Klaus Schlesinger 75
Nein, unter die begnadeten Erzähler deutscher Zunge kann ich ihn immer noch nicht zählen, der runde Geburtstag heute, den er leider nicht erleben darf, weil er, viel zu früh, schon am 11. Mai 2001 in seiner Stadt Berlin starb, bringt keine retrospektiven Bonuspunkte. Dennoch wäre es ungerecht und falsch ohnehin, ihn nur als Biermann-Petitionisten und Ausgeschlossenen des DDR-Schriftstellerverbandes von 1979 zu sehen. Volle 18 Bände des mit 1998 jäh abgebrochenen Sammelunternehmens „Deutsche Literatur. Jahresüberblick“ des Stuttgarter Reclam-Verlages haben es fertig gebracht, Schlesinger nicht mit einer einzigen nachgedruckten Rezension zu würdigen, er taucht hier und da in den Daten auf, mal mit einem Preis, mehr nicht. Oder eben im Dissidenten-Zusammenhang, der kein primär literarischer ist. Nicht einmal mit den äußeren Lebensumständen des Autors nahm es irgendjemand nennenswert genau.
Das ehrgeizige und selbst innerhalb der DDR mit mehr als üblicher Häme bedachte Großprojekt zur deutschen Literaturgeschichte, dessen elfter Band der eigenen, der DDR-Literatur, gewidmet war, brachte sechs volle Jahre nach Erscheinen des Romans „Michael“ nicht mehr als ein paar dürre Zeilen zu nur diesem Buch und machte Klaus Schlesinger gleich um vier Jahre älter. Für spätere Korrekturen und Weiterungen war keine Zeit mehr, denn dieser Autor stand fortan in Ungnade, selbst wenn das eine oder andere Buch von ihm noch zeitverzögert bei Hinstorff in Rostock erschien. Die Neue Zürcher Zeitung machte Schlesinger 1996 teilausgleichend zwei Jahre jünger. Und nach dem Ende der DDR? Vielleicht am peinlichsten der Sachverhalt, dass ausgerechnet IM „Helene“ sich mehrfach bemüßigt fühlte, über Schlesinger zu fabulieren im nicht mehr ganz zentralen ehemaligen Zentralorgan „Neues Deutschland“, auch der zunächst durchaus eifrige IM-Kandidat „Jürgen“ ist zum posthumen Besprecher Schlesingers geworden.
In meinem Tagebuch des Jahres 1980 finde ich unter dem Datum des 27. Mai eine längere Auslassung zu Schlesingers „Alte Filme“, die ich hier besonders gern vollständig zitiere, weil sie nicht einmal ansatzweise den Eindruck erweckt, ich hätte damals, wie zeitgleich im Westen üblich, jeden, der „systemkritisch“ schrieb, im Nobelpreisverdacht gehabt. Das Zitat in Originalfassung schließt folgerichtig auch Sprechweisen und Lexik ein, die heute seltsam wirken. Einzige Korrektur ist ein hier in Klammern erscheinendes vergessenes Wort.
„Ich schaffte den Schlesinger dann doch noch. Ein Buch zum Abgewöhnen, spielt z. T. in meiner Gegend, die Typenkneipe „Café Burger“ ist erwähnt. Die Story ist von heroischer Dürre, die Schreibweise kaum minder. Ein Ex-Schlosser, der es zum Teilkonstrukteur gebracht hat, flippt aus, weil ihm plötzlich die Anwandlung kommt, nun verliefe alles in festen Bahnen. Um es nicht bei der Meditation zu belassen, sucht er zuerst einmal eine andere Frau. Er gerät in die Kreise der Berliner Seitenflügelintelligenz, lernt weiße Wände, weiße Schränke, Rotwein und Bettkästen auf Backsteinen (kennen), das uniforme Nonkonformisteninterieur also, beschläft das gesuchte Mädchen und vollbringt noch den wichtigsten Akt der Selbstverwirklichung, indem er den Alexbrunnen besteigt. Ende ist, daß er zu Gattin Karla zurückkehrt mit Umgestaltungsplänen für die Wohnung. Auch Karla ist nach der Dienstreise runderneuert. War alles halb so // wild. Beim Erzählen wenig Distanz zur Intuszene, wenig gute Psychologie, die Frau blaß genug, daß man den Kotte wenigstens ein bißchen verstehen kann. Am Ende noch Aussicht auf Wohnungsvergrößerung im Falle des Todes der anderen Teilmieterin. Dies wäre anderen Autoren schon ein Gegenstand, bei Schlesinger kommt das wie selbstverständlich.
Man müßte mal untersuchen, woher dieses Grundschema seine Attraktivität bezieht. Zuerst Unbehagen, dann mehr oder minder viel tiefes Sinnieren über Produktivität und Persönlichkeitsentfaltung, dann bloß der Sprung in ein anderes Bett. Im Grund sind all diese Rotweinsüffler doch jämmerliche Phrasendrescher und vor lauter Reflexion kommen sie nicht mehr zum Handeln. Mit ihnen ist so leicht Politik zu machen. Außerdem ist Schüttelfrost angesichts einer Schrankwand wahrscheinlich mit einem Orgasmus auf der cordüberzogenen Matratzenfläche schwer zu bekämpfen. Eine Therapie gegen echte Gesellschaftskritik ist allerdings daraus zu machen. Soll sich der Weltschmerz auf Auslegware konzentrieren, sollen sich die Aggressionen gegen fensterlose Neubauklosetts richten, dann bleibt alles wie es ist. Besonders attraktiv ist solche Literatur, wenn sie in der Leipziger Straße hergestellt wird. Ein bissel Ämterhumor und ein bissel entliehene Lebensphilosophie. Humor nicht, das nicht und am Schluß haben wir ein reformistisches Plädoyer. Chic finden das Buch sicher nur die, denen in langen Nächten die Absicht erklärt wurde, der gute Wille ist auch hierzulande noch eine solide Moralgrundlage. Daß zuletzt doch nur purer Idealismus herausschaut, kann man dem Schlesinger nicht verübeln, wohl aber, daß es ein schlechtes Buch geworden ist.“
Im Abstand der Jahre wage ich die naturgemäß zugespitzte Behauptung, Klaus Schlesinger sei vor allem ein Importeur gewesen. Das sichert ihm eine Originalität zweiter Ordnung, die nicht gering geschätzt werden darf, selbst wenn man zur Einordnung nicht die Heerscharen Schreibender ohne jede Originalität diesseits und jenseits der heute nicht mehr vorhandenen Mauer hilfsweise hinzu zieht. Dass Söhne und Töchter Väter, auch Mütter, vor allem aber Väter, nach ihrem Sein in der Nazizeit peinlich und konsequent befragen, war eben 68er Import, keine genuine DDR-Fragestellung. Noch gegen Ende der DDR hat etwa Norbert Bleisch mit „Kontrollverlust“ gezeigt, dass der Grundidee starke Literatur abzuringen war. Bleischs spätere Entwicklung steht auf einem vollkommen anderen Blatt. Stoffliche Anregungen, schreibtechnische Übernahmen sind immer legitim wie fehlschlagende Versuche ebenso. Wer dazu das Berlin der siebziger und achtziger Jahre kennt, das Ost-Berlin, der weiß und ahnt nicht nur, wie gerade die oben im Tagebuch wohl aufklärungsbedürftige „Intuszene“ bis in die Details Moden und Marotten aus dem Westteil der Stadt übernahm. Das Pflegen von DDR-Phobien war zeitweise tatsächlich wichtiger als alles und so könnte ich mir vorstellen, dass „Alte Filme“ vielleicht sogar eine parodistische Absicht hatte, die mir damals nicht aufgehen wollte.
1991 hat Klaus Schlesinger im „Freitag“ beklagt, dass es keinen Gesetzesparagraphen gäbe im deutschen Recht, mit dem unter Strafandrohung stehe, wer einem Autor das Publikum wegnimmt. Das war die brutale Erfahrung, die nicht nur die systemnahen, die systemindifferenten Autoren der DDR-Literatur, sondern eben auch einen wie Schlesinger traf, der 1980 nach Westberlin zog, weil er ziehen durfte. Die Schlampigkeit auch führender Medien des alten Westens zeigte sich übrigens noch nach Schlesingers Tod, als etwa Hans-Jürgen Schmitt im Deutschlandradio (16. Mai 2003) behauptete, der Ausschluss aus dem Schriftstellerverband 1979 sei Folge der Unterschrift unter die Biermann-Petition gewesen. Schmitts auch sprachlich ärmliche Besprechung von „Die Seele der Männer“, einem Nachlass-Band, brachte immerhin die hübsche Anekdote vor ein breiteres Publikum, wie Schlesinger im Fahrstuhl in der Leipziger Straße Erich Honecker begegnete.
Was wiederum mich mit der theoretischen Möglichkeit posthum konfrontierte, ich hätte Schlesinger im nämlichen Fahrstuhl begegnen können, als ich zur Wohnung von Honeckers Tochter auffuhr, deren damaliger chilenischer Gatte der Zweitbetreuer meiner Diplomarbeit war. Womit obige Anspielung auf die Leipziger Straße aus dem Jahr 1980 wenigstens eine Teilerklärung erfährt, die mir damals ganz sicher nicht bewusst war, denn ich studierte nicht die Klingelschilder auf dem Weg zur Wohnung Yanez.
Klaus Schlesinger hat auf dem Begriff „DDR-Literatur“ bestanden und er hat, als er in Westberlin sich in der Hausbesetzerszene engagierte, mit Sicherheit nicht die Dankbarkeit gezeigt, die einen mit „der Freiheit“ Beschenkten nach westdeutscher Mehrheitsmeinung bis ans Ende seiner Tage ehrfurchtstarr halten sollte. Als er etwas tat, was Jahre später noch unter gesamtdeutschen Normalbedingungen Christoph Hein von der Großkritik vehement verweigert wurde, als der sich Bad Kleinen vornahm, erlebte auch Schlesinger das dominante Bestehen auf Deutungshoheiten. Die DDR darf man als ehemaliger DDR-Autor bemaulen, bis das Maul fransig wird, Themen (im Fall Hein), die die Spiegelchefredaktion selbst als ihre ureigenen betrachtet, darf man aber nicht, schon gar nicht belletristisch, behandeln. Was Schlesinger nun wieder in die komische Situation brachte, Sympathien von DDR-Nostalgikern auf sich zu bündeln, was kaum seine Absicht gewesen sein dürfte.
Die mehr oder minder verkniffenen Bekenntnisse von späteren Kritikern, das Fragment seines letzten Romans enthalte das schönste, was Schlesinger in seinem zu kurzen Autorenleben geschrieben habe, sind indirekt auch eine recht deutliche Abwertung alles vorigen. Man muss wohl tatsächlich vor allem Intimkenner von DDR-Abläufen sein, um die Bedeutung Klaus Schlesingers halbwegs zu würdigen. Allein der Umstand, dass es in seiner Prosa Ostberlin und Westberlin gab, dass der Mauerbau ein Ereignis wurde, dass Kafka und Kleist traditionsstiftend genommen wurden, dass die von Stasi und ihren Helfern im Schriftstellerverband unterdrückte Anthologie „Berliner Geschichten“ im Kleinen etwas wie der Versuch eines „Verlags der Autoren“ war, das kann dort kaum auffallen, wo es selbstverständlich ist, solches zu thematisieren oder zu tun. Wenn heute vier oder sechs Bücher mit DDR-Thema auf einer einzigen Buchmesse schon Anlass sind für obere Wächterräte, die Frage nach der fortlaufenden Berechtigung solcher Romangegenstände zu stellen, sollte es niemanden wundern, der dies liest, wenn ich den Büchern Schlesingers wenig Zukunft voraussage. Denn dieser Autor hat sich um den Markt selbst dann kaum bekümmert, als ihm bewusst wurde, wie der ihn im Griff hat.
1974, als die DDR-Welt nach den Weltfestspielen noch in Ordnung schien, veranstaltete die Chefredaktion der Monatszeitschrift „Neue Deutsche Literatur“ (ndl) ein Rundtischgespräch zum Thema: Wie „agitiert“ Literatur? Chefredakteur Werner Neubert (IME „Wolfgang Köhler“) hatte seine Eröffnungsfrage kaum formuliert, als Klaus Schlesinger das Wort ergriff: „Mir scheint, daß Ihre Fragestellung unser Thema auf ein recht einspuriges Gleis leitet, auf eine etwas simple Ost-West oder Kapitalismus-Sozialismus-Konfrontation.“ Schlesinger beharrte darauf, das Thema sei eine vielschichtigere Anlegenheit. IME Köhler ließ in seiner gedruckten Antwort seine Verwendung des Begriffs Vielschichtigkeit kursiv drucken. Wir ahnen noch heute die damit gemeinte Schärfe. Sollte wider Erwarten dieser heutige 75. Geburtstag doch dazu führen, dass wenigstens in den bücherführenden Internetportalen die eine oder andere Nachfrage nach „Hotel oder Hospiz“, nach „Leben im Winter“, nach „Matulla und Busch“, nach „Berliner Traum“, „Trug“, „Die Sache mit Randow“ registriert wird, wäre das schon besser als nichts.