Friedrich Michael: Ein Mittag bei Hermann Hesse
Bis die Funke-Gruppe den Funken der Hardcore-Sparsamkeit nach Mitteldeutschland überspringen ließ, nutzte ich beinahe jede Gelegenheit, auf Friedrich Michael aufmerksam zu machen. Einen namhafteren in Ilmenau geborenen Autor gibt es nicht, Themen und Orte boten und bieten sich immer wieder an. Nur: Wenn ich schon ohne Honorar arbeite, dann tue ich das natürlich guten Gewissens nur für mich selbst. Das führt sogar zu erweiterten Möglichkeiten und zu weit, sollte es hier zum Nebenthema erhoben werden. An Hermann Hesses Todestag, der weder rund ist, noch mit Essen oder Ilmenau in Verbindung zu bringen, greife ich zu einem der mir so sympathischen Sammelbände des Thorbecke-Verlages, er trägt den nicht eben wahnsinnig aufregenden Titel „So ernst wie heiter“, und finde dort einen 1980 geschriebenen Text als Erstveröffentlichung, der „Ein Mittag bei Hermann Hesse“ überschrieben ist. 1983, als der von Volker Michels herausgegebene Band erschien, lebte Friedrich Michael noch, es war das Jahr, in dem er 91 wurde. Es hat eine nicht zu hinterfragende Selbstverständlichkeit, dass Michels, der emsigste und profundeste Hesse-Herausgeber und Kenner, der sich denken lässt, sich für den Insel-Verleger Michael engagierte und eben auch den genannten unveröffentlichten Text in die Sammlung aufnahm, die alles in allem 80 Beiträge zusammenfasst, die sich dem Untertitel „Betrachtungen, Erinnerungen, Episteln und Glossen“ zwanglos zuordnen lassen.
„Ein Mittag bei Hermann Hesse“ führt in das Jahr 1960 zurück, es war für Friedrich Michael das erste Jahr mit Ferien ohne Rückkehr an einen Arbeitsplatz. Michael genoss den Ruhestand, man könnte nachschauen, ob sich das auf seine Texte spürbar auswirkte, ob es andere und neue Themen für ihn interessant machte. Erinnerungen, das versteht sich, gewinnen an Bedeutung, je älter der sich Erinnernde wird und je wichtiger das Erinnerte scheinbar oder tatsächlich für die Nachwelt sich darstellt, Irrtümer inklusive. In der alten Bundesrepublik war es phasenweise ein Sport, Hermann Hesse niederzumachen, die Granden von ZEIT und SPIEGEL waren sich nicht zu schade, auf eine ihnen langfristig kein gutes Zeugnis ausstellende Weise mitzumischen an der oberschlauen und pseudoavantgardistischen Niedermache des Nobelpreisträgers aus der Schweiz. Immerhin besaß die SPIEGEL-Truppe vor einigen Jahren Humor genug, einen Leserbrief von mir an exponierter Stelle blatttypisch teilabzudrucken.
1960 hatte Hermann Hesse seinen 80. Geburtstag schon eine ganze Weile hinter sich, Friedrich Michael war kein Fremder für ihn, im Gegenteil, und so wurde es keine besondere Angelegenheit, von Locarno aus für ein Treffen gen Lugano zu reisen, Abfahrt 10.40 Uhr, fand Michael in seinem Notizbuch, die Fahrt ging über Bellinzona und in Lugano holte Ninon Hesse mit ihrem Mercedes die Besucher ab. Warum Michael die Kleinheit des Mercedes eigens erwähnt, dazu den Umstand, dass es sich um einen Gebrauchtwagen handelte, bleibt sein Geheimnis. Das Hesse-Haus, in dem der alte Hesse lebte, ist bis heute nicht zugänglich. Ein wenig abseits von der schmal ansteigenden Straße, sieht man es wegen der hohen Hecken überhaupt nur von einigen wenigen Stellen halbwegs, die Eigentümer legen keinen Wert auf die drohende lästige Neugier, die schon für Hesse selbst zu Lebzeiten ein Alptraum war und ihm viel Zeit raubte im andauernden Abwehrkampf. Der Versuch, sich Montagnola und Umgebung vorzustellen, wie sie sich Hesses Augen bis zum 9. August 1962 boten, ist ohnehin vergebens unternommen, der Hesse-Wanderweg mit seinen Informationstafeln hilft nur bedingt und ist natürlich trotzdem empfehlenswert.
Bis ins Jahr 1911 musste Friedrich Michael in der Erinnerung zurückgehen, da er als Student in seinem ersten Freiburger Semester eine Hesse-Lesung erlebte. Hesse wusste 1960 sofort, dass es der Sommer war, ehe er nach Indien fuhr. Michael hatte da seinen Hauptwohnsitz sogar noch in Ilmenau. „Tischgespräche zu viert – davon läßt sich wenig eckermännisch festhalten.“ beugt die Erinnerung zeitig vor und auch wenn es von Hesse ein immerhin ein ganzes Insel-Taschenbuch füllendes Goethe-Gedenken gibt („Dank an Goethe“, it 2250), hat er sich doch nicht dazu gefunden, dem verehrten Meister in der Art nachzueifern, dass er quasi auf Eckermann-Knopfdruck Leit- und Merksätze von sich gab. Der Insel-Verleger im Ruhestand konnte sich also unverkrampft dem Rehrücken hingeben, der kredenzt wurde, dazu ein Burgunder, auf den der Hausherr schon bei der Begrüßung dezent hinwies, ein Burgunder vom Jahrgang 1933, anno 1960 also ein vermutlich ganz besonderer Edeltropfen. Oder auch einfach zu lange gelagert, Friedrich Michael lüftet das Geheimnis des alten Weines als Wildbegleiter bedauerlicherweise nicht.
Man hält eher beim Small Talk, knüpft an diese oder jene Anekdote an, es gibt eine Hodler-Schnurre und den Blick zu Hesses „zweitem Arbeitsplatz“ im Garten. Was ist gerade mit diesem Garten und der Hingebung, die Hesse für ihn aufwandte, für Schmähkritik verbunden worden. Der Gast erfährt von der Hand, die sich seit zwanzig Jahren nicht mehr zur Faust machen lässt, weshalb das einst geliebte Bocciaspiel nicht mehr möglich ist, selbst Spritzen haben nicht geholfen. Eine Eidechse gerät ins Blickfeld, eine Katze auch, man scherzt über einen Gerontologen am Ort, der Patienten erst ab siebzig aufnimmt, woran Ninon leicht kokett anknüpft, sie müsse noch drei Jahre warten bis dahin. Hesse berichtet von einem Rowohlt-Angebot, 300.000 Exemplare „Steppenwolf“ auf einmal drucken zu wollen, er aber wünsche von keinem seiner Bücher solche Auflage. Über Wilhelm Lehmann, den vor allem als Lyriker bekannten Autor, kommt man zu Hofmannsthal und Stifter, zu Reinhard Buchwald und Ricarda Huch. Die hatte noch kurz vor ihrem Tod mit einigen Äußerungen zu Hesse für Diskussionen und Missverständnisse gesorgt, die die frühe Hesse-Rezeption in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR mit prägte, Michael überliefert dazu gar nichts an Details. Dafür nutzt er das Stichwort Homer, um „ein anmutig strenges Privatissimum“ zu erwähnen, das Ninon im widmete, um die biedermännische Homer-Übersetzung von Voß zu beschuldigen, falsche Vorstellungen von der griechischen Götterwelt erzeugt zu haben.
Beim Abschied verrät Hermann Hesse dem scheidenden Besucher, er mühe sich gerade ab mit Michail Scholochows „Der stille Don“, ertrage dessen realistische Detaildarstellung in der Breite aber kaum. Öffentlich hat er sich, soweit ich sehe, nicht zu Scholochow geäußert, die in der Werk-Ausgabe fünf Bände umfassende Abteilung „Die Welt im Buch“, fünfter Band für die Jahre 1935 bis 1962, nennt den Namen jedenfalls nicht. Bis zum Bahnhof tritt schließlich erneut der kleine Mercedes in Dienst, während Hesse sich zur Mittagsruhe begibt. „Als wir allein den Bahnsteig betraten, fuhr der Zug Roma-Dortmund gerade hinaus, der uns in Bellinzona hätte absetzen sollen. Wir gingen zum See hinunter, es war noch warm, dort am Ufer zu sitzen. ... Nach zwanzig Jahren ist mir dieser Tag ganz gegenwärtig.“ Während der Michael-Sammelband keinerlei Anmerkungen enthält außer den Quellenangaben, finden sich in dem Suhrkamp-Taschenbuch „Hermann Hesse in Augenzeugenberichten“ (st 1865, 1991), ebenfalls von Volker Michels herausgegeben, noch zehn Fußnoten. Demnach ist es Friedrich Michaels Lustspiel „Ausflug mit Damen“, das Götter-Komik vorführt, nachlesbar ebenfalls bei Thorbecke in der Sammlung seiner Bühnenwerke mit dem Titel „Der blaue Strohhut“ (Sigmaringen 1993).