Curt Goetz: Ingeborg
Als ich angelegentlich durch Schaan in Liechtenstein stolperte, es war zunächst am 21. Oktober 1997, dann noch einmal am 21. August 2002, ahnte ich nicht, dass er hier seinen Rückzugsort gefunden hatte, während ich meine ersten Lebensjahre mit passgerechtem Vergnügen in der nicht wesentlich größeren DDR verbrachte. Schaan ist, wenn man es nüchtern sieht, nicht der Brüller des Alpenraumes, schon Vaduz nebenan hat um Längen und Breiten mehr zu bieten, wobei eine Oldtimer-Rallaye, die durch Vaduz fährt, fast sicher auch Schaan passiert, damit alle Gelegenheitsbesucher wie halt ich ihren Unterkiefer klappen lassen können angesichts all der speichenrädrigen Herrlichkeiten, die da vorbeirollen, gelenkt von Herren mit Lederkappen, begleitet von Damen mit Lederhaut, deren jeder Quadratzentimeter mehr Pflege genoss als sechs Etagen voller Pflegebettinhaber.
Curt Goetz hat am 20. Dezember 1923 in Berlin, der Reichshauptstadt, Valerie Pajer Edle von Mayersperg geheiratet, das war eine österreichische Admiralstochter, was damals weniger verwunderte als heute, denn Österreich lag tatsächlich, ganz anders als Böhmen, eine Weile am Meer. Erst der Untergang des schönsten Vielvölkerstaates der jüngeren Weltgeschichte, ohne den die deutschsprachige Literatur um Waggonladungen ärmer wäre, womit der Nutzen von Untergängen hinlänglich und für immer erwiesen ist, erst der Untergang also schnitt die habsburgischen Kernlande, wenn man sich darauf einigen kann, das annähernd so zu nennen, von den Weltmeeren ab, hauptsächlich von der Adria, genauer formuliert. Valerie hatte ohnehin nicht das maritime Fach gewählt, sie war Schauspielerin geworden und den Curt, den lernte sie in Wien kennen, als sie neben ihm in seinem Dreiakter „Ingeborg“ die Titelrolle spielte.
Als Curt Goetz 1960 starb, widmete ihm der SPIEGEL, wenn man von einer Anzeige von „Mayser's Hutfabrik Ulm-Donau“ absieht, eine ganze Seite Nachruf. Damals mussten die SPIEGEL-Autoren noch namenlos bleiben, weil das Blatt, wenn es schon nicht von einer Einheitspartei abhing, wenigstens einen Einheitsstil pflegen wollte, was in wichtigen Elementen mit Einführung von Personennamen für Autoren bis heute nicht gänzlich verloren ging. Wenn man also bei Unbekannt, Seite 83 der Nummer 39 vom 21. September 1960 liest: „Curt Goetz war kein Dichter. Er konnte Stücke schreiben. Er konnte das aus jenem ff, mit dem man Effekt schreibt.“, dann ist man über diese formulare Pfiffigkeit so lange verblüfft, bis man „Ingeborg“ liest. Die Idee ist nämlich eine selbstironische von Goetz. Das liest sich bei ihm so: „Die Stückeschreiber, mein teures Herz, können gewöhnlich nicht dichten. Und die Dichter können gewöhnlich keine Stücke schreiben.“ Das sagt Tante Ottilie im Stück, die am laufenden Band solche Sachen sagen darf. Was Tantendarstellerinnen bis fast ans Ende der Theatertage Lacher sichern dürfte, auch Szenenapplaus.
Dennoch maulte, als im völlig zerstörten Berlin 1945 diese „Ingeborg“ als Zeichen wieder erwachenden Theaterlebens im späteren Westberlin, damals noch im Berliner Westen, aufgeführt wurde, der (Ost-) Kritiker Paul Rilla missmutig herum: „Sie zeigt den Goetzschen Witz nur in der einen Dimension einer etwas selbstgefälligen Konversation.“ Ein gutes Konversationsstück, das wusste natürlich auch Rilla, hat eigene Reize. Und ein solches ist „Ingeborg“ mindestens. Wenn ich heute die gnadenlos hölzernen Dialoge vieler DEFA-Filme höre, die schon vor dreißig Jahren nervten, dann will ich noch nachträglich meinen, die Drehbuchschreiber hätten damals auf alle Fälle die falschen Fächer belegt im Studium. Ganz gleich war es Goetz natürlich nicht, in der Schublade zu stecken, in der er für immer gelagert blieb, er ließ kaum eine Gelegenheit aus, Hoch-Literatur und ihre Träger zu ironisieren, auch in „Ingeborg“ nicht. Man hört die heimlichen Wünsche dahinter, Selbstironie ist vermutlich nur erfunden worden, um heimlichen Wünschen ein Tarnkäppchen aufzusetzen.
In „Ingeborg“ gibt es Ottokar, der sich mit Käferforschung befasst, was Goetz dennoch nicht zu intertextuellem Beziehungsaufbau in Richtung Ernst Jünger nutzt. Es gibt Ingeborg, die Gattin des Käferologen, die ihn liebt, weil sie in ihm, irrtümlich, wie sich herausstellt, einen Helden ihrer Backfischzeit vermutet. Es gibt Peter Peter, den tatsächlichen Helden, den ein Leberfleck am Knie der jungen Dame über die Jahre in Vorstellung und Erinnerung so fesselt, dass er sie wiedersehen muss, er ist jetzt ein Stückeschreiber, respektive kein Dichter. Und er verträgt wenig Bowle, jedenfalls weniger als Tante Ottilie. Die Tantendarstellerin kann jede „Ingeborg“ retten, soweit das Haus in seinen Garderoben denn überhaupt eine Adele Sandrock der Neuzeit findet, 1945 war es übrigens Käthe Haack, die heute freilich niemand mehr kennt. Dann gibt es noch einen Laubfrosch namens Hadrian, welcher mit Fliegen gefüttert wird, die Ingeborg notfalls auch auf der Stirn des Käfermannes erhascht.
So etwas wie eine Handlung gibt es auch, aber und da hat Paul Rilla natürlich recht, vor allem geht es um die witzigen Dialoge. Heute müssen ganze Gagschreiber-Bataillone angestellt werden, um dämlichen Serien jenen Verbal-Pingpong zu verschaffen, der den Dauereinsatz der Lachkonserve vom Band vermeintlich rechtfertigt. Nehmen Sie dagegen dies, beispielsweise: INGEBORG: „ Was meinst du, Tante Ottilie! Soll ein Mann seine Frau auf die Probe stellen?“ TANTE OTTILIE: „Niemals, mein Kind. Es wäre immerhin möglich, daß sie die Probe besteht.“ Oder: INGEBORG: „Warum sind wir Frauen so schlecht auf uns zu sprechen?“ TANTE OTTILIE: „Weil wir uns kennen.“ Das würde in der Montagssitzung bei der EMMA sicher nicht für allgemeines Schenkelklopfen sorgen, aber immerhin, es hat Wahrheit. Oder: PETER: „Ich habe mir ja nie eingebildet, Ingeborg, daß du mit mir fliehen würdest – irgendwohin ... INGEBORG: „Ich habe auch gar kein passendes Kostüm, Peterle...“ Das nötigt der intimgepiercten Jungfrau vermutlich keinen Grinseansatz ab, aber es hat, verdammt, Wahrheit. Obwohl die nicht den Artikel 1 der Curt-Goetz-Verfassung dominiert.
Es kommt alles, wie es kommen muss in diesem Spiel, Tante Ottilie trinkt Erdbeerbowle aus dem Bierseidel, Ottokar verbrüdert sich mit Peter und Herr Konjunktiv, der Diener, den es eigentlich nicht gibt, wie der Regietext frühzeitig vermerkt, weiß wohl, dass Ingeborg noch in den Park ging, ob aber auch zum Bach, das weiß er nicht. Seinen Stückeschreiber Peter Peter, der tatsächlich so heißt, jedenfalls lässt Curt Goetz sagen: „Es gibt Leute, die überhaupt nicht aus mir klug werden. Zu denen gehöre ich.“ Es wäre über sein Lob der Schülerliebe zu reden, über Tante Ottilies Satz für die ZEIT-Beilage: „Wer nichts hat, kann nichts verlieren. Und wer nichts zu verlieren hat, wird es
selten zu etwas bringen.“ Und weil es so schön ist, noch eine Ottilie: „Ohne Phantasie gäbe es keine Verbrecher und keine Dichter. Auch die Dichter sollte man hängen. Zum Glück hat man ihre Gedanken stets schon anderswo gelesen und ist gewissenmaßen vorbereitet.“ Ich fand die Idee, den neunzigsten Hochzeitstag eines toten Stückeschreibers zum Anlass zu nehmen, verlockend, der Tag ist heute und ich verweise auf meine beiden anderen Texte zu Curt Goetz in ALTE SACHEN und, ebenfalls erst kürzlich, hier in BÜCHER, BÜCHER.
P.S. Von mir neu im Buchhandel: „Meine ärgsten Freunde. Ein Vierhundert-Tage- Buch“; ISBN 978-3-95618-120-7, Softcover, 19,80 Euro.
Weiterhin lieferbar auch mein „Kulturschock NVA. Briefe eines Wehrpflichtigen 1971 – 1973, ISBN 978-3-86153-711-3, Hardcover, 19,90 Euro