Franz Fühmann: Androklus und der Löwe
Ende März 1966, mein 13. Geburtstag lag einen Monat zurück, las ich dies Büchlein zum ersten Male. In meinem Register aller gelesenen Bücher trägt es die Nummer 286. Im gleichen Monat las ich „Das eiserne Büffelchen“ von Alex Wedding, „Charlot aus Paris“ von Jachnina/Aleinikow, zwei Bände „Spione“ von Lew Schejnin, „Nettelbeck“ von Curt Hotzel, „Steins Rückkehr“ von Claus Back und, unmittelbar vor diesem Fühmann, „Ihr Maß ist voll“, eine biographische Erzählung von Bert Brennecke über Georg Büchner. Bei einem PISA-Test damals wäre ich wohl sofort in Bronze gegossen worden, man hätte nicht viel Bronze gebraucht, ich war dünn und winzig. Und heute habe ich das KLEINE TROMPETERBUCH, es war Band 54 der Reihe, wieder hervorgekramt, war eigentlich auf der Suche nach „Vom Moritz, der kein Schmutzfink mehr sein wollte“. Der sich aber offensichtlich an anderer Stelle verborgen hält, die meinem Zugriff fast so endgültig verwehrt ist wie das tote Kind an der Kreideküste den Bergungskräften.
Was ist das doch für eine schöne Geschichte, die Franz Fühmann da nacherzählte. Vom Freiheitsdrang eines Sklaven, der sich ganz direkt, ganz ohne jede attributive Ergänzung oder Einschränkung nach Freiheit sehnt. Dem die Flucht gelingt, der in einer Notlage sogar Gewalt gegen einen Fischer anwendet, obwohl der, wie er später aus dem Munde eines klassenkämpferischen Alt-Gladiators erfährt, eigentlich sein Klassenbruder ist, mit dem er in einer Front gegen den eigentlichen Feind, die Reichen, die Sklavenhalter, zu stehen hätte. Soweit der Jargon der Eigentlichkeit. Androklus, dieser Sklave aus fernem Lande, gerät in Fänge von Häschern, weil er sich die Haare schneiden lassen wollte und Fühmann überlässt nicht seinen Lesern die daraus folgende Lehre, er hilft: „So geht es eben zu in der Menschenwelt. Die harten Dinge erträgt man, und die kleinen machen einen verzweifeln.“
Der natürlich böse Kaiser, der den wegen Flucht aus der Sklaverei zum Tode durch Kampf gegen ein wildes Tier in der Arena verurteilten Androklus als ersten sterben sehen möchte, ist bei Fühmann dick und trägt gekräuselte Haare. Ich stelle ihn mir vor wie den mittig platzierten Kugelblitz der singenden FLIPPERS, die uns eben noch aus Anlass ihres Rückzugs von der Bühne in einer einmaligen CD-Sammlung ihre 82.000 größten Hits präsentieren, respektive im Nachtprogramm präsentieren lassen. Dieser dicke, kräuselhaarige Kaiser rechnet natürlich nicht mit der ihm unbekannten Vorgeschichte zwischen dem Sklaven und dem größten Löwen des freien Afrika und in Unkenntnis oder Ignoranz zwischentierlicher Kräfteverhältnisse lässt dieser wirklich dämliche Kaiser einen gefürchteten schwarzen Panther mit dem Volksmund-Namen „Reißzahn“ gegen den kampfunwilligen Riesen aus Libyen antreten.
Was dem Reißzahn den tödlichen Übergang in den endgültigen Ruhestand einträgt, während der Löwe mit seinem unmissverständlichen Drohpotential den Kaiser dazu bringt, dem Wunsch des Androklus folgend, alle Sklaven und alle Gladiatoren, die sich eben in der Arena befinden, frei zu lassen. Fühmann weiß, dass diese Teilmaßnahme im Sinne der Lehre vom Klassenkampf als suboptimal zu werten wäre, greift missfälliger Beurteilung des Vorganges aber wiederum vorausschauend vor: „Es war schon so, wie der Gladiator sagte: Die Sklaven und alle Hungernden mußten sich verbünden, um ihre Freiheit zu erkämpfen. Das haben sie später auch getan. Damals, als Androklus lebte, war die Zeit noch nicht reif dafür. Aber wenigstens diese Sklavenschar hatte Androklus gerettet, und das ist des Berichtens wohl wert.“
An einem Übermaß von Autoren, die berichteten wie Franz Fühmann berichtete, litt die DDR nicht, auch Gesamtdeutschland nicht, weshalb er ein Großer bleibt, dessen Kinderbücher immer zuerst übersehen werden. Der Löwe übrigens war ein richtiger Märchenlöwe: „Er wurde dick und rund und war der gemütlichste Löwe der Welt. ... Schließlich nahm er sich eine Löwenfrau und sie hatten zusammen ziemlich viele pummlige Löwenkinder.“ Am kommenden Sonntag würde Franz Fühmann 90 Jahre alt.