Franz Werfel: Der Abituriententag
Klassentreffen sind etwas, dem kaum jemand sich mit Überzeugung verweigert, denn mindestens beim ersten Mal dominiert wohl stets Neugier, was aus wem wohl geworden sein mag. Später lösen die Fragen nach den Enkeln die Fragen nach den Kindern ab und fast immer bleibt die eine Erkenntnis: Man ist nie wieder im Leben mit Menschen zusammen und findet sofort einen Ton miteinander, die man teilweise seit Jahren nicht gesehen hat, bisweilen ist die Vertrautheit sogar größer als je in den Schulzeiten selbst. Das gilt unabhängig davon, ob man gemeinsam Abitur abgelegt hat oder nur acht oder zehn Jahre in einer Schule verbrachte. Insofern beginnt Franz Werfel seinen schmalen Roman „Der Abituriententag“ einigermaßen irritierend. Diese Abiturienten, die sich 25 Jahre nach ihrem Schulabschluss 1902 erstmals wieder treffen, möchte der Untersuchungsrichter Landgerichtsrat Dr. Ernst Sebastian am liebsten gar nicht wieder sehen. Für ihn handelt es sich um „das Zustandekommen einer höchst überflüssigen und reichlich verlogenen Feier“, er ist überzeugt: „Um wieviel mehr Nervenfrische musste man für das Wiedersehen mit einer Schar von gealterten, einander grundlos duzenden Männern bereithalten!“
Als der Roman einsetzt, hat der Untersuchungsrichter eben einen Fall auf den Tisch bekommen, da ein Mann offenbar eine Prostituierte erschossen hat und man muss kein sonderlich geschulter Leser sein, um bald zu ahnen, dass dieser vermutliche Mörder etwas mit dem Abituriententag zu tun haben wird, vielleicht gar ein ehemaliger Mitschüler ist. Franz Werfel setzt die Signale zeitig und instinktsicher, die Spannung baut sich auf. Bevor die Feier selbst geschildert wird, hat der Leser die Gelegenheit, die erste gewissermaßen nur sondierende Vernehmung zu verfolgen, die Feier selbst nimmt nicht mehr als ein Kapitel in Anspruch. Und an ihrem Ende ist klar: Der vorgeführte Untersuchungshäftling Franz Adler muss jener Mitschüler von einst sein, dem eine Zeit fast alle eine große Zukunft voraussagten, der dann aber und nun ist es endgültig offenbar, all jenen Erwartungen nicht gerecht werden konnte. Es ist hoch vergnüglich, den präzisen Schilderungen der Sitzordnung, der Redeordnung und aller weiteren Ordnungen zu folgen, denn an der sozialen Hierarchie hat sich in den 25 Jahren von 1902 bis 1927 ganz offenbar so gut wie nichts geändert.
Diese Abiturklasse hatte einst 27 Schüler, von denen 15 erschienen sind, sechs leben nicht mehr, drei waren unerreichbar, drei haben die Einladung ausgeschlagen. Der puren Logik der Zahlen zufolge muss Franz Adler zu den dreien gehört haben, die unerreichbar waren. Von den sechs Toten sind fünf im Krieg gefallen. Man verkehrt während der Feier statusbewusst miteinander. Da der Roman 1927 geschrieben wurde und 1928 im Druck erschien, darf man alles, was erzählt wird, als Gegenwart verstehen. Der Dr. Ernst Sebastian ist Sohn des höchsten Richters des alten Österreich gewesen, neu in die Schule gekommen aus Wien, weil er dort die Ziele nicht erreicht hatte. Für den Vater ist der Sohn ein Versager, der den Namen der Familie beschmutzt, für den Sohn konstituiert sich daraus der geradezu mustergültige Vater-Sohn-Konflikt, den auch die Literatur längst mehrfach behandelt hat. Dieser Konflikt wird jedoch nicht im Buch ausgetragen, in dem es vor allem um die psychologische Tiefenwirkung geht, deren sich der Sohn nur punktuell, wenn auch zunehmend und bis zum Ende hin nicht vollständig, bewusst wird. Die Gegenwartshandlung 1927 nimmt weniger als ein Drittel des Textes ein. Alles andere ist Rückblende, konsequent aus Sicht Sebastians.
Vom Ende her gesehen könnte man sagen, dass Franz Werfel seinen Lesern zunächst eine Zentralfigur präsentiert, die sich selbst belügt über ihre Motive, warum sie im Innersten dem Abituriententag fern bleiben möchte. Im letzten Kapitel gesteht Ernst Sebastian dem Untersuchungshäftling, der auf dem Stuhl vorm großen Richterschreibtisch Platz nehmen muss, dass er zwanzig lange Jahre jede Reise unterließ, um einer möglichen Begegnung mit ihm, mit Franz Adler, sicher aus dem Weg zu gehen. Er selbst hat ihn einst unter tätiger Mithilfe des Schülers Komarek in einen Zug nach Hamburg verfrachtet mit der Maßgabe, er möge sich von dort nach Amerika einschiffen und dort sein Glück versuchen. Vom Klassentreffen aufgewühlt hat sich der Untersuchungsrichter zu Hause hingesetzt und stenografische Notizen über sein Leben begonnen. Der Anlass hat ihn, ohne dass man noch weiß warum, massiv dazu gedrängt, vor sich selbst eine Rechenschaft abzulegen. Die nach und nach klarer werdende Geschichte zwischen Sebastian und Adler ist eine Geschichte von Schuld, von sehr großer Schuld.
Die Rechenschaft kulminiert in dem Geständnis des Richters vor seinem Untersuchungshäftling, dass eigentlich er der Schuldige sei und bei Gültigkeit eines anderen Strafgesetzes auf dem Stuhl sitzen müsste, er, Sebastian, habe das Leben Franz Adlers zerstört. Am Ende der Nacht nach dem Abituriententreffen registriert der Richter erstaunt, dass das von ihm beschriebene Papier nicht annähernd im Umfang dem entspricht, was er erinnerte und auch nicht lesbar ist. Stattdessen sieht er allerlei Gekritzel und weiß augenblicklich: „Schon in der Schule war er ein berüchtigter Löschblattschmierer gewesen!“ Als die überraschende Lösung der Situation offenbar geworden ist, ist der Schluss des Romans vollkommen nachvollziehbar: „Er brach ab und sperrte, sie zusammenraffend, diese Geschichte einer Jugendschuld eilig in eine seitliche Schublade seines großen Richterschreibtisches.“ Man darf sich ausmalen, wie dieser Untersuchungsrichter künftig mit dem Bewusstsein seiner Schuld leben wird, wie sie seine künftigen Entscheidungen beeinflussen wird und ob überhaupt. Für den promovierten Rechtspraktikanten Elsner stellt sich der Montag seines Chefs als Überreaktion eines wetterfühligen Menschen dar.
Von den Reichen erfährt man: „Was diese jedoch anbetrifft, so äußerte sich ihr Reichtum nicht allein in dem Aufwand, den sie trieben, sondern mehr noch in der unbewussten Fröhlichkeit, mit der sie ihn trieben.“ Franz Werfel führt vor, wie sich Konfliktstoff anhäuft in einer Schulklasse, die im Prinzip offen ist für alle Schichten, aber die soziale Hierarchie dann nicht ausklammert, weil das gar nicht ginge. Etwas überraschend, doch nur auf den ersten Blick, denn das hat sich bis heute erhalten: „In mancher Beziehung übertraf ein großer Name sogar noch das Glück des Reichtums.“ Und weniger überraschend, wenn man einst einmal von Friedrich Engels „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ gelesen hat: „Gott hatte nicht nur das Geld auf unbegreifliche Weise verteilt, sondern auch das Gedächtnis.“ Der arme Schüler Komarek ist auch der mit dem schlechtesten Gedächtnis, er kann sich nichts merken und schafft es dann aber offenbar doch bis zum Abitur. Dass er andere Kenntnisse und Fähigkeiten hat, man scheut sich das heutige Modewort Kompetenzen zu nutzen, erfährt der künftige Untersuchungsrichter auf frappierende Weise, als es gilt, gestohlenen Schmuck an einen Hehler zu bringen, um Franz Adler mit Geld für die Flucht auszustatten.
Wie jedes Buch von Niveau kann man auch „Der Abituriententag“ nach Belegstellen für diverse Zwecke abgrasen. Denkbar für alle, die sich gern von Frauenfeindlichkeit abgrenzen möchten und dafür auf der Suche nach neuen Opfern sind, dieser Franz Werfel: „Nur Wesen, die allein im Augenblick leben, nur Geschöpfe ohne Rechenschaft und Erinnerung, nur Hohlköpfe, Hohlherzen oder Frauen vermögen nicht zurückzukehren, können die sonderbarste Mannesrührung, den Blick auf die eigene Jugend nicht verstehen.“ Ob da schon Werfels Erfahrung mit Alma Mahler eine Rolle spielte, soll hier unerörtert bleiben, die Freunde gepflegt bösartigen Klatsches seien auf Claire Goll verwiesen, aus in ihrem erfolgreichsten Buch „Ich verzeihe keinem“, nur eine Probe hier: „Werfel musste sich fast totarbeiten; Alma schloss ihn im Zimmer ein, um jeden Einfall, der sich etwa verflüchtigen wollte, am Entkommen zu hindern.“ Zu vermuten ist, dass ein einziger Satz von Claire über Alma in Gegenwart dieser zu mehr als nur einem Ringkampf geführt hätte, wie ihn Werfels Sebastian und Adler zweimal im Roman austragen. Es finden sich im Buch aber auch Belegstellen für Literaturprofessoren. Für Themen wie Werfel und Schiller, Werfel und Büchner, Werfel und Goethe, einmal ist sogar Kleist erwähnt, als es um Doppelselbstmord geht.
Ein Roman eines in Prag geborenen jüdischen Österreichers, der die Jahre 1902 und 1927 verknüpft, vermittelt im Nebeneffekt auch Kenntnisse über die Verfasstheit dieser Doppelmonarchie: „Der Staat war heilig, eine höhere Welt, der Himmel gleichsam, der sich unerkannt auf die Erde niedergelassen hatte, die sündhafte zu erlösen.“ Dass man in der Riege des Turnunterrichts der Größe nach stehen musste, hat sich, wie ich nun mit Vergnügen sehe, bis tief in den real existierenden Sozialismus erhalten und war schon unter Kaisern so. Dass aber einer, eben Franz Adler, mit sechzehn Jahren eine Tragödie schreiben kann über Kaiser Friedrich von Hohenstaufen und dessen Glaubenskampf, das ist über alle Gesellschaften hin eine Ausnahme geblieben, der grässliche und folgenreiche Neid des späteren Untersuchungsrichters dagegen gehört keiner aussterbenden Art an. Der junge Sebastian schmückt sich mit fremden Federn, gibt Gedichte eines gewissen Justus Frey als seine eigenen aus und diesen Frey gab es tatsächlich. Er hieß eigentlich Andreas Ludwig Joseph Jeitteles und dichtete unter dem Pseudonym Justus Frey, sein Sohn Franz gab 1894 zwei Bände seiner gesammelten Dichtungen heraus. Da sich zu diesem Delikt der harmloseren Art später noch handfeste Urkundenfälschung, Diebstahl und Mordversuch gesellen, muss man Werfel ein doch ziemlich überraschendes Richter-Porträt zugestehen. Dass dieser Sebastian aus tiefem Selbsterhaltungstrieb auch nicht ansatzweise an seine Schuld erinnert werden mag, ist mehr als nachvollziehbar.
Ernst Sebastian nutzt jede Möglichkeit, Franz Adler zu demütigen, ob es im Sportunterricht ist oder mit der systematischen Verführung zum Trinken oder, später, im Bordell. Adlers Leistungen lassen nach, er verliert das Vertrauen auch jener Lehrer, die ihn ebenfalls als großes Talent anschauten, die Tragödie nimmt ihren Lauf mit einem dramatischen Ende. Als dem Inszenator Sebastian klar wird, dass Adler von der Schule verwiesen werden soll, dass er selbst auch betroffen sein könnte, gibt es erst den plumpen Versuch, die Noten im Klassenbuch zu fälschen, dann einen gemeinsamen Selbstmordversuch, aus dem er sich davon schleicht, vom scheinbar teilnahmslosen Adler allerdings bemerkt. Rückblickend ist sich Dr. Ernst Sebastian sicher: „Ich glaube, er war wirklich zum Künstler und Philosophen geboren, weil er sein Genügen am bloßen Zusehen fand, ohne sich je ins Leben mischen zu wollen.“ Solche Wesensbestimmung von Kunst und Philosophie hatte in der DDR sicher nicht ihren treuesten Fan-Club, wo der Roman in hoher Auflage als bb-Taschenbuch erschien. Und wo der Philosoph die Welt gefälligst nicht nur zu interpretieren, sondern zu verändern hatte. Es kömmt darauf an, schrieb Karl Marx, und zwar tatsächlich mit diesem ö!
Dem Mädchen Marianne, dem Adler ein zerlesenes Exemplar von „Bunte Steine“ von Adalbert Stifter schenkt, Reclam-Ausgabe, dem erklärt der Schüler Sebastian, Stifter sei „einer der langweiligsten Schriftsteller der Welt“, es kämen bei ihm „lauter schrecklich gute Menschen“ vor: „Und dann ist er so belehrend …“. Ob Marianne das je überprüfte, erfährt der Werfel-Leser nicht. Wohl aber, dass der Schüler Komarek dem Schüler Sebastian die erste und einzige Ohrfeige seines Lebens verpasste und dieser es als durchaus gerecht empfand. Als Franz Adler dann am Montag verständnislos vor seinem Untersuchungsrichter sitzt, der sogar den Protokollführer weggeschickt hat, hört er von Sebastian: „Unser Strafgesetz ist der Vieldeutigkeit des Lebens nicht gewachsen. Aber die Rechtspraxis versucht auszugleichen.“ Alles deutet darauf hin, dass Dr. Ernst Sebastian seine Schuld irgendwie begleichen möchte, nur der angebliche Mörder zeigt einfach keine Einsicht, betritt keine der goldenen Brücken, die ihm sein Vernehmer baut, er leugnet rundweg jede Schuld. Und tatsächlich kommt der Rechtspraktikant mit der Nachricht, es habe nach Adlers Besuch noch ein weiterer Mann die Prostituierte besucht, was bedeuten würde, er könne der Mörder keinesfalls gewesen sein. 87 Jahre nach Erscheinen des Romans darf hier die Pointe ausnahmsweise verraten werden: Franz Adler ist nicht Franz Adler, er ist Franz Joseph Adler aus Gablonz. Alle Aufregung umsonst. Nur die lange verdrängte Schuld ist jetzt bewusste Schuld geworden.
Knut Beck hat zum 50. Todestag von Franz Werfel am 26. August 1995 in NEUE ZÜRCHER ZEITUNG, es war ein Sonnabend, geschrieben: „Es ist ein gleichsam rauschhafter Genuss, seine Bücher zu lesen.“ Das will ich an dieser Stelle nicht unterschreiben, wobei mich die Erinnerung an die Lektüre von „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ geneigt macht, es doch zu tun. Thomas Mann schrieb in seinem Nachruf: „Ich habe nie einen begabteren Menschen gesehen. Er strotzte von Begabung.“ Stefan Zweig hat Franz Werfel Romain Rolland gegenüber immer wieder in höchsten Tönen gelobt. Heinrich Mann dagegen, der die Exilstationen Frankreich und USA mit Werfel teilte, erwähnt diesen in seiner großen Autobiographie „Ein Zeitalter wird besichtigt“ mit keinem Wort. Darstellungen der Prager deutschsprachigen Literatur verweisen gern auf die Feindseligkeit von Max Brod gegenüber Werfel, Willy Haas dagegen, Begründer der „Literarischen Welt“, ist der immer wieder genannte Freund. Im kurzen siebenten Kapitel bringt Franz Werfel eine Deutung seines Romangeschehens in diese Formel: „Und wirklich, Sebastian hatte einen der unwiederholbaren, unwiedervorstellbaren Augenblicke unseres Daseins erlebt, in denen es zur Zündung kommt zwischen Gott und Mensch.“ Wer Gründe für Werfel-Skepsis bei Zeitgenossen und Späteren sucht, die nicht nur auf Neid fußen, hat hier einen Ansatzpunkt.