Helga Königsdorf: Die Entsorgung der Großmutter
Über die verlegerische Daueruntat, beliebige Bücher Roman zu nennen, nur weil sich angeblich einzig und allein Romane der Aussicht auf Verkaufserfolg erfreuen können, sei kein weiteres Wort verloren. Ein Roman ist das natürlich nicht, aber wen stört das eigentlich. Und wenn es eine Novelle wäre, weil es, ach Gottchen, eine unerhörte Begebenheit berichtet, wäre mit diesem Wissen irgendetwas gewonnen? Die Russen haben für sich seinerzeit das praktische Wort „Powest“ erfunden, um diese mittellangen Texte irgendwie zu charakterisieren und fast folgerichtig ist selbst den tapfersten Sowjetkulturfolgern in der DDR nie eine brauchbare Übersetzung dazu eingefallen. Die alten Novellen suggerierten ja zudem gern, sie repetierten tatsächliche Begebnisse und dies will man von dem, was Helga Königsdorf erzählt, nicht annehmen, denn dann wäre es besser bei Gisela Friedrichsen auf den Gerichtsseiten des SPIEGEL aufgehoben.
Als das Buch erschien, war die Neigung der Kritik noch sehr groß, dem undezenten Rezeptionsangebot des Verlages auf dem Schutzumschlag zu folgen: Helga Königsdorfs bekannter Sarkasmus entzündet sich an einem brisanten Thema: dem Verfall menschlicher Beziehungen in einer vom Sozialabbau bedrohten Gesellschaft, heißt es dort. Dabei ist gerade die „Gesellschaft“ nur vage charakterisiert, alle allzu konkreten Hindeutungen hat die Autorin vermieden und man muss schon gar nichts von dem zur Kenntnis genommen haben, was sie ab 1990 in geradezu hyperaktiver Besessenheit publizierte, um in diesem Buch nun so etwas wie versteckte Sehnsucht nach DDR-Wärme durch Ausstellung von BRD-Kälte zu erkennen. Nein, nein, Helga Königsdorf hat vor allem eine Konfrontation mit dem Unfassbaren zu Literatur gemacht, das darin besteht, dass ein Mensch der nächsten Umgebung via Demenz sich zum Kind und schließlich vollkommen hilflosen Wesen zurückentwickelt. Die Situation ist nicht besser oder schlechter, wenn sie in den Sozialabbau oder in die Hochkonjunktur fällt, sie ist stetig grauenhaft und die Betroffenen in aller Regel überfordernd.
Freilich war es, als „Die Entsorgung der Großmutter“ erschien, noch nicht Mode, pseudodokumentarisch oder ganz pur autobiographisch die private Familiengeschichte marktgerecht auszuschlachten. Ich weiß nicht, ob die Mathematikerin Königsdorf je auf die Idee kam oder hätte kommen können, ihre eigene diesbezügliche Geschichte vor aller Welt auszubreiten. Im Buch jedenfalls gibt es die Katzenfütterin, die ihren Lebensunterhalt durch Arbeit in einem Archiv verdient. Sie vernichtet, es ist eine subversiv-anarchische Szene, für mich die Perle des Textes insgesamt, Briefentwürfe intimster Art, die ein Dichter hinterlassen hat, weil sie meint, dergleichen der Nachwelt zu überliefern, sei ein Verstoß gegen jeden Anstand. Heute, da selbst die Leitmedien mit Wonne über die Sexualpraktiken der verschiedenen Klassikerinnen und Klassiker sich verbreiten, ist eine solche Ansicht hoffnungslos moralromantisch.
Immerhin: das Buch führt in zwei Handlungssträngen (was keineswegs mit Ebenen gleichzusetzen ist, das war ein Seitenhieb) zum erwartbaren und doch überraschenden Zielpunkt. Die Großmutter ist entsorgt worden, indem sie auf einer Bank zurückgelassen wurde, mit etwas Geld versorgt, aber im sicheren Wissen, sie selbst sei nicht aussagefähig, weil ihre Demenz bereits zum vollkommenen Verlust der Sprache geführt hat. Als die Katzenfütterin sie antrifft, ist übrigens das Geld nicht gestohlen, sondern verstreut und teilweise gar noch in der Handtasche. Für Kälte der Gesellschaft spricht das eher nicht, ich kenne Gesellschaften, da sind selbst harmlose Postkarten vor Andenkenläden eingeschweißt angekettet, damit sie nicht gestohlen werden. Die Großmutter ist auf dem rein animalischen Status angelangt, da sie sich über das Futter der Streunerkatzen hermacht, das die dicke Frau mit den lesbischen Ambitionen verteilt.
Das Unkulinarische am Buch besteht darin, dass keine der Figuren auch nur in die Nähe dessen kommt, was man zu DDR-Zeiten offiziell liebte und forderte: ein positiver Held zu sein. Auch sind Mitte der Neunziger Abschilderer von Kleinbürgerlichkeit und Spießertum nicht mehr die Zulieferer kulturdominanter Alternativapostel und Apostelinnen, die ihr Selbstwertgefühl aus der Verachtung der nämlichen Menschengruppe destillierten. Hier hätte Helga Königsdorf nicht einmal mehr offene Türen eingerannt, die Türflügel sind längst ausgehängt. Das Buch denunziert (so sagte man damals übrigens gern) keineswegs eine kleinbürgerliche Familie mit Standard-Sex, Tannenbaum im Garten und Sprachlosigkeit zwischen den Generationen. Das wäre gar zu billig und dieser Autorin kaum gemäß. „Der Mensch versteht vom anderen lediglich das, was in ihm selbst auch angelegt ist“, heißt es im Buch, und: „Die Wahrheit ist eine höchst komplizierte Sache. Versucht man sie in Worte zu fassen, ist es schon nicht mehr die Wahrheit.“
Um eins draufzusetzen, wenig später: „Ganze Wahr- // heiten wären vielleicht dem Menschen gar nicht zuträglich.“ Helga Königsdorf führt möglicherweise ihre Leser an den Rand unzuträglicher Wahrheiten, indem sie, für sich selbst, sie ist Mathematikerin, eine eigene Familiensituation erzählerisch extrapoliert, von der man freilich zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Buchs noch nicht wissen konnte. Erst die Erinnerungen „Landschaft in wechselndem Licht“ legen die Erkenntnis mehr als nahe, dass Helga Königsdorf in „Die Entsorgung der Großmutter“ pro domo schrieb. Da geht sie wahrhaft schonungslos mit dem wechselseitigen Verhalten in ihrer eigenen Familie um, da kommt die Mutter wenig gut weg, da kommen die beiden Kinder alles andere als gut weg, da ist, sicher vor dem Hintergrund der bösen eigenen Krankheit der Gedanke an Rücksichtnahmen der letzte aller Gedanken, den sie sich selbst vorschreiben möchte.
So ist „Die Entsorgung der Großmutter“ nicht nur ein Buch, das sich in einem Durchlauf gut und genussvoll lesen lässt, das leisten auch deutlich schwächere Bücher. Es ist ein Buch, das selbst Rosinenpicker mögen können. Weil es sich, beispielsweise, auf Königsdorfs eigene frühe Erzählung „Lemma 1“ bezieht, weil es überraschende Sätze über die Profession der Autorin einbaut, bezogen auf den Sohn Schrader, der in aller Stille das dritte Kurzsche Problem löst. „Weil die Mathematik den, der sich ihr unterwarf, unangreifbar machte.“ steht da vollkommen unvermittelt. Hat sich Helga Königsdorf mittels Mathematik unangreifbar gemacht, oder hat sie, das wissend, gerade den Übergang zur Literatur gesucht, um angreifbar zu bleiben, wieder zu werden, so oder so? Von Leichtathletik jedenfalls verstand sie weniger als von Mathematik. „In Wahrheit nimmt die Mathematik unter den geistigen Disziplinen etwa den Platz ein, den der Sprint unter den Disziplinen der Leichtathletik innehat. Sie verlangt höchste Anspannung und Konzentration. Und saugt den Menschen aus.“
Die unheldischen Helden dieses Buches bestechen durch ihre Normalität. Die Autorin selbst durch ihre bisweilen fast herzige Naivität. Andererseits ist, was heute schon kulturkritisch nervt, in diesem Buch einfach sehr früh gesehen: wenn Sohn und Tochter Schrader Wand an Wand lebend mit einander per e-Mail verkehren. „Ein falsches Tuch, eine falsche Rocklänge, und man gibt sich als jemand zu erkennen, der nicht auf der Höhe der Zeit ist.“ Vielleicht irritiert nur, dass die Autorin es so einfach sagt. Vielleicht ist gerade das ihr erklärtes Ziel: nicht nebenberuflich auch noch Professorin sein, die sich von Berufs wegen unverständlich oder hochgestochen auszudrücken hat. Das zeichnet, leicht nachprüfbar, auch ihre umfängliche Publizistik aus. Sie sagt es einfach, sie sagt es fast beleidigend einfach für die Schamanen westlinken Denkens, das ja schon immer mindestens Diskurs genannt werden muss. Der adornoide Blochianer und sein unberittener Nachtrab kann mit Helga Königsdorf wohl noch weniger anfangen als mit einer chinesischen Gebrauchsanweisung.
Bleibt die Rede von Frau Schrader. Sie ist frappierend Königsdorf-ähnlich im Verhältnis zur eigenen Mutter. „Sie gesteht sich für alles, was geschehen war, mildernde Umstände zu. Nur für eines nicht. Nicht dafür, daß sie schlecht mit sich selbst umgegangen ist.“ Mitten in der Kälte des Sozialabbaus schreitet sie zügig den Weg der Emanzipation. Man weiß nicht, ob ihr das in der „Kuhwärme des Kollektivs“ (Heiner Müller) der implodierten DDR auch gelungen wäre. Am Ende führt Frau Schrader im Haus der entsorgten Großmutter eine Pension, während Herr Schrader, den Gerüchten zufolge, unter die Bahnhofspenner gerät, weil die Kälte schließlich sein Gewissen doch nicht vollkommen erstarren ließ. Er hat ein Bild der Großmutter in Erinnerung unauslöschlich und das ist grandiose Königsdorf-Poesie: „Plötzlich streckt sie die Hände vor, als suche sie jemanden. Aber auf halbem Wege bleiben sie stecken, ragen in die Luft, als begriffen die Hände, daß da niemand mehr ist, der sie hält.“
Begreifende Hände. Der Rest darf Schweigen sein am 75. Geburtstag der Helga Königsdorf.