Ana Blandiana: Kopie eines Alptraums

Als ich darauf kam, dass Ana Blandiana am 25. März ihren siebzigsten Geburtstag begeht, fiel mir bald ein, dass ihr Geburtsjahr mich schon einmal zu einem Satz veranlasst hatte, den die Redaktion, für die er gedacht war, für ihre Druckfassung strich. Mit meinen ersten Sätzen habe ich heute noch bisweilen Probleme. Selbst weniger redigiereifrige Desk-Redakteurinnen, die vom dritten Satz an sogar Fehler stehen lassen, neigen dazu, seltsame Paraphrasen meiner Einstiege unter meine Autorenzeile zu zwängen. Das wäre ein spezielles Thema. Beim Nachsehen im eigenen Archiv jedoch stieß ich darauf, dass ich damals, Ende 1988, offenbar der früheste Kritiker war, der die erste deutschsprachige Veröffentlichung Ana Blandianas gleich zweimal begleitete. Was mich angesichts ihres Entwicklungsganges und der späteren Aufnahme auf dem deutschen Literaturmarkt durchaus ein wenig stolz macht. Nur aus diesem Grund stelle ich beide alten Texte nicht in meiner Rubrik „Alte Sachen“ ins Netz, sondern hier, unter „Bücher, Bücher“.

„Aber sie leben. Erzählungen von Ana Blandiana – eine aufregende Entdeckung“, stand am 15. November 1988 als Titel über meinem leider sehr straff gekürzten Text in JUNGE WELT, am 16. Dezember 1988 ließ ich in NEUE HOCHSCHULE „Kennen Sie Ana Blandiana?“ folgen. Dieser Text ist mit meinem Manuskript vollständig identisch. Ich lasse hier beides folgen.

Ana Blandiana ist 1942 geboren und sie ist Rumänin. Daß sie ersteres nicht verheimlicht, ehrt sie und letzteres merkt man aus ihrem Buch. Es ist ein famoses Buch, das buchstäblich von der ersten bis zur letzten Zeile fesselt. Abgründiger Humor waltet da, zuweilen rabenschwarz, beklemmende Szenerien sind eindringlich beschrieben. „Kopie eines Alptraums“ ist der Titel des Bandes mit fünf Erzählungen und zugleich der Titel einer dieser Erzählungen, der schwächsten, wenn ich meine subjektive Rangfolge hier überhaupt ins Spiel bringen darf. Es fängt mit den Engeln an, die aus den ominösen Eiern schlüpfen, von einem nicht minder ominösen Mann an der Haustür einer Philosophie-Professorin abgeliefert. Allein dieser Einfall ist grandios. Beim Ende dieser Geschichte mochte ich verweilen, mir ausmalen, wie die kleinen rosigen Burschen über den Konferenztisch des wissenschaftlichen Rates flattern, an langweiligen Rededispositionen schnuppern, vielleicht dem Herrn an der Stirnseite ins Ohr pusten. Oder einen zusätzlichen Knoten in seinen korrekten Schlips binden.

Wie reagieren wir, wenn das absolut Undenkbare plötzlich Gestalt annimmt auf unserem Balkon? Ana Blandiana hat die Situation ausgekostet und ist dennoch sparsam mit ihr umgegangen. In allen fünf Erzählungen geschehen merkwürdige Dinge. Es gibt da ein Dorf, in dem nur noch uralte Leute leben, die Kirche ist vollkommen bedeckt mit Vogelnestern, die alten Leute greifen nach der Erzählerin ... Lange habe ich keine solch eindrückliche Szene vor Augen gehabt. Der längste Text des Buches heißt „Entwürfe der Vergangenheit“- er allein ist ungeheuerlich genug zu fragen: warum wußten wir nicht von dieser Erzählerin, fehlte sie zum Beispiel in den zweiten „Erkundungen“ aus Rumänien? Zehn Jahre lang leben da Menschen mitten in einer Einöde, in die sie ohne Erklärung von einer Hochzeitsfeier weg transportiert worden waren, sie leben. Wie sie leben! Im Rückblick dann erscheint eben diese grauenhafte Vergangenheit plötzlich als heroische Episode, wird immer mehr zum einzig erzählenswerten Lebensstoff der Beteiligten: ein sprechendes Stück Literatur, das mich sprachlos gemacht hat zuerst, zur letzten Erzählung mußte ich mich danach regelrecht zwingen.

Die fließenden Übergänge vom Realen, das in all seiner Absurdität die Wirkung des Phantatsischen erzeugt, zum wirklich Phantastischen – der fliegenden Kirche etwa in „Auf dem Lande“ - verhelfen zu keiner beruhigenden Distanz. Beklemmung bleibt Beklemmung, die Plattheit des alltäglichen Ärgers in den ersten beiden Erzählungen bekommt eine überraschende Tiefendimension. Ana Blandiana ist eine Entdeckung – das ist das mindeste, was zu sagen bleibt. Sie kann Sätze schreiben wie diesen: „Es lag etwas Rührendes und beinahe Ungehöriges darin, wie dieser Baum gewissenhaft und unermüdlich über Jahrzehnte hinweg Frucht brachte, ohne sich darüber zu wundern, was ringsumher vorging, ohne sich wenigstens zu fragen, ob jemand sein Obst noch brauchte.“ Solche Sätze machen Literatur zu großer Literatur.
 Zuerst gekürzt in: Junge Welt, Nr. 270, Seite 11, 15. November 1988

Schon mit dem Titel fängt es an: „Kopie eines Alptraums“ - was haben wir uns vorzustellen? Und die Geschichten dann, fünf an der Zahl, in denen das Wort „Alptraum“ noch mehrfach auftaucht, beschreiben Wirklichkeiten in ihrem Übergang ins Phantastische, ins Groteske. Ist diese Wirklichkeit die Kopie eines Alptraums? Es sind für mich nicht fünf gleichermaßen gewichtige Geschichten, mit denen uns die Spektrum-Reihe des Verlages Volk und Welt die 1942 geborene rumänische Autorin Ana Blandiana vorstellt, drei davon aber halte ich für ganz große, überraschende Literatur: „Nutzgeflügel“, „Auf dem Lande“ und „Entwürfe der Vergangenheit“.
Stellen wir uns eine Dorfhochzeit vor, wie wir sie aus Filmen kennen, aufwendig vorbereitet selbst in Notzeiten – von solchem Ereignis zehrt einer sein Leben – und plötzlich quietschen Bremsen vor dem Tor. Männer kommen, die ganze Hochzeitsgesellschaft wird auf Lastkraftwagen verladen und dann, willkürlich geteilt, in die Einöde des Baragan (steppenähnliche Landschaft in Rumänien) transportiert. Befehl an die Hochzeitsgäste: Dieser Platz ist nicht zu verlassen, kein Kontakt zu anderen Menschen ist erlaubt. - Sage und schreibe zehn Jahre leben die Menschen dann dort unter primitivsten Bedingungen, nach Jahren erst kommen Hirten vorbei mit Schafen ... Ana Blandiana erzählt eindringlich, löst Beklemmung aus. Rumänien in den fünfziger Jahren ... Die erste Geschichte aber, „Nutzgeflügel“, macht uns mit einer Philosophieprofessorin bekannt, die zur Geschichte des Atheismus arbeitet. Sie leiht sich ein Huhn, das Huhn brütet merkwürdige Eier aus, die ein mephistophelischer alter Mann ungerufen bringt, und heraus schlüpfen – Engel. Das muß man gelesen haben! „Kopie eines Alptraums“!
 Zuerst in: Neue Hochschule, Nr. 21, S. 5, 16. Dezember 1988

Erst im Mai 1989 raffte sich NEUES DEUTSCHLAND zu einer Kritik auf, im Juni der SONNTAG, die NATIONAL-ZEITUNG gar erst im Dezember 1989, reichlich eine Woche vor der Hinrichtung des rumänischen Diktators Nicolae Ceaucescu. „Kopie eines Alptraums“ erschien neun Jahre später im Gerhard Steidl Verlag, elf Jahre später in Fischer Verlag. Nicht immer hatte „der Westen“ die Nase vorn beim Entdecken von Ost-Dissidenten.


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