Walter Hasenclever: Der Sohn

Das Stück hat noch kaum angefangen und zeigt schon seine männliche Titelfigur in heilloser Selbstüberschätzung: „Ich bin 20 Jahre alt und könnte am Theater sein oder in Johannisburg Viadukte bauen.“ Man wird davon ausgehen dürfen, dass „am Theater sein“ und Viadukte bauen in Südafrika auch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts keine direkt vergleichbaren Kompetenzen darstellten. Zu keinem Zeitpunkt des fünfaktigen Spiels fühlt sich der Autor Hasenclever veranlasst, das wenig bescheidene Selbstbild seines namenlosen Protagonisten zu begründen. Dies wäre, möchte man erklärend sagen, zu viel des alten, zu wenig des ganz und gar neuen Theaters. Dieser Sohn ist noch nicht volljährig, er hat, als der erste Akt im Dialog zwischen ihm und einem Hauslehrer einsetzt, gerade das Abitur vermasselt. Er war der Mathematikprüfung nicht gewachsen, man ahnt, wie seine ersten Statik-Berechnungen im Brückenbau aussehen würden. Hasenclever nennt das Abitur im Spiel Matura, was sehr präzise auf bestimmte Gegenden im deutschen Sprachgebiet verweist, genau dort aber spielt das Geschehen offenbar nicht.

Es fällt überhaupt schwer zu sagen, wo es spielt, denn mal ist von Hamburg die Rede, mal kommt ein Vierwaldstätter See ins Gespräch, zu dem zwar die Matura, nicht aber die Einhäusigkeit des Schauplatzes mit Vater, Gouvernante und Fluchtgarten passen würde. All das wäre, siehe eben, zu viel des alten und viel zu wenig des ganz neuen Theaters. Das noch vor dem ersten Weltkrieg entstandene Stück, vor der Buchausgabe in drei Fortsetzungen schon in den berühmten „Weißen Blättern“ gedruckt, ist voller Ehrgeiz geschrieben. Nimmt man gar jenes „Manifest zum Sohn“ als Maßstab, das der Autor für die Dresdener Aufführung am Albert-Theater Dresden am 8. Dezember 1916 eigens schrieb, dann darf man fragen, ob nicht viel zu viel Ehrgeiz waltete und den fünf Akten einen verheerenden Stempel aufdrückte. Solange der modische Expressionismus noch das ausgemachte Wohlwollen auf seiner Seite hatte, was kaum länger als zehn, zwölf Jahre anhielt, fand ein Schauspiel wie „Der Sohn“ genau dieses Wohlwollen auch bei den Kritikern, die nicht nur die Abhängigkeiten des Dichters, sondern eben auch die Schwächen des Bühnentextes zum Teil verblüffend genau und weitsichtig erkannten.

Man darf ein solches Stück nicht mit den herkömmlichen Maßstäben messen, lautete eine mit Verfallsdatum versehene Teilübereinkunft der Kritiker, deren Chor über die Jahre eine spezielle Würdigung verdient, die hier nicht gegeben werden soll. Solches Herkommen hätte bedeutet, die Fabel, den Plot des Stückes zu betrachten und zu bewerten. Doch schon die knappe Wiedergabe offenbart von erschütternder Plattheit bis haarsträubender Unwahrscheinlichkeit ein ungutes Bild. Der Schulversager von zwanzig Jahren redet sich sein Scheitern am Kegelschnitt zur Heldentat in einer bösen Welt um und schön. Er hasst seinen Vater. Er ist mit seinem Hauslehrer vertraut, er hat eine Gouvernante, die sogar bereit wäre, ihn in die Grundvollzüge männlichen Sexuallebens einzuführen und er hat einen Freund, der im Verdacht stehen muss, den jungen Mann mit seinen seltsamen Weltsichten vom ordentlichen Lernen abgehalten zu haben. Spätestens hier ist der Hinweis nicht mehr zu unterdrücken, dass Hasenclever Konstellationen von Schiller und Goethe auf überdeutliche Weise übernimmt, das ist auch niemandem verborgen geblieben seinerzeit.

So hat dieser Sohn eben Faustisches in seine Bühnenwiege gelegt bekommen und von daher eignen dem Freund mephistophelische Züge. Der Freund erinnert aber auch an Schillers Marquis Posa, der den Traumtänzer Don Carlos für politische Zwecke zu instrumentalisieren gedenkt, nur weil dieser einst auch politische unter seine allgemeinen Phrasen mixte. In der Ansprache an seinen von sämtlichen guten Geistern weitestgehend verlassenen Vater hat der Sohn einen Prozentsatz Carlos, und wie der Carlos bei Schiller noch Erbgut von Karl Moor aufweist, so auch der Sohn. Das Jahrhundert in die Schranken zu fordern ist diesem Hasencleverle noch fast zu wenig, es blieben zu viele andere Jahrhunderte unbeackert. Hier geht es um das „Volk der Söhne“, das  nicht nur seine aktuelle Welt, sondern am besten jede Welt, jede Zeit, ja die Wirklichkeit als solche aus den Angeln heben soll. Dumm und peinlich in seiner ganzen Gedankenlosigkeit ist nur, dass der Freund wie der Sohn scheinbar allen Ernstes glauben, die derart anvisierte Weltrevolution bräche nach der Initialzündung eines privaten Vatermordes aus, der ja doch immer nur eine normale Straftat bliebe.

Ein „Volk der Söhne“ ist politisch gesehen, soziologisch gesehen, historisch gesehen, eine in jeder Hinsicht missratene Fiktion, selbst wenn es heute Theoretiker gibt, die Teile des aktuellen Weltgeschehens aus dem Söhne-Überschuss im islamisch-nordafrikanischen Raum deuten. Bei Walter Hasenclever spricht schon das Stück selbst in kräftiger Sprache gegen die eigene konstitutive Grundannahme: Wenn im fünften Akt der Kommissar und der Vater aufeinander treffen und ihre unversöhnlichen Positionen als Väter gegeneinander stellen, führt das erlebbare Spiel auf der Bühne vor, wie dürftig, wie dünn das Konstrukt nächtlicher Söhne-Massen ist, die nur einer aufrüttelnden Rede bedürfen, um dem Massen-Vatermord entgegen zu stürmen. Da muss gar nicht mehr auf die ausgemachte Lächerlichkeit verwiesen werden, die in diesem Mummenschanz mit Frack und Maske Gestalt gewinnt. Wieso ein eben frisch gescheiterter Primaner übergangslos zum großen und erfolgreichen Demagogen werden kann, wäre auch eine Frage des alten, des gar nicht so alten Theaters, das nach Motivierungen ruft. Hasenclevers gar nicht so stilles Vorbild Schiller hat ein ganzes „Wallensteins Lager“ geschrieben, weil sonst „Die Piccolomini“ und „Wallensteins Tod“ auf tönernen Füßen gestanden hätten.

Ob und wie viel Reinhard Johannes Sorge, Frank Wedekind, August Strindberg in die Mixtur „Der Sohn“ gerührt wurden, ob bewusst oder unbewusst, ist nicht so wichtig, man kann es belegen. Hilfreicher ist, einen Blick in die Biographie von Ernst Toller zu werfen, wie sie Wolfgang Rothe für den Rowohlt Verlag aufgeschrieben hat. Er schildert die substantielle Nullnummer eines Gebildes, wie es der „Kulturpolitische Bund der Jugend in Deutschland“ darstellte. Den zugehörigen Aufruf Tollers billigte auch Walter Hasenclever, ihm folgte praktisch nie irgendetwas. Einer wie Toller ist hinter dem Freund des Spiels zu sehen, selbst wenn Hasenclever an den nie auch nur eine Sekunde dachte. Man liest bisweilen, es sei Kurt Hiller gewesen, der ein Urbild lieferte für den Freund, der den Sohn mit posahaften Intrigen zum Vatermord nötigen will und kurzzeitig sogar bereit ist, den Freund zu erschießen, falls dessen Brandrede nicht zündet. Nimmt man das für kurze Zeit wichtig, darf man auch eine Idee vortragen, die bisher, soweit sich überschauen lässt, noch niemand zur Deutung des Geschehens in „Der Sohn“ heranzog. Die seltsame Argumentation des Freundes, als er auf den Sohn trifft, nachdem der die erste Liebesnacht seines bisher jungfräulichen Lebens mit der Hure Adrienne hinter sich gebracht hat und nun die Welt mit buchstäblich vollkommen anderen Augen betrachtet, könnte eine erotische Komponente haben, eine homoerotische. Kurt Hiller war schwul und machte daraus kein Geheimnis. Ist der Freund im Stück vielleicht einfach nur eifersüchtig auf das andere Geschlecht, das ihm den Sohn zu entziehen droht?

Es ist weit weg von jedem Expressionismus, wie die Hure Adrienne mit einer selbstverständlichen Offenheit von den Dingen spricht, die im Denken und Fühlen des Sohnes bisher nicht die geringste Rolle spielten. Sie führt ihm vor Augen, dass man als Mann, nicht zuletzt als Ehemann, im wörtlichen Sinne etwas können muss, wenn man nicht Gefahr laufen will, dass die Gattin anderweitig die Befriedigung sucht, die ihr ahnungsloser und bestenfalls ungeschickter Gatte nicht zu geben vermag. Der Sohn ist umgehend bereit, derartige Paragraphen ins allgemeine Revolutions-Programm aufzunehmen. Das ist Realsatire und nährt massiv den Verdacht, dass Walter Hasenclever seine verquast-verquollene Absichtserklärung im genannten Manifest nicht wirklich ernst gemeint haben kann. Dafür spricht seine spätere Entwicklung zum Verfasser von Lustspielen, dafür sprechen seine oft herrlichen Feuilletons aus der Pariser Zeit von 1924 an. Im Stück stärken den Verdacht der Fürst, der ebenfalls noch nicht volljährig ist und die komische Figur des Cherubim in möglicherweise besonders schräger Assoziation zu Schillers „Jungfrau von Orleans“.

Nimmt man, bei heutiger Lektüre des Schauspiels, das niemand mehr inszeniert, die in hundert Jahren hinzu gekommenen geschichtlichen Erfahrungen zu Rate, dann kann man „Der Sohn“ auch als Geschichte einer Verführung zu individuellem Terror lesen. Salonrevolutionäre, Phrasendrescher aus guten Häusern, die mit Farbbeuteln begannen und bei Terrormorden und Flugzeugentführungen endeten, ist das so weit von dem, was Hasenclever natürlich gar nicht intendieren konnte, aber dem Stück, modisch gesprochen, eingeschrieben ist? Die Reden des Freundes machen in ihrer grässlichen Diktion aktuelle Angst, will mir scheinen, auch die unversehens brutale Konkurrenz unter den Weltrevolutionären ist alles andere als von gestern. Wieso nur, könnte man naiv fragen, sind die Ränder der politischen Szene fast vom ersten Augenblick an mit ihrer Selbstzerstörung befasst? 1927 schrieb Walter Hasenclever rückblickend: „Ich erkannte die Gefahr des zeitgenössischen Dramas, durch theoretische Experimente und literarische Verbohrtheit sich dem Leben zu entfremden.“ Knapper hat das nie einer seiner Kritiker zu formulieren gewusst.

„Du brauchst keinen Christus am Kreuz. Töte, was dich getötet hat.“ Sagt der Freund zum Sohn. „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, sang Rio Reiser den Text von Norbert Krause, es wurde die Hymne aller Freunde von Gewalt gegen Sachen. Walter Hasenclever führt einen Mann vor, der natürlich im orthodoxen Sinne kein Revolutionär ist, sondern das, was Erich Mühsam einen „Revoluzzer“ nannte, für den es verblüffend rasch genannte und verblüffend unkomplizierte Gründe gibt, warum Menschen aufgehängt werden sollten, getötet werden müssen. In aller sicher beabsichtigten Blasphemie ist von der Aufhebung des vierten Gebotes die Rede, es geht, jugendgemäß, um ein Provokations-Maximum, um das es bei dergleichen Revolte-Ansätzen immer geht. Beim vierten Gebot freilich darf man auch an Ludwig Anzengruber denken und dessen entsprechendes Stück. Und plötzlich ist das Neue gar nicht mehr so neu und war es auch damals schon nicht. Siegfried Jacobsohn meinte nach der Berliner Aufführung am 24. März 1918 mit seiner bekannten Ironie: „So viel Freiheit verlangt der moderne Sohn gewöhnlich gar nicht, wie der altmodische Vater ihm zu lassen bereit ist.“

Walter Hasenclever lässt seinen hyperbösen Vater, der die Hundepeitsche gegen seinen zwanzig Jahre alten Sohn schwingt, an einer Herzattacke sterben, als der Sohn die Pistole auf ihn richtet. Das erinnerte einst informierte Kritiker unangenehm an Hermann Sudermann, der heute natürlich niemanden mehr an irgendetwas erinnert. Während die Vaterleiche in der Bühnenmitte liegen bleibt, gehen nach dem Willen des Autors die Gouvernante und der Sohn nach verschiedenen Seiten von der Bühne ab. Gut denkbar, dass der erinnerte Anblick der sich langsam ausziehenden Adrienne den jungen Mann einen direkten Weg gehen lässt. Adrienne erzählte ihm, es gebe Männer, die nur ihre Füße schön fänden, vor denen tanze sie nackt auf dem Teppich. „Die Bejahung des Lebens ist nur einem Spitzbuben erlaubt, der im voraus weiß, wie er endet.“ Sagt der Freund dem Sohn, eher er verschwindet. In seinem allerersten Feuilleton aus Paris schreibt Hasenclever gleich zweimal den Satz: „Es ist schön, zu leben.“ So entlarvt sich ein Spitzbube, ganz sicher voller Absicht. Am 2. November 1923 spielte übrigens in Meiningen Veit Harlan den Sohn, Regie Franz Ulbrich, der später in Weimar Adolf Hitler mit Mussolinis Stück „Hundert Tage“ erfreute, es war 1932.


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