Reiner Kunze: Der Löwe Leopold
Wir wollen uns nie wieder Verhältnisse wünschen, die uns zwingen, ein Buch allein deshalb gut zu finden, weil sein Autor verfolgt, bespitzelt, verunglimpft, weil ihm das Leben schwer oder fast unmöglich gemacht wurde. In denen alle nach einem Buch rennen, weil es „Stellen“ enthalten soll und manchmal auch tatsächlich welche enthält. In meinem Tagebuch vom 19. September 1973 lese ich: „Heute war ich in Ilmenau, hauptsächlich, um den Kunze zu erstehen, leider ist er bereits vergriffen, ich nahm nur ein kleines Bändchen Wedekind mit“. Es ging um den längst legendären Reclam-Band „Brief mit blauem Siegel“, der sogar zwei Auflagen erlebte und trotzdem nicht zu kaufen war. Menschen, die ihn dennoch besaßen, traf mein ganzer Neid noch mehr als jene, die den Reclam-Sartre erwischt hatten. Nach dem ich auch verrückt war.
Bis ich zum Jahreswechsel 1977/1978 „Die wunderbaren Jahre“ zu treuen Händen erhielt mit der Bitte, sie rasch zu lesen, weil andere Interessenten warteten, konnte ich meine Kunze-Gelüste an maschinenschriftlichen Gedicht-Kopien befriedigen, die quer durch die DDR kursierten, meine kamen aus Dresden, und ich weiß nicht mehr, wer von meinen Poetenseminarbekannten sie mir zukommen ließ, ich weiß nur, wer es nicht war. Die Gedichte stammten aus Zeitschriften, aus „Sensible Wege“ und fast jedes einzelne steigerte meine Erwartung an die Prosa. Und unbeschreiblich war die Enttäuschung. Nein, ich fand „Die wunderbaren Jahre“ fürchterlich, ich suchte mich des Schocks zu erwehren mit der Niederschrift von einigen Seiten Notizen dazu, zu Ende kam ich damit nicht, weil das Buch, als ich es am 8. Januar 1978 zu Ende gelesen hatte, sofort auf weitere Wanderung ging.
Wenn ich heute in der Dokumentation „Deckname „Lyrik““ lese, mit der Reiner Kunze als erster, auf alle Fälle aber als einer der ersten Autoren der DDR die ganze Perfidie öffentlich machte, die das System Staatssicherheit der DDR gegen Schriftsteller in Marsch setzte, dann finde ich dort - das Büchlein enthält nur einen winzigen Bruchteil aus weit mehr als 3000 Aktenseiten - mehrfach Stellen, die mich betroffen haben könnten, denn auch Besitzer oder Empfänger von Manuskripten, von geschmuggelten oder auch legal eingereisten Büchern wurden akribisch vermerkt. Und ich lese Urteile über das „Machwerk“, welches ich in Eile zu verschlingen hatte in jenem Januar, die sich mit meinem Eindruck deckten. Denn es ist nicht so, dass automatisch gute Literatur macht, wen unbändige Wut treibt. Die in der Dokumentation an einer Stelle auch festgehaltene Absicht Kunzes, künftig mehr Klartext zu reden, hat sich in „Die wunderbaren Jahre“, das glaube ich heute noch wie Anfang 1978, negativ auf die kurzen Prosatexte ausgewirkt. Der Effekt ist letztlich verheerend: Man findet sich mit seiner kritischen Sicht an der Seite von Leuten, denen man nicht freiwillig die Hand geben würde. Aber das passiert öfter. Meine Kritik an Annette Leos Strittmatter-Biografie hat mir Beifall eingebracht von Leuten, die mir ein Alptraum wären, wenn ich mit ihnen zu tun hätte. Mehr freilich von echten Strittmatter-Freunden.
Doch diesen Preis muss man zahlen, wenn man sich nicht selbst betrügen mag um der wie auch immer gearteten Sache willen. Genau deshalb, und nun komme ich zum herrlichen, herrlichen, herrlichen Kinderbuch „Der Löwe Leopold“, gefällt mir von den dort versammelten Geschichten „Was ist aus Sneewitchens Stiefmutter geworden“ am wenigsten. Dass die und gerade die in der jetzt immer noch und wieder empfehlenswerten Anthologie „Die Rettung des Saragossameeres“ 1976 erscheinen konnte im liberaldemokratischen Buchverlag Der Morgen Berlin, obwohl das Buch „Der Löwe Leopold“ nach angeblich schon erteilter Druckgenehmigung wegen der „Sensiblen Wege“ im Westen nun auf dem Index stand, macht es nicht wirklich besser. Die Grundidee, alte Märchen neu zu deuten, ist nicht originell, aber trächtig genug für fast unendliche Variationen von der Grundschullehrerinnen-Phantasie mit Stickrand aus Südthüringen bis zu wilden Paraphrasen. Kunze hat sich entschieden, eine natürlich schöne, natürlich lustige Lesart der Stiefmutter zu liefern, die die Königin primär als zeitlose Verkörperung von Personenkult sieht.
Mehr Vordergründigkeit geht fast nicht. Was angesichts der Subtilität, mit der Kunze sonst arbeitete, schon heftig verstimmt. 1976 aber und damit kehrt die Kirche ins Dorf zurück, 1976 war das angesichts des sonst Üblichen dennoch eine Granate. Drei Jahre zuvor hatte sich die JUNGE WELT zu einer Mini-Mini-Kritik an „Brief mit blauem Siegel“ beauftragen lassen (oder sollte es tatsächlich Mut gewesen sein, das öffentliche Totschweigen wenigstens maulig zu durchbrechen?), die Stasiakten Kunzes schließen Mut an irgendeiner Stelle eigentlich vollkommen aus. Die Genossen legten sogar im höchsten Parteigremium ZK fest, wer im Ausschlussverfahren des Schriftstellerverbandes Erfurt/Gera in welcher Reihenfolge zu reden hatte, und zwar für den Ausschluss, da wird doch keine Redaktion ohne allerhöchsten Beschluss gehandelt haben? Nach solchen Schüssen ging normalerweise nur noch wenig. Die Kritikerin damals hieß übrigens Eveline Rolands, falls sie so hieß, der verklausulierte Drohbrief trug die Überschrift „Der Vater mit Rissen im Rücken“ und erschien am 7. September 1973 auf Seite 12 der Tageszeitung der FDJ.
Der Text in „Der Löwe Leopold“, der allein es verdient, in allen Lesebüchern von der ersten bis zur dreizehnten Klasse immer wieder gedruckt zu stehen, der vertont, gemalt, getanzt gehört, auf Hörbücher gesprochen, in Apps abrufbar sein sollte, heißt „Der Drachen Jakob“. Diese wundersam-wunderbare, diese sensationelle Geschichte weckt in mir den bösen Verdacht, dass dergleichen Höhenflüge vielleicht nur in Kinderliteratur erreicht werden können und vielleicht nur von Autoren, denen ein Kinderbuch eher ein Ausrutscher als ein Routineprodukt ist. Kunze erklärt im Vorwort, wie es zum Buch kam und beruft sich auf Tochter Marcela. Die Geschichte vom Spielzeugdrachen, der zum Postgut wird, kann neben „Der kleine Prinz“ bestehen, Seite für Seite stehen Herrlichkeiten neben Herrlichkeiten und ich kenne sogar emeritierte DDR-Professoren, die meinen würden, Kunze habe eigens für sie von der volkswirtschaftlich überragenden und gesamtgesellschaftlich noch überragenderen Bedeutung der Reinemachfrau gehandelt. Denn sie mussten ihr Büro selbst fegen oder im Staub ersticken. Briefestempeln als Kunst, Kunze, Kunze, was ist Dir da eingefallen!
„Der Löwe Leopold“, der angenehm das Büchlein eröffnet nach dem Vorwort, und der „Ludwig“ aus dem Kinderheim, das in „Die wunderbaren Jahre“ sicher zum kleinen Horrorladen geworden wäre, sie sind neben Jakob natürlich klein, fast niedlich, Jakob ist innerhalb dieses Buches einfach zu stark, er stellt wie ein Baumriese selbst stattliche Stämmchen neben sich in den Schatten. Hätte also dieser heute achtzig Jahre alt werdende Reiner Kunze gar nichts geschrieben als dieses Märchen für und über ein krankes Kind, dann hätte er dennoch jeden Preis verdient, jeden Orden und jede Würdigung. Weil weniger bekannt ist, dass die nur um Wochen ältere Brigitte Reimann Reiner Kunze zu ihren wenigen wirklich guten Freunden zählte und weil Kunze selbst im „Löwen Leopold“ hinten zwei Zugaben anfügte, soll es auch hier eine diese Freundschaft betreffende Zugabe geben.
Am 31. Januar 1956 hielt Brigitte Reimann in ihrem Tagebuch fest: „Ich habe mir Rainer Kunzes Sympathie gewonnen (er sagt übrigens in seinem Bericht das gleiche wie ich – wir sind die einzigen noch wirklich Gläubigen, die Begeisterten, die mit einem herrlichen Größenwahn an ihre Bestimmung glauben). Rainer – mein Erbfeind!“ Sie schrieb in neun von zehn Fällen Kunzes Vornamen falsch, die Schreibweise wird hier dem Tagebuch entsprechend dennoch beibehalten. Fünf Tage später: „Und dann küßten wir uns. Selten jemals hat mich ein Kuß so tief aufgewühlt wie der Rainers. Immer habe ich geglaubt, er sei Kommunist, ein Ritter an Treue und Keuschheit, jetzt frage ich mich, was ihn bewogen haben mag, sich mir gegenüber so aufzuschließen.“ Allein dies wäre Stoff für eine mittlere Abhandlung: der noch orthodox-kommunistisch wirkende Kunze mit der wilden Brigitte, die ihrerseits geradezu abenteuerliche Vorstellungen von den Qualitäten eines echten Kommunisten hegte. Die längste zusammenhängende Niederschrift zu Kunze verfasste Reimann am 28. November 1962.
Der Lyriker ist in ihren Augen jetzt ein ganz anderer als der, den sie in der Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren (AJA) kennenlernte und dort wegen seiner ständigen Kritiken als ihren Intimfeind betrachtete: „Aber auch er war damals ein anderer: ein dogmatisch strenger Genosse, kalt und trocken (dieser in Wahrheit so leidenschaftliche Mensch, dieser Feuerbrand in dem zerbrechlichen Gefäß eines kranken Körpers). Er hat sch verwandelt, nach den schrecklichen Vorfällen (das muß 1957 oder 58 gewesen sein), als man ihn zu Unrecht denunzierte, verurteilte, von der Hochschule jagte, als er eben seinen Doktor machen wollte, und ihn buchstäblich auf die Straße warf. Er war eine Zeitlang Lastwagenfahrer. Heute schreibt er herrliche Gedichte, atemberaubend ehrlich – er spricht alles aus über unsere unselige Vergangenheit, was endlich ausgeprochen werden muß, und natürlich ist der Gedichtband noch verboten. Er las mir heute daraus vor.“ Man war zeitgleich im Schriftstellerheim Petzow und konnte sich gegenseitig über den Balkon besuchen.
Sie sprachen, 1962 !!!, über den Militarismus der DDR, das Preußentum und seine militante Sprache und dann kommt es knüppelhart: „... ich fand mich bestätigt, als ich auch aus seinem Munde das Urteil „faschistisch“ hörte für gewisse Erscheinungen: Jazz = Niggermusik; der deutsche Arbeiter = der beste Arbeiter der Welt; die Sprache unserer Presse – siehe LTI; Rassenwahn ersetzt durch Klassenwahn (es gibt Beispiele, ich schwätze nicht ins Blaue): moderne Malerei = entartete Kunst. Alles wie gehabt.“ Vielleicht hat es nie eine knappere Formulierung für eines der Kernphänomene des real existierenden Sozialismus in den Farben der DDR gegeben, als dieses sich eben auch kultur- und literaturpolitisch verheerend auswirkende „Rassenwahn ersetzt durch Klassenwahn“. Wer je als philosophischer Kopf über die absurde Konstruktion „Klasseninstinkt“ nachgedacht hat, die mitten im vermeintlich stringenten Theoriegebäude des Marxismus-Leninismus dem puren Unfug frönte, freut sich noch nachträglich, wie früh und präzise solche Kunzes und Reimanns die Nacktheit des wechselnden Kaiser erkannten. Alles, alles Gute, Reiner Kunze.