Carl von Ossietzky 1914
Zwei Sätze aus meinem vorjährigen Beitrag (siehe diese Rubrik unter dem 4. Mai 2013), will ich reines Herzens in nur leichter Abwandlung wiederholen: „Carl von Ossietzky ist am Tage, da sein Tod sich zum 75. Male jährt, ohne Wenn und Aber zu bewundern. Das gilt es festzuhalten in Zeiten, da das politische Buch des Frühjahrs im Sommer selbst seinen bekennenden Freunden schon vom Titel her nicht mehr fest im Gedächtnis sitzt.“ Die leichte Abwandlung lautet: „... am Tage, da sich sein Geburtstag zum 125. Male jährt.“ Dieser Tag ist heute und ich greife einfallslos abermals auf meine vorjährige Idee zurück, nur soll das betrachtete Jahr aus Ossietzkys Schaffen jetzt 1914 sein. Es ist das Jahr, über das schon so viel geschrieben wurde, dass es vollkommen müßig erscheint, dem noch etwas hinzuzufügen, das Jubiläumsjahr ist in sein letztes Quartal eingetreten, wer etwa die eindrucksvolle und dringend zu empfehlende Ausstellung „Jubel & Elend. Leben mit dem Großen Krieg 1914 – 1918“ auf der Schallaburg in Niederösterreich noch sehen möchte, sollte sich beeilen. Eröffnet am 29. März, läuft sie nur noch bis zum 9. November (www.schallaburg.at).
Es ist nicht von ungefähr, dass mir eben diese Ausstellung einfällt, die auf so kluge Weise anders ist, als das, was man erwartet, wenn man den populären Geschichtslektionen deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehens über die Jahre ausgeliefert war und das nicht einmal ohne jegliches Interesse. Die Führung, die ich erlebte, verharrte gerade da, wo es um mediale Vorbereitung und Begleitung des „Großen Krieges“ ging, und wartete mit einem überraschenden Diktum auf: Man könne in den deutschen Medien, auch in den Qualitätsmedien, derzeit erleben, wie ein Feindbild aufgebaut wird. Vielleicht prägte sich das mir nur deshalb ein, weil es auch meinem Eindruck Ausdruck verlieh. Inzwischen weiß die eingeweihte Welt, dass es Presserats-Rügen gab auch für das Fernsehen in öffentlicher Hand in Deutschland, weil es fatale Assoziationen weckend tagelang trommelte und trommelte. Wie weit tatsächlich die antirussische Propaganda-Berichterstattung vom 100 Jahre alten „Jeder Stoß, ein Franzos', jeder Schritt, ein Brit', jeder Schuss, ein Russ' “ noch entfernt war, werden spätere Zeiten vielleicht leidenschaftslos feststellen. Bis dahin gelten Russland-Versteher und Putin-Versteher noch weit mehr auch weiterhin als für mediales Dauerfeuer freigegeben.
Der Weg zu Carl von Ossietzky 1914 ist kurz, beängstigend kurz, auch das ist nur eine Reprise vorjährigen Erkennens. Die überschaubare Menge des in der achtbändigen Gesamtausgabe versammelten Materials erlaubt einen Überblick ohne Gefahr, sich in Details des Jahres vor 100 Jahren zu verlieren. Am vierten Juli 1914 erschien in „Das freie Volk“ Ossietzkys „Die Schüsse von Serajewo“ (man schrieb das damals so). Verblüffend, wie differenziert und dennoch kritisch der 25 Jahre und zwei Monate alte Autor den ermordeten Thronfolger sah (wer die Schallaburg besucht, kann und sollte vielleicht sogar auch Schloss Artstetten mitnehmen, wo man nicht nur eine sehr gute Dauerausstellung sehen kann zu Franz Ferdinand sondern, wenn man sich den Schlüssel geben lässt, auch die Grabstätten in der Familiengruft. Es gibt, das nebenher, in Artstetten immer auch interessante Sonderausstellungen mit schönen Broschuren dazu, die sich getrost nach Hause tragen lassen, anno 2014, also heuer, wie man dort sagt, sogar vier mit Schleife zusammen für nur acht Euro. „Franz Ferdinand war ein versprechen an die Zukunft, das jeder anders auslegte.“ schrieb Ossietzky. Und stellte dann einige dieser Auslegungen vor. Das Verblüffendste für mich ist eine Parallele, die gezogen wird mit dem Satz: „So ist Franz Ferdinand vielleicht gestorben wie Henry IV. von Frankreich, der den Schüssen des irren Fanatikers Ravaillac erlag, als er die letzten Schritte zu einem Weltkriege tat.“
Da ist es, das Wort Weltkrieg, von dem Ossietzky an diesem 4. Juli 1914 noch nicht annahm, er stehe unmittelbar bevor, obwohl er die grundsätzliche Gefahr genau erkannte und meinte; „dass die Zukunft Europas davon abhängt, ob es gelingt, Österreich-Ungarn so weit zu konsolidieren, dass sich die vielen, vielen Menschen nicht in erster Linie als Angehörige einer Rasse, einer Nationalität, sondern eines Staates fühlen.“ Es ist nicht gelungen, wie wir alle wissen und es ist so gründlich misslungen, dass wir hundert Jahre später exakt jenes Gefühl erneut aufleben sehen, ohne irgendwo eine vollziehbare Agenda, wie dem ohne Menschheitsgefahren, sprich Weltkriegsgefahren, zu begegnen sei. Wenn schon Europa in immer kleinere Einheiten zu zerfallen droht, was soll dort sein, wo es den Willen zum Staat, von dem Ossietzky schrieb, nicht als wenigstens rudimentäre Tradition gibt, wo Nachbarinnen, die eben noch gemeinsam ihre Ziegen molken, sich plötzlich mit Macheten gegenseitig die Schädel spalten?
„Die Machthaber kennen die slawische Seele nicht; sie wissen nicht, mit welch mystischer Glut den Slawen sein nationales Bewusstsein erfüllt.“ War Carl von Ossietzky ein früher Slawen-Versteher? Zur Tat des Todesschützen Gavrilo Princip erinnert er an törichte Provokationen gegen die Balkanvölker: „Am härtesten war das Los der orthodoxen Serben, die noch dazu von den katholischen Kroaten bedrängt wurden.“ Müsste sich Carl von Ossietzky, würde ihm der Ibsen-Preis verliehen wie kürzlich Peter Handke, auch skandalisieren lassen? Weil er Verständnis fordert, wo sich der alte Zweibund jegliches Verständnis selbst verbietet, soweit es irgend möglich und nicht allzu peinlich wirkt? „Serbien muss sterbien“, hießt es vor hundert Jahren ganz einfach. Keine Selbstverwaltung der Landesteile „und Österreich stände vor einer Auseinandersetzung mit dem gesamten Slawentum. Das könnte aber nicht nur zu einer österreichischen, sondern auch zu einer europäischen Katastrophe führen.“ Es hat, wissen wir, es hat. Sogar zu einer Weltkatastrophe, die wir heute die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts nennen, weil es medienförmiger klingt. Schließlich wissen gerade wir Deutschen, dass schon Goethe nicht nur „Urworte, orphisch“ dichtete, sondern auch der Ur-Pflanze ständig auf der Spur war.
Dass Carl von Ossietzky eine überlegene demokratische Kultur als sicheres Bollwerk gegen Hunnenherden ansah, sei ihm allein deshalb verziehen, weil wir bis heute nicht wissen, was an unserer demokratischen Kultur denn nun genau das Überlegene ist. Als er, auch 1914, sich mit dem Konflikt zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten befasste, schrieb er einen Satz, der ob seiner Aktualität erschauern lässt: „Alle Hochachtung vor den Vereinigten Staaten und ihrem Präsidenten; aber wir finden nicht, dass sich ihre auswärtige Politik bisher dauernd an der Moralität orientiert hat.“ Zwei Tage vor seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag lasen die Leser von „Das freie Volk“ Ossietzkys klare Ansage: „Es ist die schuld der Union, wenn Banditen, deren Wirkungskreis sich früher auf den Straßengraben beschränkte, sich nun die Diktatur über mehrere Provinzen angemaßt haben und für jeden Fremden ständige Bedrohungen sind.“ Ist es tatsächlich so mit der US-Politik, wie wir es von Hollywood her kennen, ein Sequel folgt dem nächsten, Neuverfilmungen des immer gleichen Drehbuches aller paar Jahre dazu und ergänzend??
Seinen ersten Artikel des Jahres 1914 widmete Ossietzky übrigens unter der Überschrift „Der kranke Mann in Wien“ ebenfalls der Donaumonarchie in ihrer finalen Dauerkrise. „Wo so reichlich mit Nationalismus gedüngt wird, ist der Boden für Korruption bereitet.“ Und: „Der Krieg ist kein Jungbrunnen; die Regenerationsarbeit muss an den Wurzeln der Kultur beginnen.“ Solche Sätze lassen erkennen, dass die frühen Expressionisten mit ihren scheinbar nur immer wiederholten Endzeitvisionen viel direkter Zeitbewusstsein zur Sprache brachten als man annehmen mag, wenn von Bürgern die Rede ist, denen der Hut vom spitzen Kopf fliegt oder von Dämmerungen, in denen ein blonder Dichter vielleicht verrückt wird. Ein wenig lyrischer Publizist gibt ihnen allen Recht. Am 28. Februar 1914, wieder in „Das freie Volk“, eine Analyse, die sogar Lenin gefallen hätte: „Wir sind in unserem politischen Leben nicht mehr ein Volk; wir sind zwei Schichten, von denen die eine die Sprache der anderen nicht versteht.“ „Wir erleben augenblicklich alle Schwankungen und Widersprüche einer Übergangszeit.“ „Wenn sich zwei Zeiten scheiden, gehört aber die Zukunft dem vollen freudigen Gefühl.“ „Wir alle, die wir für eine Wahrheit kämpfen, haben Stunden des Zagens.“ So ließen sich Zitate reihen aus fast jedem seiner Artikel. Am 1. Dezember 1914 fragte der Publizist: „Wo bleibt das Theater?“ Und er antwortet: „... die Theater hätten nicht in wenigen Wochen so arg versagt, wenn sie nicht seit Jahren versagt hätten.“ Vielleicht gilt wenigstens das heute nicht mehr ohne Fußnote.