Albert Camus: Paris schweigt

„Paris schweigt“ ist ein Hörspiel, das ich nie gehört habe. Ich weiß also nicht, wie die Geräusche aus dem Radio klingen, die den durchbrochenen Monolog des Buchhändlers begleiten, ich weiß nicht, wie lange es braucht, bis der potentielle Käufer des „Dictionnaire“ des Pierre Bayle am Ende hört, es sei unverkäuflich. Dennoch habe ich meinen Bayle aus dem Regal gezogen, den profanen, den bibliophil vollkommen uninteressanten, und fühlte mich, als könnte ich sofort am Seine-Ufer in Paris an den Auslagen der Bouquinisten entlang laufen, scheue Blicke zur Seite, um nur ja nicht angesprochen zu werden ohne jede Französisch-Kenntnis meinerseits. Im längst nicht mehr schweigenden Paris haben die Bücher der Bouquinisten noch genau den Geruch, den sie hatten, als Paris schwieg. Mein Lesezeichen ist ein Zettel mit der Nachricht: Zum Andenken an Tante Ella aus Budapest, 25. Juli 1975. Dazu fällt mir nichts ein, vielleicht war damals bei meinem neunten Besuch an der Donau etwas wie ein östliches, ein DDR-Paris-Gefühl in mir. Ich las das Hörspiel erst im Mai 1980, es half mir, mich auf den Text meiner Diplomarbeit zu konzentrieren, die am 20. Juni in der Berliner Universitätsstraße 3b abzugeben war.

„Paris schweigt“ ist, jenseits seines Zweckes, im Radio hörbar zu werden, ein Text, der ausreicht, Camus für immer zu mögen. Mein Tagebuch vom 4. Mai 1980 enthält, ehe es zum Hörspiel kommt, solche Sätze: „Und da erweist sich, daß die ganz großen Entwürfe der Kunst an höchstens zwei Händen abzuzählen sind. Der Rest ist Variation. Der Rest sind Fußgänger. Einer der Flieger ist Cervantes. Sein Ritter von der traurigen Gestalt ist der Ahne von Doyons Helden, das Vergessen sind die Windmühlen, gegen die er ausreitet mit Literatur als Lanze.“ Ich müsste natürlich erklären, wo hier der Bezug zu Max Frisch ist, was ich meinte zu „Hiob oder der Tod Hiobs“, denn um dieses Büchlein von Jacques Doyon handelt es sich (WIKIPEDIA kennt ihn nicht). Und ich würde an meinen Überlegungen zum über staatliche Gedenktage organisierten Vergessen in der DDR kleben bleiben, die ich anknüpfte. Zu Camus aber steht da: „Ob Camus ein Flieger war, weiß ich nicht. Der Camus von „Paris schweigt“ mit Sicherheit nicht. Das ist der Monolog eines Bouquinisten über die Zeit der deutschen Besatzung in Paris.“

Über meine heutige Verlegenheit hilft mir Camus selbst. Im Vorwort zu seinen gesammelten Dramen schreibt er: „Zudem war ich fünfundzwanzig Jahre alt, also in einem Alter, in dem man an allem zweifelt, außer an sich selbst.“ Wenn ich mir meine zwei Jahre mehr von 1980 zusetze, dann will ich mir verzeihen, dass ich damals die Qualitäten des Hörspiels nicht sah, die mir heute so über die Maßen groß scheinen. Damals notierte ich mir immerhin auch, was ich mir jetzt neu anstrich: „Ich glaube, daß dies die eigentliche Niederlage ist: Man ist dazu verurteilt, kleine Dinge zu erleben.“ Und ich zog die auf damalige Gegenwart gezielte Konsequenz: „Wenn die Teilnehmer am Großen, die Sieger, nicht nacherlebbar machen können, was sie erlebten, und das wieder können sie nur mit Kleinem, dem das Große anhaftet, wirken sie komisch. Ihr Eignes ist nicht als solches erkennbar.“ Heute zähle ich Albert Camus ohne alle Einschränkung zu den Fliegern. Auch weil er ganz unaufgeregt in seinem dramatischen Erstling „Caligula“, das aber wäre ein eigenes Thema, in seiner Sicht auf den römischen Skandal- und Grusel-Kaiser etwas vortrug, was volle 60 Jahre später einem Wissenschaftler und seinem Buch über Caligula noch immer den Ruhm einer vollkommen neuen Lesart einträgt.

Man muss vielleicht ein System hinter sich haben wie das der DDR, oder auch zwei, wie die gern  verwaschen so genannten zwei deutschen Diktaturen, um „Paris schweigt“ seine Kernsubstanz abgewinnen zu können. Denn, mir scheint es auf alle Fälle so, Albert Camus beantwortet für sich und seine Hörer die große Frage, ob es ein richtiges Leben im falschen gibt, mit einem ziemlich eindeutigen Ja. Auf abgehobene Emigrantendebatten geht er nicht einmal ansatzweise ein. Ob er von derartigen Fragestellungen überhaupt Kenntnis hatte, könnte ermittelt werden, ist hier aber ohne Bedeutung. Der Buchhändler ist in Paris geblieben, als die Deutschen einmarschierten 1940 und er ist vor allem deshalb geblieben, weil man Bücher nicht so allein lässt wie vielleicht Senf, wenn man Krämer ist. Einen gewichtigen Grund benennt er selbst in seinem Monolog: Der Bilderrahmer ist gegangen, geflohen und das bedeutet für den Buchhändler in direkter Konsequenz, in unreflektiert zwingender Logik, dass er selbst bleiben muss. Genau das ist Größe in Literatur: Sie zeigt, ohne Erklärungsnot zu spüren und wortschwallig vorzubeugen. So blieb einer vielleicht in der SED 1989, nicht weil er unbelehrbar war, gar Stalinist, sondern weil die „Bilderrahmer“ mit großer Geste ihre Parteibücher auf die Tische der Kreisleitungen warfen.

Als die Deutschen in Paris ihre Ordnung installiert hatten, kamen die Geflohenen übrigens wieder zurück. Im Hörspiel liest sich das so: „Im übrigen waren unsere Besucher korrekt und wußten zu leben. Sie gaben uns Konzerte und konsumierten Wiener Walzer. ...Und plötzlich stellten sich die Geschäftsleute wieder ein. Der Bilderrahmer auch, leider. Mit Walzern zieht man Bilderrahmer an, möchte man meinen.“ Es gibt Professoren der Philosophie, die brauchen ein halbes Semester, um weniger zu sagen als dies mit den Walzern, den Bilderrahmern und den Geschäftsleuten. Das ist es, was Camus bedeutend macht. Da wiederhole ich mich gern. Ist ein Satz wie „... ich habe die Kunst, Vater zu sein, bei Montaigne und bei Rousseau gelernt, und überhaupt, ich bin für die Freiheit.“ nicht ein möglicher Startpunkt für ganze Ketten von Bedenken? Rousseau, ausgerechnet Rousseau als Lehrmeister in dieser Sache? Warum aber geht die Ironie darin fast unter vor der fassungslos machenden Feststellung, dass solch ein Satz 1945 in Frankreich offenbar einfach damit rechnen durfte, verstanden zu werden.

Wer hierzulande einmal eines der Stuttgarter Reclam-Hefte zu Literatur-Klassikern in die Hände nahm und staunte, was alles bei Wort- und Sacherklärungen vorn als offenbar erklärungsbedürftig angesehen wird, dem wird der scheinbar selbstverständliche Umgang der Franzosen mit ihren Großen und dem, wofür sie stehen, Respekt abnötigen. Der Buchhändler resümiert zu einer schnell gestellten und noch schneller beantworteten Frage widerständig: „Aber es war weder eine gute noch eine schlechte Zeit. Es war die Aufhebung der Zeit.“ Dagegen wende einer etwas Vernüftiges ein. „Es galt, sich anzupassen und unsere Begriffe von Gut und Böse zu ändern. Es galt, wenn ich mich so ausdrücken darf, sich eine akustische Moral zuzulegen. Gut war, was schwieg.“ Das hört man nicht gern, wenn man auf der anderen Seite des Flusses über mutlose Schwimmer räsoniert, möglichst noch vom hohen Pferd herunter, um es nicht Ross zu nennen. „Ich mag Churchill, weil es in meinem Viertel heißt, ich sähe ihm ähnlich.“ Camus lässt seine Figuren sagen, was herkömmlich nicht einmal gedacht, auf keinen Fall aber ausgeprochen wird. Das Menschliche sitzt ganz unten, ganz tief, es sollte verboten werden, es abschätzig das Allzumenschliche zu nennen, als gäbe es eine andere Alternative dazu als das Unmenschliche.

Wie klang es wohl in den Ohren eines Bouquinisten im besetzten Paris, die das aufschnappen mussten: „ Ja, Madame, es gibt Leute, die mit Papier feuern in einem kleinen Herd. Papier, wirklich, und damit kann man ausgezeichnet Nudeln kochen, sogar Linsen, überhaupt alles, genau so gut wie auf Gas...“ Nudelsuppe auf Bayle, das droht, wenn die Not ein Maß überschreitet, an dem das Menschliche sich selbst verliert. Camus hält das leidenschaftslos fest. Ein junger Mann erklärt: „Ich glaube jetzt an alles, verstehen Sie. Vorher glaubte ich an nichts. Aber dann fühlt man sich so allein, man kann über nichts mehr reden, wenn man an nichts glaubt.“ Und der Buchhändler wieder in seinem Monolog: „Es gibt mehrere Arten, nicht zu sprechen. Eine besteht darin, nachzuplappern.“ Das freilich hat mich schon 1980 beindruckt. Und heute setzte ich das Finale hinzu: „Man redet dort oben immer lauter und lauter. Da ist es für uns, die übrigen, wohl an der Zeit, in unseren Laden zurückzukehren.“ So kehrt die Normalität wieder ein, das Ende des Schweigens, das den Mann dazu bringt, in seinen Laden zu treten, zu Bayle, der unverkäuflich ist von jetzt an für immer (oder bis zur nächsten Katastrophe). Wenn es nicht unverschämt wäre, einem so kleinen Text eine tausendseitige Briefausgabe von der anderen Seite beizuordnen, würde ich die Briefe des Soldaten Heinrich Böll dazu empfehlen, der bei den Besatzern war. Denen mit dem Walzer. Am heutigen hundertsten Geburtstag von Albert Camus möge mir diese Idee verziehen sein.


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