Erwin Strittmatter: Die Holländerbraut

Natürlich könnte ich es mir ganz einfach machen. Wer „Birnensaft erschien und erscheint mir bis heute wohlschmeckender als Wein“ zu schreiben in der Lage ist (Strittmatter in „Die blaue Nachtigall“), dem ist vielleicht doch Saft in die Birne gestiegen, was Nebenwirkungen erzeugt, zu denen der Apotheker fraglos wenig Erklärungen liefern kann. „Die Holländerbraut“ war Strittmatters zweites und letztes Unternehmen für die Bühne, Brecht schon tot, mit dem er „Katzgraben“ zur Spielreife brachte und draußen tobte (in der ihrem zehnten Jahrestag entgegen strebenden DDR) der Kampf um die Kollektivierung der Landwirtschaft. Die eben noch Neubauern waren, sollten nun zu Genossenschaften sich vereinigen. Was in den frühen Fünfzigern begann, sollte nun, Jahrestage und Parteitage lieferten immer gute Zielfunktionen, zum Abschluss gebracht werden. Gemäß dem veröffentlichten Literatur- und Kunstverständnis hatte dazu der „Ingenieur der menschlichen Seele“, also der Künstler im Sinne Stalins, seinen Beitrag zu liefern.

Erwin Strittmatter hatte damit wenig Probleme. Er fühlte sich wahrscheinlich, gab sich jedenfalls auf alle Fälle als Mann des Landes, 1956 hatte er Eva Braun geheiratet, eine junge Dame mit verfänglichem Namen, die aber schon riesige Aufsätze zur sozialistischen Gegenwartsliteratur verfassen und sogar als Richtlinie im Vorfeld von Schriftstellerkongressen veröffentlichen durfte, neben weniger riesigen Buchkritiken. So jung bekam später, so weit ich es übersehe, nie wieder jemand die Chance, sich zu profilieren in derart grundsätzlicher Weise. Eva Strittmatters Verlag hat bis heute in Sachen früher Publikationen seiner Starautorin seltsame Zurückhaltung geübt. Wäre mal ein Aspekt von Neuigkeitswert, wie vor der alles überwältigenden Rose im Mondschnee die Zuchtrute über Literatur geschwungen wurde. Strittmatter jedenfalls, ein gestandener Mann auf gutem Wege zu seinem fünfzigsten Geburtstag, schrieb ein Drama aus der Zeit zwischen Kriegsende und Vollendung der Bodenreform.

In Buchform erschien es 1961, zu 1,95 Mark der DDR war das Schauspiel in fünf Akten innerhalb des Aufbau-Verlags-Projekts „die Reihe“ als Nummer 58 zu haben. Auf dem Rückdeckel fanden sich zwei Theaterkritiken auszugsweise abgedruckt, von Walther Pollatschek (1901 – 1975) und von Henryk Keisch (1913 – 1986). Das heute Verblüffende: Pollatschek kam nur mit einem Passus vor, der einen seiner Meinung nach großen Schwachpunkt des Stückes betraf (publiziert in der „Berliner Zeitung“), von Keisch kam das Kontrastprogramm, das Lob aus „Neues Deutschland“. Würde heute noch ein Verlag auf Schwächen seines Produkts im Produkt selbst aufmerksam machen? Noch die albernste Schwarte wird mit aus allen Zusammenhängen gerissenen Einzelsätzen aus Zeitungs- und Radiokritiken beworben, die der Realität des Buches nach drei Seiten schon Hohn sprechen, ich erspare mir Beispiele. Wer schreibt, eine Inszenierung habe Aufsehen erregt, vermeidet eine Aussage zur Qualität und spekuliert auf die Sensationslüsternheit des Publikums.
Wer ein Buch umstritten nennt, vermeidet eine Aussage über die Qualität, spekuliert aber auf den Zugriff der Alternativ-Schickeria.

„Die Holländerbraut“ heißt Hanna, sie hat sich von einem Leutnant der Wehrmacht schwängern lassen, der sie ins KZ bringt, als sie nicht abtreiben lassen will. Sie wird nach dem Krieg Bürgermeisterin, er wird mit ihrer Fürsprache Neubauer. Der Holländer, dessen Braut Hanna angeblich war, sie wurde so kahl geschoren wie zeitversetzt jene Holländerinnen, die sich von Deutschen schwängern ließen während der langen Besatzungszeit, spielt nur anfangs eine Rolle auf der Bühne, später nicht mehr. Strittmatter verlangt, bescheiden gerechnet, an die sechzig Darsteller für sein Spiel, ich weiß nicht, ob die je irgendwo tatsächlich auf einer Bühne standen. Er verlangt auch Szenenwechsel mit Dekorationswechseln für seine Zeitsprünge, die heute jeden guten Willen einer Intendanz überfordern würden. Es sei. Auch Schiller kommt ja heute mit sieben bis neun Darstellern auf die Bühne, auf der sich irgendwelche konstruktivistischen Elemente drehen, damit die Deuter in den Kritiker-Sesseln etwas zu deuten haben. Eine naturalistische Bühne muss man nicht eigens erwähnen, an einem BÜHNENBILD kann man sich festhalten, bis der Zeitungsplatz für die Kritik gefüllt ist, spart man sich den Blick auf Text und Darsteller.

Strittmatter hat sein Spiel dem zehnten Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik gewidmet, darüber lachen jetzt nicht einmal nur die Dummköpfe. Die 23 Szenen erlauben dem heutigen Leser einen Einblick in die ganze Widersprüchlichkeit eines Schriftstellers, der sich voller Absicht Kommunist nannte, in freier Entscheidung den Staat befürwortete, der ihm schon in den fünfziger Jahren zwei Nationalpreise verlieh, vier sind es insgesamt geworden, was nicht einmal der immer hart recherchierende SPIEGEL auf Anhieb wusste und deshalb später, freilich ohne Hinweis auf die eigene Fehlleistung, still korrigierte. In „Die Holländerbraut“, könnte man sagen, lässt Erwin Strittmatter kein Klischee aus, um soziale Verhältnisse zu charakterisieren. Der Adel trägt Pelz, der Kaufmann ist dick, die Bourgeoisie stopft in sich hinein, während das Volk isst. Das ist jedoch nicht einmal die halbe Wahrheit. Allein der Hinweis auf zwei Sowjetautoren, auf SCHOLOCHOW und auf GORKI, damals möglicherweise sogar unterschwellig anbiedernd gemeint, denn im Kern war und blieb Strittmatter vor allem auf TOLSTOI fixiert, erlaubt Zeiterkenntnis.

Damals hantierte man mit belletristischer Literatur aus dem Bruderland, als handelte es sich hier um Handbücher des richtigen sozialistischen Verhaltens, also: Wenn GORKI sagt „Der Mensch ist gut“, dann gibt es dazu keine Fragen mehr. Also, wenn SCHOLOCHOW in „Neuland unterm Pflug“ vorführt (der erste Band erschien tatsächlich schon 1946 in der sowjetischen Besatzungszone, Band 2 1960 in der DDR), dass die Großbauern böse, die Mittelbauern wankelmütig und die Kleinbauern gut und formbar sind von den Genossen und den im Bedarfsfall aus der Stadt hinzu kommenden ARBEITERN, dann gibt es dazu keine Fragen mehr. Hier überlässt Strittmatter ganz einfach seinen Lesern und seinen Theaterbesuchern ein eigenes, im Zweifel  besseres Urteil, nicht der Ansatz eines gehobenen Zeigefingers ist dabei.

Dann aber und das muss heute besonders herausgehoben werden, dann aber führt er eine Partei und einen diese Partei repräsentierenden Genossen MALTEN vor, dessen Charakteristik wohl helle Empörung auszulösen konditioniert war in einfachen SED-Kreisleitungen. Und andere als einfache gab es nicht. Die dort saßen zu Strittmatters frühen Zeiten, waren, wenn überhaupt, mit Stalins KURZEM LEHRGANG geschult worden, sie dachten nicht einmal „Jaja,neinnein, und alles, was darüber ist, ist von Übel“, sie dachten gar nicht, weil sie wussten, es wird für sie gedacht. Solche Leute mit kultureller Vollmacht in den Händen und eine DDR beginnt sich aus dem Leben in der Weltgeschichte zu verabschieden, noch ehe sie aufgehört hat, in ihre historischen Windeln zu kacken. Hanna, die „Holländerbraut“, sagt es ihrem Ziehvater Malten direkt ins Gesicht, als der sich sogar dazu versteigt, sie zur Abtreibung aufzufordern: „Fürs Herz, da habt ihr keine Hilfe. Da sitzt ihr! Alle seid ihr Männer. .... Im letzten Winkel seines Herzens ist der Mensch allein.“ Und kurz darauf, als Malten maulte: „Der Mensch, der Mensch, wir sind Genossen.“ entgegnet Hanna: „Und sollten deshalb mehr als andre Menschen Mensch sein.“ Blinde Affirmation des spätstalinistischen Sozialismus in den Farben der DDR liest sich anders.

Joachim Jahns hat in seinem Buch „Erwin Strittmatter und die SS“ (Besprechung erscheint in Kürze an dieser Stelle) die Hoffnung geäußert, dass Strittmatters Werke unter den Gesichtspunkten heutigen Wissens neu gelesen werden mögen. Das ist ein guter Vorschlag. Versuchen wir es probehalber einmal mit „Die Holländerbraut“. „Die Zeit zum Beispiel löscht die Untat, heißt es, doch bessert sie den Täter, wenn sie löscht?“ Das fragt Malten, der eben gescholtene Parteisekretär. Könnte Strittmatter hier auch pro domo in den Raum und in sich selbst hinein gefragt haben? Hanna sagt ganz entschieden: „Niemand tut einem Leutnant was, hat dieser Leutnant niemand was getan.“
Könnte Strittmatter hier Oberwachtmeister der Ordnungspolizei in einem der SS unterstellten Gebirgsjägerregiment mit gemeint haben? Gleich zweimal fällt im Stück der Satz  „Wer leicht lernt, lernt nicht immer gründlich.“ Erst sagt ihn Hanna, dann sagt ihn Malten. Könnte es sein, dass sich Strittmatter hier selbst als einen sieht, der leicht lernte? Und schließlich sagt abermals Hanna: „Bei uns zeigt einer, wer er ist, durch sein Verhalten.“ Sah sich Strittmatter durch seines vielleicht schon gerechtfertigt und entschuldet?

Sein Stück beschließt er damit, dass er die Darstellerin der Hanna Tainz vor den Vorhang treten lässt. Sie singt dort einen Vierzeiler: „Das Spiel ist aus, nicht die Legende;// Das Leben kennt kein Stillestehn,// Kennt keinen Schluß, jedoch die Wende;// Wer liebt, der sollte mich verstehn.“ Zu gern hätte ich gewusst, ob Strittmatter, der bis 1994 lebte, über diese seine Verse irgendwann einmal den Kopf schüttelte, war er doch ungewollt 1959 sogar zum Propheten geworden: das Leben kennt keinen Schluss, jedoch die Wende!  Das kann man als Ironie der Geschichte sehen, deren Ironien bekanntlich oft von größter Feinheit sind. Ein bisschen lieben muss man ihn auf alle Fälle auch, um ihn zu verstehen.


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