Götz R. Richter: Kimani
Wenn ein Zwölfjähringer an seinem Geburtstag ein Kinderbuch für Leser von acht Jahren an zur Hand nimmt, dann muss es einen ganz besonderen Grund dafür geben. Denn Zwölfjährige sehen in Achtjährigen Winzlinge, mit deren Kinderkram man sich nicht abgibt, will man sich nicht lächerlich machen. Bücher für Erwachsene, die man in der Bibliothek noch gar nicht ausgeliehen bekommt, sind interessant, wenigstens aber die ab vierzehn. So ungefähr lässt sich mein Lese-Weltbild beschreiben, dem ich am 27. Februar 1965 folgte. Es ist der Tag, an dem ich „Kimani“ las, den Jubiläumsband Nummer 50 der Kinderbuch-Verlags-Reihe „Die kleinen Trompeterbücher“. Ich weiß natürlich nicht mehr, wie lange ich dazu brauchte, erinnere mich aber wohl, dass ich aus quasi sportlichen Gründen später einmal sieben Trompeterbücher an einem Tag verschlang.
Weshalb ich aber ausgerechnet zu „Kimani“ griff, weiß ich sehr wohl. Es war wegen seines Verfassers. Denn ich las schon als älteres Kind Bücher, weil sie von einem bestimmten Autor stammten, nicht wegen des Stoffes, den sie behandelten. Und „Kimani“ ist von Götz R. Richter und Götz R. Richter war über längere Zeit mein absoluter Lieblingsschriftsteller. Ich wusste nichts weiter von ihm, so weit ging mein Interesse dann doch wieder nicht, aber ich war begierig, alles zu lesen, was er geschrieben hatte und noch neu schrieb, „Kimani“ war erst 1964 frisch erschienen und seit 1964 schrieb ich in ein großes Register alle Bücher ein, die ich las. „Kimani“ war mein sechster Titel von Richter, unmittelbar anschließend ließ ich „Schiffe, Menschen, fernes Land“ folgen, mit 579 Seiten geradezu ein Gigant von Buch. Und ich malte mir in mein noch recht neues Register dahinter ein kleines Ausrufezeichen, was hohes Lob bedeutete. Erst 1969 verabschiedete ich mich endgültig von Richter, las „Die Löwen kommen“, da waren längst andere, gewichtigere, an seine Stelle getreten, vor allem Arnold Zweig.
Kimani ist neun Jahre alt, er lebt in Kenia. Es ist die Zeit, da in Afrika in wenigen Jahren die meisten Kolonien ihre politische Unabhängigkeit erlangten. In der Welt des real existierenden Sozialismus wurde das als Teil des weltrevolutionären Prozesses verstanden, von ihm aus sogar eine neue Periode im so genannten weltweiten Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus gesehen, was sich bekanntlich in Afrika noch schneller und bis heute weit brutaler als Irrtum herausstellte als in den Mutterländern des organisierten historischen Irrtums. Auch Kimanis Vater hegt und verbreitet die naive Vorstellung, nun werde alles besser. Die ehemaligen weißen Herren, Engländer vor allem, verlassen ihre Farmen, manche bleiben auch noch, auf einer arbeitet Kimanis Mutter als Kindermädchen. Für den kleinen Ziegenhirten tut sich nach dem Willen seines Schöpfers Richter die Frage auf, wieso die weiße Missis, ohne zu arbeiten, mehr hat als seine Eltern und Großeltern, die viel und hart arbeiten. Für achtjährige Leser aber wird das nicht weiter erörtert, dass es ungerecht ist, möchte sich von selbst verstehen.
Kimani ist die Zielscheibe der Späße der größeren Jungen, die ihn gern hänseln, ihn ärgern, ihm auflauern und Streiche spielen. Er wehrt sich, in dem er Geschichten erfindet, in denen er sich selbst als kleinen Helden darstellt. Als das offenbar wird, hat er noch mehr zu ertragen. Da beschließt er, es sich selbst und den anderen mit einer Mutprobe zu zeigen. Er will ganz allein mit seiner kleinen Herde auf die alte Bergweide ziehen, vor der sich alle fast abergläubisch fürchten, obwohl es, wie Kimanis Vater sagt, ja gar keine Geister gibt. Die Bergweide war während des Mau-Mau-Aufstandes Ort eines Bombenabwurfs, Richter schreibt von Benzinbomben, es wird sicher Napalm gewesen sein, viele Afrikaner verbrannten. Und das beispielsweise fällt auf: Richter sprach noch in den fünfziger Jahren vollkommen selbstverständlich von Negern, die sich jetzt durchweg in Afrikaner verwandelt haben, sein Roman „Kamau, der Afrikaner“ (1962) signalisierte das bereits im Titel.
Kimani erreicht die Bergweide, es fällt Regen, es ist weit bis nach Hause und die Ziegen überfressen sich am fetten Grün, das sie nicht gewöhnt sind, einer geht es so schlecht, dass Gefahr besteht, sie könnte den Ausflug nicht überleben. Der Junge entschließt sich, allein Hilfe aus dem Dorf zu holen, der Autor baut natürlich noch zusätzliche Spannung ein, indem er einen Buschbock aufbietet, der sich Kimani in den Weg stellt. Der Buschbock sieht freilich viel gefährlicher aus als er ist und flüchtet, als Kimani laut schreit. Da es ein Kinderbuch für Achtjährige ist, geht es natürlich gut aus. Männer aus dem Dorf kommen mit Fackeln, sie retten auch alle Ziegen und der Vater ist Kimani gar nicht böse. Der aber hat für sich selbst Folgerungen gezogen. „In diesem Augenblick merkt Kimani zum ersten Mal in seinem Leben, wie sehr er die anderen Menschen alle braucht.“ Er fühlt sich schuldig den Ziegen gegenüber, die anderen Jungen und ihr Urteil sind ihm nun nicht mehr wichtig, er will auch keine Geschichten mehr erfinden, obwohl ihm das sehr leicht fiel. Vor allem aber will er nachdenken, ehe er etwas tut. Die letzten Sätze des Buches: „Kimani hält die Hand seines Vaters. Er ist ganz still. Aber er muß viel, viel denken.“
Nein, aufdringlich pädagogisch ist der ehemalige Neulehrer Götz R. Richter in diesem Buch nicht. Auch wenn er natürlich den ideologischen DDR-Zeitgeist nicht einzuflechten vergisst: „Ist Fliegen nicht viel mehr als einen Löwen töten? Was ist ein Löwe gegen ein Flugzeug?“ Das heute fast herzig wirkende ungebrochene Verhältnis zur Technik, zu dem, was auch im Sozialismus gern „technische Revolution“ genannt wurde und zwischen dem sechsten und dem achten Parteitag der SED fast pflichtgemäß in aller Munde war, es wird auch in den Augen des acht Jahre alten Afrikaners zum Positivum schlechthin. Bis heute fliegen wohl überwiegend die reichen Afrikaner, die es mittlerweile längst auch gibt, die Armen bleiben den Dürrekatstrophen, den Bürgerkriegen und den aggressiven Missionaren diverser Religionen ausgeliefert. Fast alle großen Führer der Unabhängigkeitsbewegungen aus den späten 50er und den frühen 60er Jahren sind autokratische Selbstherrscher geworden, private Raffgier und Korruption legen ganze Länder lahm.
1988, als Götz R. Richters 65. Geburtstag die DDR-Medien anregte, ihm mit verdächtig großer Freundlichkeit zu begegnen, wurde mehr ausgeklammert und verschwiegen als geschrieben. Sowohl die BERLINER ZEITUNG als auch NEUES DEUTSCHLAND behaupteten, Richter sei vom faschistischen Krieg „geholt“ worden, dass er sich 1941 freiwillig zu Hitlers Marine meldete, passte wohl nicht ins Bild des gefeierten Kinderbuchautors. Freilich ist auch später, und das war gut so, niemand auf die Idee gekommen, daraus eine Mediensensation zu basteln. Doch gab es 1988 und 1989 auch keine Fragen nach der langen, langen Pause im Schaffen. Das bis heute letzte neue Buch von ihm erschien 1980, es war der Auswahlband „Tropengewitter“, Geschichten aus den Jahren 1952 bis 1977 neu versammelnd, 1981 folgte schon die zweite Auflage. Danach nichts mehr. Obwohl Götz R. Richter, als ihn die MÄRKISCHE ODERZEITUNG anlässlich seines 85. Geburtstages in Bad Saarow besuchte, sich als einen von Erzähllust überquellenden alten Mann präsentierte, der von vielen vollendeten Manuskripten sprach, die niemand mehr drucken wolle. Wie es ihm an seinem heutigen neunzigsten Geburtstag geht, weiß ich nicht. Ich mochte ihn sehr.