuordnet, ist in Sorge. Sein Sohn kommt nicht nach Hause und gibt so Anlass zu den schlimmsten Spekulationen. Hier beginnt schon Fragwürdigkeit. Denn es bleibt vollkommen offen, warum dieser Vater, der Witwer ist und seine beiden Kinder im heiratsfähigen Alter ohne jeden Zweifel mehr liebt als alles andere auf der Welt, so wenig Vertrauen hat. Dieser Hausvater hat nicht den geringsten Zweifel an seinen Zweifeln und liefert mit diesem Urmisstrauen aus dem Nichts ganz nebenbei noch ein Reaktionsmuster für deutsche Klassiker, man nehme nur „Kabale und Liebe“. Den übergangslosen Umschlag in Misstrauen gibt es freilich schon bei Shakespeare, womit gewissermaßen allerhöchste Absolution erteilt ist für unmotivierte Verhaltensweisen von tragenden Bühnenfiguren. Der Sohn verhält sich nächtens natürlich keineswegs lasterhaft, er pflegt im Gegenteil die Tugend in fast unmenschlicher Mustergültigkeit.
Zum Hausstand des Hausvaters gehören neben dem Sohn St. Albin und der Tochter Cäcila noch ein junger Mann namens Germeuil und ein naher Verwandter, der Schwager d'Aulnoy, den Lessing als Komtur bezeichnet, anderswo heißt er Kommandant, was dann doch etwas anderes sein dürfte. Dieser Schwager verkörpert im Spiel das Böse in einer Weise, dass es auf keine Kuhhaut geht, er wünscht allen Ernstes dem Sohn seiner Schwester den Tod. Er verflucht seinen Schwager, seine Nichte, er wütet, er spinnt böseste Intrigen, missbraucht seine offenbar an seine gesellschaftliche Stellung gebundene Macht hemmungslos für rein private Ziele. Zwar ordnet sich eine solchermaßen gezeichnete Figur den Theorien Diderots durchaus ein, dramaturgisch aber sind solche Figuren kontraproduktiv. Ihr Gegenspieler auf vergleichbarem Niveau könnte nur ein Tugendbold höchsten Grades sein, nach der Natur wären beide nicht und gerade dieser Natur soll ja bei Denis Diderot alles abgelauscht sein. Lessing war für die inneren Schwächen solcher Dramenkonstruktionen sehr hellhörig, folglich hielt er seine Einwände auch keinesfalls geheim.
Zu den aufklärerischen Grundüberzeugungen des Hausvaters gehört vor allem die, dass man niemals seinen Leidenschaften folgen sollte, man soll, um es in der Sprache der Empfindsamkeit zu sagen, eben nicht seinem Herzen folgen, sondern dem Verstand. Er hat sich selbst in seinen jungen Jahren nicht so verhalten und wer dabei an einen gewissen Goethe denkt, der seine eigene Jugend später am liebsten ausgestrichen hätte, ist einem gar nicht so fern liegenden Zusammenhang auf der Spur. Der Komtur hält dem Hausvater das natürlich vor, der äußerliche Strenge immer mehr mit inneren Skrupeln bezahlen muss, als seine beiden Kinder trotz aller Folgsamkeit ihm nicht mehr folgen können und wollen. Tochter Cäcilia ist, wenn sie gezwungen wird, auf Germeuil zu verzichten, gewillt, ins Kloster zu gehen. Und genau hier bringe ich Heinrich von Kleist ins Spiel. Wenn dem nicht die Argumentation des Hausvaters bei Diderot in den Ohren klang, als er seinen Schmied im „Käthchen von Heilbronn“ gegen Käthchens Kloster-Gedanken reden lässt, dann wäre das ein seltsames Übereinstimmen. Zumal sich das Käthchen am Ende auch noch in eine echte Kaiserstochter verwandelt wie Diderots Sophia in die echte adlige Nichte des Komturs.
Im zweiten Akt singt der Hausvater das Lob der bürgerlichen Ehe in einer Weise, die vermutlich in schöner Literatur nie wieder so heftig vorgetragen wurde. Keine fünfzig Jahren vergingen von da bis zu den Jenaer Romantikern, die sich ausschütten wollten vor Lachen, als sie Schillers „Glocke“ lasen. Diderot lässt seinen Hausvater zur Tochter sagen: „Setzet der Ehestand uns grausamen Schmerzen aus, so ist er doch auch die Quelle der süßesten Freude. Wo findet man Beispiele des reinsten und aufrichtigsten Anteils, der wirklichen Zärtlichkeit, der innigsten Vertraulichkeit, des ununterbrochenen Beistandes, der wechselseitigen Zufriedenheit, des geteilten Kummers, der vernommenen Seufzer, der vermischten Tränen; wo findet man sie sonst als in der Ehe?“ Als die Frau Hebert die Szene betritt, bei ihr wohnt Sophia, in die sich des Hausvaters Sohn so sehr verliebt hat, dass er sie sogar zu entführen bereit ist, lautet die Regieanweisung: „Fr. Hebert setzet sich zuhinterst im Saale nieder und ziehet ihre Arbeit hervor, um nicht müßig zu sein.“ So sollten Frauen damals sein, sie waren so und sie werden heute dafür ausgelacht von ihren Geschlechtsgenossinnen.
Im Disput mit seinem Sohn St. Albin, der natürlich wissen will, welche Art von Frau denn für ihn in Frage komme aus Sicht des Vaters, wenn es die vermeintlich arme Sophia nicht sein darf, verteidigt sich d'Orbesson auf merkwürdige Weise: „Allein ich habe nie etwas von dir verlangt, ohne dir den Grund davon zu zeigen. Ich habe deinen bloßen Gehorsam, ohne deinen Beifall zu haben, niemals begehrt; und ich will bei dieser Herablassung auch noch itzt bleiben. Mäßige dich und höre mich.“ Kann einem bei diesem väterlichen Wunsch nicht vollkommen zwanglos ein Kurfürst einfallen, der dem Prinzen von Homburg genau das abverlangen will? Wichtig ist das Schlüsselwort Herablassung, um die es sich eben aus Hausvater-/Landesvatersicht handelt. Und wenn Sohn St. Albin verzweifelt ausbricht: „Ein Vater! Ein Vater! Es gibt keine Väter. - Es gibt nichts als Tyrannen.“ - ist zu diesem so verstandenen bürgerlichen Vater-Sohn-Konflikt bis zum deutschen Expressionismus noch irgendetwas hinzu gekommen?
Cäcilia wehrt sich vehement, als ihr zugemutet werden soll, Sophia aufzunehmen, die der Hausvater nach Hause reisen lassen will zu ihrer Mutter: „...mein Herz sagt mir, daß das Unrecht ist, und es // hat mich noch nie betrogen.“ Könnte dies nicht auch Alkmene gesagt haben in Kleists „Amphitryon“? Und Sophia wiederum droht unverhohlen: „Sie wissen nicht, was so eine wagen kann, die sich vor der Schande fürchtet, und die man in die Notwendigkeit setzet, das Leben zu hassen.“ Lessings Vorführung, was so eine wagen kann, heißt Emilia Galotti. Den letzten Satz des Spiels hat selbstverständlich der Hausvater: „O wie grausam – o wie süß ist es, Vater zu sein!“ Und dieser beinahe alberne Schluss passt zu dem vollkommenen Happy End, welches sich Denis Diderot für sein Musterstück ausgedacht hat. Er selbst wusste, wovon er schrieb, wenn auch nur am Beispiel einer einzelnen Tochter. Es ergibt sich die gar nicht so schreckliche Perspektive auf eine „ernste Komödie“, wie eine leicht fragwürdige Eindeutschung diesen Dramentyp nennt, die möglicherweise als Anreger, als Nährboden, als Szenenlieferant, als Konstellationsvorbild wichtiger war als je in sich selbst. Dann wäre das Jubiläum ihres Verfasser eine passende Gelegenheit gewesen, darauf neugierig zu machen.
Als Zugabe liefere ich ein paar Zitate aus Enzyklopädie-Artikeln, die Denis Diderot nicht anderen Mitarbeitern überlassen hat: „Die falschen Liebhaber der Künste verderben die Künstler, die halben Kenner entmutigen sie – ich meine in den freien Künsten.“ „Wenn man die Reform voreilig durchführt, so kann es leicht vorkommen, daß man alles verbessern will und doch alles verdirbt.“ „Eine Zeitung muß das Werk einer Gesellschaft von Gelehrten sein; sonst wird man in ihr auf jedem Gebiet die gröbsten Schnitzer feststellen.“ „Ein über alles spottender Journalist wäre ein lächerlicher Journalist.“ „Der wahre Philosoph wird zwar nicht vom Ehrgeiz geplagt, wünscht sich aber die Annehmlichkeiten des Lebens; er braucht außer dem unbedingt Notwendigen einen ehrlich erworbenen Überfluß, wie er für einen rechtschaffenen Menschen notwendig ist und durch den man allein glücklich wird; er ist doch die Grundlage aller Behaglichkeit und Bequemlichkeit.“ Ich beglaubige diese Sätze aus Solidarität und eigener Erfahrung.