Arthur Eloesser, Prenzlauer Straße 26

Selbst große Suchmaschinen (keine Namen!) bieten dem nach der historischen Prenzlauer Straße Ausschau Haltenden umstandslos diverse Treffer für den Prenzlauer Berg, für die Prenzlauer Allee an, teilen mit, welche ähnlichen Suchanfragen es bisweilen schon gab, haben aber zur Prenzlauer Straße selbst erst einmal nichts zu melden. Dabei lässt sich, auf entsprechenden Umwegen sogar recht einfach, herausfinden, dass es diese Straße tatsächlich gab in Berlin, dass sie 1788 diesen Namen erhielt, nachdem sie bis dahin Heinersdorfer Straße hieß. Und, entscheidend, dass sie im Zuge des Umbaus des Ostberliner Zentrums überbaut wurde und 1969 in Teilen in die Karl-Liebknecht-Straße einging. Damit ist es nahezu aussichtslos, den Standort einer bestimmten Hausnummer der alten Prenzlauer Straße zu identifizieren, die vom Alexanderplatz bis zum Prenzlauer Tor verlief, das eben neu gebaut wurde, als die Heinersdorfer Straße umbenannt wurde. So weit eine natürlich nur vorläufige Suche ergibt, wies die alte Prenzlauer Straße insgesamt 62 Hausnummern (mindestens) auf. Unterstellt man, dass etwa die Hälfte davon auf jeder Straßenseite zu finden war, dürfte die fragliche Hausnummer 26 eher dem Ende als dem Anfang der Straße nahe gestanden haben (oder umgekehrt, wenn man aus der anderen Richtung in sie hinein schaute).

Die nicht mehr vorhandene Prenzlauer Straße 26 aber war jenes Haus, in dem der spätere Kritiker und Literaturhistoriker Arthur Eloesser seine ersten Lebensjahre verbrachte. Er selbst hat bis hin zu seinen späten „Erinnerungen eines Berliner Juden“ (1934 zuerst in der „Jüdischen Rundschau“ gedruckt) immer wieder einmal Reminiszenzen an diese Straße, an jenes Haus, an Nachbarn und Schulzeit veröffentlicht. Das Verdienst, viereinhalb Druckseiten aus den „Erinnerungen“ erstmals wieder einer potentiell neuen Leserschaft zugänglich gemacht zu haben, gebührt Kerstin Schoor. Die 1963 geborene Literaturwissenschaftlerin beschloss das von ihr im Wallstein-Verlag Göttingen 2010 herausgegebene Buch „Zwischen Rassenhass und Identitätssuche. Deutsch-jüdische literarische Kultur im nationalsozialistischen Deutschland“ mit einer eigens zusammengestellten Collage. Dort präsentierte sie Ausschnitte aus der 2. und 3. Fortsetzung des Eloesser-Textes, der heute natürlich mehr als je eine vollständige Veröffentlichung verdient. Ich gebe gern zu, dass ich mich gefreut hätte, wenn Horst Olbrich diese Neupublikation in seinem eigenen Verlag ediert hätte. Wie es scheint, war ihm nach seiner ersten Neuveröffentlichung „Wiedereröffnung“ die „Palästina-Reise 1934“ wichtiger, was es zu respektieren gilt. So fehlen die „Erinnerungen“ halt immer noch.

Gleich hier sei mitgeteilt, dass Kerstin Schoor sich in ihrer zum umfänglichen Buch gewordenen Habilitationsschrift „Vom literarischen Zentrum zum literarischen Ghetto. Deutsch-jüdische literarische Kultur in Berlin zwischen 1933 und 1945“ (ebenfalls Wallstein-Verlag Göttingen 2010) deutlich mehr Zeit und Platz für Arthur Eloesser genommen hat, ich werde mit einem eigenen Beitrag darauf zurückkommen. Hier sei erst einmal Eloesser selbst das Wort erteilt: „Ich habe die Sylvester meiner Kindheit in einer Altberliner Straße gefeiert, in einer echten Zufahrtsstraße, die draußen vor dem Tor, zwischen Wiesen, Kirchhöfen, Brauereien und Abdeckereien anfing und dann mit pfeilgerader Entschlossenheit in die innere Stadt eindrang. Diese im Ländlichen entspringende Straße umfasst ihrer Bestimmung gemäß die vollständige Auswahl aller Gewerbe und Berufe vom Schmied und Pferdehändler und Wagenbauer bis zum Rechtsanwalt hinauf, wenn es nicht ein Rechtskonsulent war; alle vorstellbaren Schichten von Proletariat, vom kleinen und mittleren Bürgertum hausten da ziemlich einträchtig nebeneinander oder vielmehr übereinander. Man kannte sich nachbarlich, die Straße hatte ein gewisses Gemeingefühl.“ Doch selbst im Verlag Arsenal war für den Neudruck von Eloessers „Die Straße meiner Jugend“ kein dazu passendes Foto zur Hand.

Statt der Prenzlauer Straße sehen wir dort die Prenzlauer Allee im Jahre 1907. Dann lieber gar keine Illustration als eine falsche. „Und wenn es in der Sylvesternacht zwölf schlug, so taten sich alle Fenster auf, und man beglückwünschte sich gegenseitig zu dem neuen gemeinsamen Lebensabschnitt. Aber namentlich von ganz oben und von ganz unten pflegte auf das punschfrohe „Prosit Neujahr“ eine derbe und in anständigem Schriftdeutsch nicht recht wiederzugebende Bemerkung zu antworten, die einer Verwünschung nicht unähnlich klang.“ Zu finden sind diese Erinnerungen in einem Feuilleton, das Eloesser für das Abendblatt der „Frankfurter Zeitung“ schrieb, zuerst gedruckt am 11. Januar 1921, Überschrift „Wunsch für Groß-Berlin“. Das meinte das erst 1920 per Gesetz gebildete neue große Berlin mit reihenweise Eingemeindungen bis dahin selbständiger Gemeinden und sogar Städte. Seine erste ausführliche Rückschau auf die Jahre in der Prenzlauer Straße aber trug den Titel „Die Straße meiner Jugend“, 1907 zuerst gedruckt, 1919 in die Sammlung von „Berliner Skizzen“ aufgenommen, die den gleichen Titel erhielt und den Band eröffnete. Diese Skizze hat über ihren biographischen Wert hinaus vor allem auch Bedeutung für die Geschichte Berlins, lässt sie doch das Bild einer Straße entstehen, die vollständig verschwunden ist.

Für sich und seine Generation resümiert Eloesser: „Wir wurden in der Pietätlosigkeit aufgezogen und müssen jetzt die beiden Generationen vor uns anklagen, was sie allzu unbedenklich, schonungslos dem Moloch des Fortschritts geopfert haben.“ Was würde der Feuilletonist wohl heute denken, wenn er eine ganze kommende Regierung „Mehr Fortschritt wagen!“ rufen hörte? Mehr Moloch wagen? Nun, Politik kann, weil es wenig kostet, zweihundert und mehr Jahre deutsche Geistes- und Denkgeschichte vom Tisch wischen, an einer geordneten Stadtentwicklung (nicht nur in Berlin) scheitert sie aber regelmäßig und kläglich. Stolz müsse er wiederholen, „dass unsere Kindheit sich in der Stadt, ob schön oder hässlich, noch autochthon fühlte, dass ihr eine Heimat gegönnt war. … Unsere Existenz schwebte nicht in der Luft, sie war noch wurzelhaft und innig verwachsen mit dem Viertel, mit der Straße, mit dem Hause.“ Wenn sein letzter Rückblick aus dem Jahr 1934 in den „Erinnerungen eines Berliner Juden“ einige Akzente anders setzt, Kerstin Schoor versucht aus dieser Differenz ein ganzes Buchkapitel für sich zu gewinnen, dann trifft das ja die früheren Sichten nicht wirklich. Es sei, man habe eigene Schwierigkeiten mit „Heimat“ als Wort und Begriff, man verschlucke sich selbst an Worten wie „wurzelhaft“ und stoße ideologisch auf.

„Das Haus hatte nicht nur eine Nummer, sondern auch einen Charakter, eine einheitliche Persönlichkeit trotz aller Verschiedenheit der einzelnen Glieder. Im Keller machte der Tapezier Rosshaarmatratzen aus Seegras, über ihm trieb das Posamentierfräulein seinen verächtlichen Handel, die Beletage, anders durfte sie nicht heißen, nahm der Kaufmann ein, und in der höheren Region vertrug sich der Schuster mit dem Schneider auf Grund desselben Zeitungsabonnements.“ Das Wissen, dass Eloessers Vater, der erst wenige Jahre zuvor aus Ostpreußen eingewanderte Theodor Eloesser, ein Kaufmann war, erlaubt uns die Vermutung, dass Arthurs Kindheit eine Beletage-Kindheit war. „Schon der Ersparnis wegen hielten die kleinen Leute sich nur eine politische Meinung, wenigstens im Vorderhaus, während das Hinterhaus sich des Lesens überhaupt enthielt. Dafür gewährte es uns, am Ende eines langen Berliner Hofes, mehr Freiheit und Natur, und es leistete unvergleichlich mehr zur Nahrung von Humor und Poesie. Da konnte man noch auf einem Misthaufen sitzen, aus dem jedenfalls ein Fliederbaum seine vielbewunderte und ängstlich bewachte Blüte sog.“ Das klingt wie Nostalgie, Verklärung von Kindheit, ist es aber nicht, jedenfalls nicht in erster Linie. Es geht um rasante Stadtentwicklung, ein stetes Thema Eloessers.

„Unten wohnten die Pferde und oben die Kutscher, alles brave Leute und unserer Hochachtung sicher, wenn sie nach vielen umständlichen Vorbereitungen sich auf den Bock der Equipage schwangen und peitschenknallend durch den mächtigen Torweg auf die Straße fuhren. Man hätte beileibe zu keiner Equipage Kutsche sagen dürfen, wenn unsere Beziehungen auch nur darin bestanden, dass wir die Räder beim Waschen der Wagen drehen durften. Jeder Hausgenosse segnete die Karossen mit stolzen Blicken, die so großartig auf das holprige Straßenpflaster herausrasselten, und die wahrscheinlich, wenn ich meine Erinnerung prüfe, ganz greuliche, schwerfällige Kasten waren.“ Die entweder, wenn sie nach links abbogen, rasch auf dem Alexanderplatz waren oder nach rechts zu noch eine mittlere Strecke bis zum Prenzlauer Tor vor sich hatten, wahlweise umgekehrt. Wegen der später bekannten Nähe zum „Scheunenviertel“ ist davon auszugehen, dass die Hausnummer 26 in naher Distanz zum Alexanderplatz stand, nicht am anderen Ende der Straße. Das Posamentierfräulein hatte es übrigens mit „Posamenten“, Posamente sind Dinge wie schmückende Geflechte, wie Zierbänder, gewebte Borten, Fransenborten, Kordeln, Litzen, Quasten, Volants, Spitzen aller Art, überzogene Knöpfe und Ähnliches, nichts Schlimmes unter der Beletage also.

Eloesser bedauert, dass seine Kinder „die Poesie des Stalles, die Behaglichkeit des Winterabends bei einer Öllampe, die berlinisch Tranfunzel heißt, nicht mehr kennen lernen, sie werden nicht mehr Trensen und Kandaren putzen, nicht mehr das Heu für die Arbeitspferde, Mais und türkischen Weizen für die herrschaftlichen Gäule beurteilen können.“ Das alles hielt seine Kindheit in der Prenzlauer Straße 26 noch bereit, übersehen hat er nur, oder vergessen, dass dereinst der Mais türkischer Weizen genannt wurde, weil man glaubte, Mais stamme ursprünglich aus der Türkei. Der Pferdestall war dabei noch ein ganz besonderer Ort: „Ich wüsste kein Lokal, das sich besser für Theaterspiele eignete, das nach seiner technischen Einteilung auch der verzwicktesten Handlung bereitwilliger die erforderlichen Schauplätze zur Verfügung stellt.“ Das eigene Haus war eine „feste Burg“, von der der Erzähler sagt, „jeder Insasse musste mit seinen historischen und diplomatischen Verhältnissen Bescheid wissen, musste sich immer gegenwärtig halten, welche Beziehungen gerade zu den anderen Nummern der Straße gepflegt wurden, ob Waffenstillstand, Friede oder Krieg.“ Am Prenzlauer Tor gab es eine Kneipe „Prenzlauer Berg“, vom Volksmund „Zum Sargdeckel“ genannt angeblich, und ein Foto mit ihr aus dem Jahr 1888 zeigt auch die schon ehemalige Brauerei Josty.

„Die Straße enthielt alles, was eine Straße enthalten muss, breite, bürgerliche Anständigkeit, kleinbürgerliche Gedrücktheit, proletarisches Elend und hoffnungslose Verkommenheit. Sie begann nicht unansehnlich und nicht ganz unsauber an einem Platze, der noch zum Zentrum gehört, und immer schmutziger, duftender, von einer gefährlichen Verwandtschaft zum Scheunenviertel gezogen, lief sie schnell zu einem Tod, wo kein Tor mehr war. Dieses Ende mit seinen Destillen und Kaschemmen stand nachts unter der besonderen Aufsicht der Polizei, aber am Tage heuchelte es Unschuld, und wie auf alles, waren wir auch stolz auf das Grauen, das von daher kam.“ Eloesser erinnert pure Jungens-Kindheit mit unblutigen Straßenkämpfen, Alkoholproben auf dem Mist, mit Fluchten, die nicht schimpflich waren, an Parallelstraßen als Feindesland. „Die Straße ging, wie schon bemerkt, von einem großen Platz bis zu einem Tor, wo kein Tor mehr war. Wir brauchten nur wenige Minuten … und wir waren, ohne Übertreibung gesprochen, mitten in der Mark. … Den Namen unserer Straße will ich nicht nennen; denn der Kenner wird mir einwenden, dass sie noch schmutziger und hässlicher war, als ich zugegeben habe, dass sie zugleich nach Sprit und Käse duftete und dass ihr Atem allein die Notwendigkeit der Kanalisation aufs dringendste dozieren musste.“

Für Eloesser endete die Straße seiner Jugend nicht an ihrem förmlichen Ende am Prenzlauer Tor, „sie brach sich einen Ausweg mitten in die Natur hinein. Sie ließ sich außerhalb der Stadt von einer Chaussee fortsetzen, die ihre unbiegsame Geradheit, ihre Unabsehbarkeit durch Wolkenbildungen von Staub zu verhüllen verstand.“ Auch dieser Verlängerung der Straße, der märkischen Landschaft, gilt liebevolle Erinnerung, verbunden gar mit einer frühen Aversion gegen den reichen Westen, den er selbst später dennoch zum Wohnsitz erkor. Drei Jahre später, als er sich mit seiner Skizze „Die neue Straße“ 1910 erneut berufen sah, zwecks einfachen Vergleiches zurückzuschauen, war die Prenzlauer Straße abermals präsent. „Die altberliner Straße, die mich entstehen sah, es war die feinste nicht, würde ich auch heute noch mit geschlossenen Augen wiedererkennen, und wenn mich liebliche Träume ins Kinderland zurücktragen, so schnüffle ich mich satt an dieser charaktervollen Atmosphäre, die durch die gemeinsamen Beiträge von Pferdeställen, Kaschemmen, Spritfabriken und Käsehandlungen hergestellt wurde.“ Und wieder dieses Bild: „Wir schlugen uns für unser Haus, wir belagerten die feindlichen Nummern oder wurden belagert.“ Im Rückblick unterschied Arthur Eloesser sogar richtigen und falschen Gestank. Den richtigen hatte die Prenzlauer Straße.

1934, in den „Erinnerungen eines Berliner Juden“, lesen wir: „An der Tür unserer alten Wohnung, in der ich die ersten zwanzig Jahre meines Lebens verbrachte, war eine offene Metallhülse angebracht, die als Inhalt ein Röllchen Papier erkennen ließ. Da ich als Junge meinen Vater nach ihrem Zweck fragte, hielt er sich nicht lange auf mit der flüchtigen oder beiläufigen Erklärung, dass die zehn Gebote darin enthalten seien. Die Mesusah ist dann bei unserem ersten Umzug nicht mit angekommen.“ Dass dieses Detail in den früheren Rückblicken fehlt, gilt es wohl festzuhalten, aber ausholende Erklärungen würde ich damit nicht verbinden wollen. „Mein Terrain war die Prenzlauer Straße mit den anziehenden Schrecken des benachbarten Scheunenviertels, und da kam ich schon genug auf meine Rechnung.“ „Das Haus, in dem ich geboren wurde und meine Jugend bis zu den ersten akademischen Semestern verbrachte, war noch eine Welt im Kleinen, ein ziemlich vollständiger Aufriss der Gesellschaftsschichtung oder ihrer Bauordnung aus übereinandergefügten Stufen, die zumeist die verschiedenen Steuerstufen bedeuteten.“ Diese Aussage revidiert nichts, zeigt aber, dass Eloesser einer war, der nicht bei sich selbst abschrieb. Was er nunmehr erzählend ausbreitet, ergänzt und erweitert, bringt aber weder neue Sichten noch irritierende neue Details.

Dafür macht es das bisher gezeichnete Bild plastischer, das Personal des Hauses mit der Nummer 26 vorstellbarer. „Der Hauswirt, … , dem ein im Hinterhof angebrachter höchst ansehnlicher Eisenhandel gehörte, war allerdings nur durch seine vollziehenden Organe vertreten, die die Miete einkassierten, Gesuche um Renovierungen kritisch entgegennahmen und nicht zuletzt die von uns Jungen zerbrochenen Fensterscheiben zur Bezahlung präsentierten.“ „Der sogenannte Reitstein, von dem der dicke kleine Mann, offenbar slawisch-wendischen Ursprungs, auf seinen Schimmel stieg, war eine Heiligkeit des Hofes.“ Es gab weder Stadtbahn noch den Schlesischen Bahnhof damals. „Im Parterre saß ein Tapezierer mit einem ziemlich kümmerlichen Betrieb, unbeliebt schon wegen der Dumpfheit und Muffigkeit, die aus seinem Laden von den erneuerungsbedürftigen Matratzen aufstieg.“ Rosshaar aus Seegras, wir erinnern uns: siehe oben. „Das erste Stockwerk, das aber Beletage genannt werden musste, hatten wir selbst inne, und über uns im zweiten wohnte wieder eine jüdische Kaufmannsfamilie, deren Lebenshaltung mit der unseren durchaus übereinstimmte. Der dritte Stock gehörte noch einmal dem Handwerk, es war das eines kleinen Schneidermeisters, den die Kundschaft aus der Nachbarschaft ungefähr leben ließ.“ Mehr Etagen gab es offenbar nicht.

Dafür fand sich hinter vier Etagen Vorderhaus das Hinterhaus: „Das kleine Hinterhaus bewohnte der Kutscher, der über die Luxuspferde gesetzt war, also in unseren Augen ein bedeutender Mann, dann der Vizewirt, der die zerbrochenen Fensterscheiben nach vorn zu bringen hatte, der aber sonst schon wegen seiner unheilbar polnischen Aussprache des Deutschen nicht ernst genommen wurde.“ Nicht zuletzt auch deshalb, weil er ein Katholik war. „Das Herz des Hofes aber war der Stall: die Pferde, die ja auch ein schönes Stück Geld gekostet hatten, wurden mit einer Hingebung gepflegt, mit einer Sauberkeit gehalten, auf die Menschen, jedenfalls die des Hinterhauses keinen Anspruch hatten. Wir versaßen im Stall besonders die Wintermonate, nur gegen die Verpflichtung, Trensen und Kandaren zu putzen oder Riemenzeug zu schmieren, eine frühe Könnerschaft, die mir später in meiner Militärzeit sehr zugute gekommen ist.“ Als die zu absolvieren war, wohnte Eloesser schon ein paar Jahre in der neuen nobleren Dahlmannstraße und hatte selbst zwei Kinder. „Der Stolz des Hofes aber war ein Fliederbaum, um den wir Jungen und Mädchen uns vom Frühjahr an abendlich versammelten, um uns, angenehm müde vom Spiel und Raufen, „etwas zu erzählen.“ Der Ausdruck plaudern oder sich unterhalten ist dem Berliner nicht geläufig.“ Das behauptete er schon 1907.

„Wir saßen übrigens nicht unmittelbar unter dem Fliederbaum, sondern vielmehr auf einem wohlgehaltenen Misthaufen, der ihn rund umgab und ihm wohl seine besondere Stärke und Lust zum Blühen verlieh.“ Das kennen wir schon, nicht aber Details über die Wohnung von Theodor und Johanna Eloesser. „Die beiden jüdischen Familien des Vorderhauses stellten zugleich die Bourgeoisie dar, man hatte eine geräumige Wohnung, darin ein oder zwei Zimmer für das noch übliche Halbdutzend Kinder, man hatte ein Badezimmer, und wem ein „Mädchen für alles“ genügte statt eines richtigen Hausmädchens und einer Köchin, der war auf dieser Stufe noch nicht angekommen.“ Doch war eine ganz andere Welt sehr nahe: „Wenn wir über die Mauer des Hinterhofes kletterten, gelangten wir in ein sehr ärmliches, verwahrlostes Nachbarhaus, das nur vom Proletariat, auch von jüdischem bewohnt war, und das, was wir Berliner Jungen früh genug einsahen, auch von den Erniedrigten und Beleidigten der Menschheit, besonders weiblichen, bewohnt wurde.“ Die Kinder, Eloesser nennt die Zahl fünf und spricht von Schwestern im Plural, zwei müssen es also mindestens gewesen sein, „genossen die Freuden des Stalles, durften wenigstens auf einem Arbeitswagen aufsitzen, auch einmal mit den Pferden zur Schwemme reiten“.

Aus der Prenzlauer Straße 26 ist Arthur Eloesser allein ausgezogen. Ob ihn da schon oder wenigstens später jener soziale Aufstiegsehrgeiz bewegte, der ihn über seine Wohnsitze immer weiter nach Westen führte, wie Andreas Terwey in seiner Magister- und in seiner Doktorarbeit unterstellt, will ich nicht entscheiden. Mir scheint eher, dass der junge Doktorand eigenes Weltbild inklusive an Wohnlage hängendem Sozialprestige in den Lebenslauf seines Gegenstandes hinein interpretierte. Nur in solcher Perspektive sind 25 Jahre Dahlmannstraße als soziale Stagnation zu deuten, wie in der Dissertation geschehen, die hier jedoch nicht Gegenstand sein kann. In seinen „Erinnerungen eines Berliner Juden“ lässt er im Abschnitt über die Schule immerhin dies verlauten: „In den jüdischen Familien herrschte immer noch ein starker sozialer Ehrgeiz oder Auftrieb, der im Anfang des Jahrhunderts mit der Emanzipation eingesetzt hatte. Man sprach mit großen Respekt, oft auch die Vermögen abschätzend, von den Glaubensgenossen, die mit schon patrizischem Ansehen in den Villen des Tiergartens saßen.“ Informationen, wann Arthur Eloessers Geschwister Wilhelm und Fanny (die älteren) oder die jüngeren Ida, Max und Richard die Beletage in der Prenzlauer Straße verließen, kenne ich gegenwärtig keine. Jede Aufklärung würde mich freuen.


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