Brigitte Birnbaum: Fontane landauf, landab

Mit „Theodor Fontane landauf, landab“ von Brigitte Birnbaum wollte ich mich schon befassen, als Theodor Fontane landauf, landab in allen Medien war, was manche hübsch regelmäßig mit „in aller Munde“ verwechseln. Zweierlei hielt mich davon ab: andere eigene Fontane-Projekte zum Fontane-Jahr 2019, vor allem aber die eigene Unkenntnis des ersten Fontanes-Buches der Autorin, ein rundes Vierteljahrhundert vorher erschienen, betitelt „Fontane in Mecklenburg“. Inzwischen kenne ich dieses Buch gut, zu gut beinahe, ich habe mich dazu fast unanständig ausführlich geäußert. Als Bändchen der Rhino Westentaschen-Bibliothek unterliegt das neue Buch zum neuen Fontane-Jahr natürlich anderen Gesetzen: Reihen-Gesetzen. Die kleinen hochglänzenden Bändchen mit vielen Farbfotos sind in ihrer Seitenzahl streng begrenzt, je mehr Stoff eigentlich zu umfassen wäre, um so strenger müssen Autor/Autorin und Verlag wählen und aussondern. Der Vorteil: das liest man rasch und noch rascher gar, wenn es halbwegs gefällig, halbwegs flüssig geschrieben ist. Man kann das Buch auch als Geschenk der Autorin Birnbaum an sich selbst lesen: zu ihrem 80. Geburtstag 2018.

Birnbaum folgt anders als in ihrem ersten Fontane-Buch deutlicher der Biographie in zeitlicher Abfolge, die dreizehn Kapitelchen tragen diese Überschriften: Neuruppin; Swinemünde; Berlin; Leipzig/Dresden; Letschin, Berlin, Berlin; England und Schottland; Wieder in der Heimat; Ilmenauer Forellen; Als Spion verhaftet; Warnemünde, Kloster Dobbertin; Auf nach Stralsund und Rügen; Waren/Müritz; Augustabad Neubrandenburg. Der laufende Text auf weißem Papier wird mehrfach unterbrochen von originalen Fontane-Texten auf hellblauem Papier, vor allem lyrischer Art: Es beginnt mit dem „Frühlingslied“ und endet mit „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“, zwischendrin beansprucht die Ballade „John Maynard“ immerhin doppelt so viele Druckseiten wie das sicher als Hommage an den Verlagsort Ilmenau gedachte „Ilmenauer Forellen“. Und gleich verärgert das „Frühlingslied“ mit einem ärgerlichen Druckfehler in der ersten Zeile. „Der Frühling kann“ steht da, statt „Der Frühling kam“. Schwer zu sagen, wer da nicht noch einmal mit dem Original verglich. Das „Frühlingslied“ ist nicht umsonst eines der bekanntesten Fontanes.

Fragen stellt Brigitte Birnbaum auch in ihrem zweiten Fontane-Buch noch: „Saß er nicht am Schreibtisch, dann war er unterwegs. Auf der Flucht vor sich selbst? O nein! Um seine Themen zu finden, musste er unterwegs sein.“ Schon hier wäre heftiger Widerspruch angemessen, denn unterwegs war er, um Stoff zur Behandlung seiner Themen zu sammeln. Viel öfter zu sammeln, als zu finden, denn was er suchte, wusste er in aller Regel. Extrem oft war er unterwegs ins Theater, ins Königliche Schauspielhaus, genauer gesagt, wo er einen Stammplatz hatte. Da gab es Themen über Themen, denen Fontane geradezu ausgeliefert war, die vor allem auch gediegene Textkenntnisse voraussetzten. „Höchstselten als Sommerfrischler. Dafür fehlte ihm das Geld.“ Das lässt sich nur behaupten, wenn man Sommerfrische mit Nichtstun gleichsetzt. Die Fontanes fuhren über viele Jahre in Sommerfrischen, oft wiederholt an Orte, die sie bereits kannten und Theodor nahm sich dahin Arbeit mit, Lektüre sicher auch, wenn auch keine „Strandlektüre“. Dergleichen las er auch zu Hause in Berlin nicht. In den Sommerfrischen studierte er nicht zuletzt Menschen und ihr Treiben.

Nach Swinemünde kam Fontane mit Eltern und Geschwistern 1827, als das alte Rathaus schon 20 Jahre alt war und also alles andere als ein altes Rathaus. Das historische Foto auf den Seiten 16/17 zeigt es mit einem Kaiser-Wilhelm-Denkmal aus dem Jahr 1895. Dass Fontane das Rathaus kannte, muss man nicht vermuten, dass er das Denkmal nie mit eigenen Augen sah, ist ebenfalls klar. Insofern ist der Bildtext eher unglücklich gewählt. Immerhin erfahren wir Aktuelles: „Wo damals die Adler-Apotheke stand, befindet sich seit den 60er Jahren ein Betonbau, an dem eine Bronzetafel an den Schriftsteller Theodor Fontane erinnert. Man sieht dort in ihm einen Mittler zwischen Polen und Deutschen.“ Auch ihr Berlin-Kapitel beginnt mit einer Frage: „Ob Fontane ahnte, als er 1833 im Herbst nach Berlin kam, dass dieser Ort seine Stadt werden würde?“ So stellt man rhetorische Fragen, denn die Antwort darauf hat für das Leben Fontanes keinerlei Bedeutung. Immerhin: „Fontane landauf, landab“ gibt Brigitte Birnbaum die Chance, 1994 zwangsweise nicht berücksichtigte Zeiten und Orte aus Fontanes Leben in gebotener Kürze nachzubehandeln.

Das wären vor allem eben Berlin, aber ebenso England, Schottland, Frankreich, wie sich schon aus den Kapitelüberschriften ergibt, wobei man bei „Als Spion verhaftet“ schon wissen muss, worum es dort geht. Drei der kurzen Kapitel besuchen erneut „Fontane in Mecklenburg“, sie kann da bei sich selbst nachlesen, eines, „Auf nach Stralsund und Rügen“, holt das ausgeklammerte Pommern nach. Es scheint, an den Überschriften gemessen, immer noch sehr viel ausgeschlossen oder allenfalls nebenher erwähnt. Von den frühen Berliner Adressen, die Birnbaum aufzählt (Wallstraße, Burgstraße, Große Hamburger Straße), mal mit Hausnummer, mal ohne, einmal mit einer sicher falschen, kennt Michael Bienert in „Literarisches Berlin“ keine, was nichts bedeuten muss. Dass Fontane gern und früh Zeitungen und Zeitschriften las, wissen alle, die sein „Meine Kinderjahre“ gelesen haben, gut. Er hat es anschaulich geschildet. Birnbaum knüpft an diese Tatsache eine ihrer unvermeidlichen Fragen: „Dachte er vielleicht daran, in den Journalen selbst zu veröffentlichen? Zu welchem Thema und wo?“ An den Umstand seines Lehrbeginns in der Apotheke zum Weißen Schwan: „Ob Wilhelm Rose auch um die literarische Begabung seines Lehrlings wusste?“

Wer sich für die frühen Prosa-Werke Fontanes interessiert, kann auf verschiedene Ausgaben zugreifen, als jüngste sicher die im Band 18 der „Großen Brandenburger Ausgabe“, die generell wegen ihres hervorragenden Apparates uneingeschränkt empfehlenswert ist. An den Wechsel nach Burg bei Magdeburg in die dortige Kannenbergsche Apotheke knüpft Birnbaum diese Frage: „Ob es dort damals schon das berühmte Knäckebrot gab?“ Selbst wenn, wäre es noch nicht der berühmte gewesen, sondern bestenfalls das, das später berühmt wurde. Zu Fontane bringt auch diese Frage nichts. Über Leipzig und Dresden vermittelt das Büchlein vor allem wohl aus Platzgründen kaum mehr als die Orte der Apotheken, in denen Fontane Beschäftigung fand. Da er selbst aber recht ausführlich in seinem zweiten autobiographischen Buch, das er nicht mehr Roman nannte wie das erste, auf diese Zeit einging, kann der Interessierte sich problemlos mehr Informationen dort holen. Brigitte Birnbaum beendet ihr Kapitelchen so: „Wo einst die Salomonis-Apotheke stand, erhebt sich heute das Freiberger Schankhaus. Ein guter Rotwein kann ja auch Medizin sein.“ Wohl wahr!

Ob die Illustration unterm Rotwein sehr passend gewählt ist, mag Geschmackssache sein. Da steht als Bildtext: „Zu Fontanes Zeit stand anstelle des Neuen Rathauses in Leipzig die Pleißenburg.“ Mit deren Abbruch wurde begonnen, als Fontane noch lebte, der monumentale Neubau erfolgte erst, als er leider schon tot war, von 1899 bis 1905. Mir hätte eine historische Aufnahme an dieser Stelle des Buches entschieden besser gefallen. Im Kapitel „Letschin, Berlin, Berlin“ tritt Emilie in Fontanes Leben: „Ihre Kindheit war eine soziale Katastrophe und doch gelang es ihr, die starke Frau an seiner Seite zu werden.“ Und es taucht die Wendung auf, die dem Büchlein zum Titel verhalf: „Landauf, landab von Köln bis Wien, Leipzig bis Breslau, Dresden bis Hamburg, Frankfurt bis nach Westfalen reichte er seine Manuskripte bei Zeitungen ein.“ Statt einer Abbildung der späteren Gattin Emilie, von der es mehrere gibt, wählen Autorin und Verlag aus unerfindlichen Gründen ein Gemälde, das eine ganz andere Emilie zeigt, die Schwester des Malers Adolph von Menzel nämlich. Das um 1848 entstandene Bild hängt in Hamburg, der Name des Malers ist zu allem im Buch falsch geschrieben.

„Die junge Frau mietete eine Wohnung, richtete sie ein, nahm fortan ihrem Mann alle Alltagsdinge ab. Woher wusste sie, dass konsequenter Egoismus für große Kunst notwendig ist?“ Ja, wusste sie das denn überhaupt? Waren Klagen Fontanes darüber, dass Emilie nie so richtig und wirklich ernst nahm, was er trieb und schrieb, demnach falsch? Das Paar hatte nach fünf Jahren Verlobungszeit 1850 geheiratet, der dreibändige Ehebriefwechsel im Rahmen der schon genannten „Großen Brandenburger Ausgabe“ vermittelt Einblicke, die jedem Fontanefreund (Frauen inklusive) dringlich ans Herz gelegt seien. Das Kapitel „England und Schottland“ nutzt natürlich die diesmal auch ausdrücklich genannten Quellen von Fontanes eigener Hand, die Bücher „Ein Sommer in London“ und „Jenseits des Tweed“, beide in diversen Ausgaben erhältlich, auch als Taschenbuch. Das moderne Fontane-Denkmal am Seehotel in Neuruppin inmitten der Seiten über England und Schottland muss man hinnehmen. „Damals wird es Fontane auch stolz gemacht haben, Stätten zu betreten, die seine Berliner Kollegen nie gesehen hatten.“ Könnte Birnbaum damit recht haben?

„Fontane landauf, landab“ könnte auch „Fontane im Schnelldurchlauf“ heißen: „Von 1860 bis an sein Lebensende wird er die Mark Brandenburg durchwandern.“ In Rheinsberg war er mehrfach: „Im Ratskeller genoss er sein Leibgericht: Rinderbraten, Rotkohl und Kartoffelklöße.“ Da hätte er in Ilmenau Vergleichsproben nehmen können. Und weil die Google-Suche „Fontane in Ilmenau“ mich an allererster Stelle findet, verweise ich nicht gänzlich uneitel auf http://www.eckhard-ullrich.de/lokal-splitter/3336-theodor-fontane-in-ilmenau. Ich hatte mehr Platz zur Verfügung als Brigitte Birnbaum im Westtaschenbuch. Vier Aufenthalte im Harz erwähnt sie nur in einem Satz, es geht schon nach Frankreich. Die Haupt-Quelle wird auch nicht verschwiegen: „Kriegsgefangen. Erlebtes 1870“, als Taschenbuch leicht zugänglich. Nicht erwähnt ist das Folge-Buch „Aus den Tagen der Okkupation. Eine Osterreise durch Nordfrankreich und Elsass-Lothringen“, ebenfalls als Aufbau-Taschenbuch erhältlich. Da die nächsten (und letzten) vier Kapitel nach Mecklenburg und Vorpommern führen, darf festgehalten werden, was fehlt: alle Kriegsbücher samt der Reisen dazu.

Das ist kein Vorwurf gegen das Büchlein: die sieben Kriegsbücher allein umfassen mehr als 4200 Druckseiten, es wird nicht viele Fontane-Freunde geben, die alles das gelesen haben, ich schließe mich da ein. Mein Interesse galt zuerst dem dänischen Krieg, nachdem ich seine Schauplätze vor Ort besichtigt hatte, dann dem Krieg von 1866, als ich das Thema „Fontane und Bad Kissingen“ bearbeitete, vgl. dazu: http://www.eckhard-ullrich.de/lokal-splitter/3844-theodor-fontane-kissingen-ende-august. Davon wartet noch immer viel Material, verarbeitet zu werden. Für Brigitte Birnbaum führten drei der vier abschließenden Kapitel auf vertrautes Terrain. Dazu muss ich mich keinesfalls wiederholen. Neuland für sie bietet dafür „Auf nach Stralsund und Rügen“: „Nach mehrfachen Sommerfrischen im schlesischen Riesengebirge zog es Fontane wieder gen Norden, an die Ostsee.“ Und gleich wieder Mutmaßungen: „Fontane wird wohl nicht gebadet haben. Es war September.“ Die Reise, von der Birnbaum knapp schreibt, ohne zu verraten, wann sie stattfand, war sehr kurz: vom 7. - 14. September 1884 und hatte dennoch viele Stationen, also gar keine Zeit fürs Baden.

Das war ohnehin unabhängig von der Jahreszeit unter den damaligen Ostsee-Besuchern noch eher unüblich, man kann dazu in Bernd W. Seilers „Fontanes Sommerfrischen“ alles nachlesen. Fontane sah außer Stralsund: Bergen, Saßnitz, Stubbenkammer, Herthasee, Lohme, Arkona, Putbus und Bergen. Als Fontane abreiste, war eben seine erste Theaterkritik nach der Sommerpause in der „Vossischen Zeitung“ erschienen, zu Heinrich Laubes „Graf Essex“. Nachdem er zurück in Berlin war, hatte er noch etwas Luft. Am 20. September sah er Adolf Wilbrandts „Assunta Leoni“, das war ein Sonnabend. Brigitte Birnbaum stellt dazu eine eigene Behauptung in den Raum: „Mit seinen Rezensionen soll er mancher Schauspielerin und manchem Schauspieler den Weg auf die Bühne geöffnet haben und für Ibsen und Hauptmann eingetreten sein.“ Abgesehen davon, dass in aller Regel Theaterkritiken Schauspielerinnen und Schauspieler betreffen, die bereits auf einer Bühne stehen, in Fontanes Fall immerhin eine der wichtigsten, wenn nicht die wichtigste Bühne Berlins zu dieser Zeit, ist das arg aus der Luft gegriffen. Zu Ibsen und Hauptmann könnte man zustimmen.

Dennoch gilt, falls mir nichts entging: Seinen ersten Ibsen sah Fontane im Oktober 1888 (Die Wildente), seinen ersten Hauptmann ein Jahr später (Vor Sonnenaufgang). 1884, als er von der Ostsee heimgekehrt sich wieder seines Hauptberufs annahm, war von beiden Dramatikern noch nicht die Rede. Zum Augustabad Neubrandenburg stellt Brigitte Birnbaum die letzte ihrer Fragen: „Ob er wohl auch Augen und Ohren für die über dem Schilfgürtel gleitende Kranichstaffel hatte, für Haubentaucher, Rohrdommeln und Eisvögel?“ Wüssten wir es, müssten wir nicht fragen. „Das Augustabad Neubrandenburg existiert nicht mehr. Es stand nach der Wende ungenutzt, verfiel, wurde abgerissen und machte Platz für ein Villenviertel mit dem Namen Fontanehof.“ Das ist mal eine Pointe des wirklichen Lebens. Das Büchlein schließt mit einem „Nachwort von Fontane“, ohne Herkunftsangabe wie so oft, und einem „Auszug aus der Familienchronik“, die es gar nicht gibt. Wir lesen, was wir heute tabellarischen Lebenslauf nennen würden. Das letzte Foto zeigt den neuen Birnbaum in Ribbeck, weißblühend in aller Pracht. Ein schönes Symbol, falls es so gemeint ist.


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