Mihály Babits: György, der Holzhacker

Die längste Zeit seines knapp einjährigen Aufenthaltes in Italien verbrachte Charles Dickens in Genua. Von dort unternahm er in seiner großen Reise-Kutsche Ausflüge. Zuerst im Norden, dann aber auch weiter in den Süden, bis zum Vesuv, auf den er und andere sich von Reiseführern tragen ließen. Er sah Parma, Modena und Bologna, Ferrara, Verona, Mantua und Mailand, auch Venedig natürlich und Siena, Pisa. Florenz sah er erst spät, auf der Rücktour von Rom aus gen Genua im Frühjahr 1845. Deshalb findet sich seine Schilderung von Florenz erst sehr weit hinten im 1846 veröffentlichten Buch „Pictures from Italy“, das schon im selben Jahr erstmals auch auf deutsch erschien und viel später im geteilten Deutschland 1968 unter zwei verschiedenen Titeln gedruckt wurde: Als „Reisebilder aus Italien“ beim Verlag Gustav Kiepenheuer Weimar und als „Italienische Reise“ in Weimarer Lizenz bei Hoffmann und Campe. Besonders fasziniert ist der Schriftsteller von einem Nebenhof des Palazzo Vecchio, wo das Gefängnis eingerichtet ist. Fast begeistert schildert er das wunderliche Treiben der Häftlinge und zitiert den Kerkermeister mit der Aussage: „Sie sind alle recht vergnügt.“ Und schließt dann eine Szene an, für die er nur zwei Sätze braucht.

Diese beiden Sätze lauten: „Ehe noch eine Stunde vergangen ist, wird ein achtzigjähriger Greis als Gefangener hereingebracht. Er war bei einem Handel mit einem siebzehnjährigen Mädchen in Streit geraten und hatte sie auf dem mit leuchtenden Blumen angefüllten Marktplatz erstochen.“ In der ungarischen Erzählung „György, der Holzhacker“ greift der Freund des Ich-Erzählers aus seinem Bücherregal einen Band und sagt dies: „Dickens schreibt über Italien, hier in zwei Zeilen steht die ganze Tragödie, hör zu: Ein hässlicher alter Mann gerät mit einem siebzehnjährigen Mädchen wegen einiger Centesimi in Streit und sticht sie nieder auf dem sonnenüberfluteten, blumenübersäten Platz … Stell dir nun vor, dass sich das in Florenz ereignet hat, auf dem Platz vor dem Palazzo Vecchio – inmitten von Marmor, unter dem schönsten Himmel – zwischen lauter Blumen, denn der Platz war zu dieser Zeit Blumenmarkt. Und das Opfer – konnte es jemand anders sein als eine wirkliche toskanische Schönheit? Es war kein sinnloser Tod, meint Dickens: Es war Rache, die Rache des Hässlichen an allem Schönen.“ Woher hat dieser ungarische Gutsherr all diese Details für seinen Gast, die bei Charles Dickens in dessen Reisebeschreibung eben nicht stehen?

Mihály Babits, so dürfen wir annehmen, hat weder falsch gelesen noch etwa einem schlechten Gedächtnis nicht abgeholfen. Der am 26. November 1883 geborene Dichter war nicht nur ein sehr fähiger Übersetzer, dem seine Dante-Übertragung schließlich den San-Remo-Preis einbrachte, er kannte sich in den europäischen Literaturen so gut aus, dass er am Ende seines Lebens sogar eine „Geschichte der europäischen Literatur“ veröffentlichte, die man in einer Wiener Ausgabe aus dem Jahr 1949 problemlos und in ordentlicher Qualität antiquarisch erwerben kann, wenn man das mag. Nein, Mihály Babits hat sich vermutlich von eben den beiden Sätzen bei Dickens inspirieren lassen. Der 80 Jahre alte Mann verwandelte sich ihm in einen hässlichen Mann, das Mädchen in einen Inbegriff von Schönheit, der Streitwert wird in der Phantasie des Ungarn umgehend minimiert, der mit Blumen angefüllte Markt ist unversehens ein Blumenmarkt geworden. Vor allem aber bekommt die Tat des Mannes eine Bedeutung unterstellt, die weit über das hinaus geht, was die Fakten in ihrer Nüchternheit hergeben. Literatur gebiert Literatur und lässt zugleich einen Blick auf das Geheimnis zu, wie das vorgeht. Und siehe: Das Geheimnis ist gar nicht so geheimnisvoll.

Der namenlose Freund, der nach Ansicht der Erzählers inmitten von Schönheit lebt, hat einen Komplex. Er findet sich selbst hässlich. Wohl gesteht der Erzähler ein, er sei tatsächlich keine Schönheit, ein ausdrücklich als schön bezeichneter Mann würde freilich ganz andere Assoziationen wecken, auf die Babits jedoch ebenso wenig hinaus will wie auf ihr Gegenteil. Fast beiläufig erfährt der Leser, dass dieser Freund, ein wohlhabender und verheirateter Gutsherr, ein Jude ist. Nur ein einziger Satz benennt diesen Umstand. „Schon in meiner Kindheit war ich erfüllt von diesem Eros, ich, ein hässlicher, kränkelnder kleiner Jude.“ Noch eben hatte der Freund auf Platon verwiesen, bei dem Eros angeblich als hässlich geschildert wird. Sind wir da bei dem, was gern jüdischer Selbsthass genannt wird? Hat so die auf den ersten Blick leicht künstlich wirkende Konstellation schön gegen hässlich einen ganz anderen, einen sogar historischen Sinn? Die Geschichte endet mit dem Blick des Erzählers auf seinen Freund, der seinerseits seinen Blick auf seine eben ins Bild tretende Ehefrau heftet: „... aber noch nie war mir sein Kopf so hässlich erschienen wie jetzt. Man hätte ein Bild danach malen können und darunter schreiben: Der Hass.“ Ist die Frau schön?

Als Vera Thies für die schmale Leipziger Reclam-Auswahl mit Novellen, Titel „Der Schatten des Turmes“ (RUB 1007) das Nachwort verfasste (August 1982), auch die Übersetzung stammt von ihr, glaubte sie konstatieren zu können, dass das fast ausschließliche Interesse am Lyriker Babits langsam einer breiteren Aufmerksamkeit weiche, auch bestimmte fixe Urteile verlören ihre vermeintliche Gültigkeit. Dennoch hat auch das Jahr 1983 mit seinem hundertsten Geburtstag nicht dazu geführt, dass eine Lyrik-Auswahl als deutsche Eigenproduktion erscheinen konnte. Die Auswahl, die der internationale Budapester Corvina-Verlag 1983 auf den Markt brachte („Frage am Abend“), ist dennoch sehr verdienstvoll, mit ihren 85 Druckseiten allerdings begrenzt. Und die Übersetzer-Namen sind vielsagend: Annemarie Bostroem, Christine Busta, Günter Deicke, Franz Fühmann, Hans-Jürgen Heise, Ernst Jandl, Heinz Kahlau, Uwe Kolbe, Richard Pietrass, Brigitte Struczyk. Die Corvina-Anthologie mit ungarischen Liebesgedichten aus alter und neuer Zeit „Wie könnte ich dich nennen?“ (Zweite Auflage 1976) war mit Babits noch sparsam: ein einziges Gedicht von ihm findet sich dort, übertragen von Geza Engl. Es heißt „Auf meiner Seele dürrem Karst“.

Man gewinnt eine Ahnung, worin Vorurteile gegen Mihály Babits bestanden, wenn man sich Stimmen radikaler Revolutionäre anschaut, die aus Sicht der einzig wahren Weltanschauung argumentierten. Beispiel Béla Uitz (1886 – 1971), der in Stalins Sowjetunion nach 1926 fünf Jahre als Sekretär des Internationalen Büros Revolutionärer Maler wirkte und schrieb: „Die Diktatur des Proletariats kann nur die Kunst mit sozialer, revolutionärer Weltanschauung gebrauchen. Die anderen müssen unter der Diktatur beiseite treten, selbst wenn sie aufrichtig helfen wollen, können sie der Diktatur des Proletariats und damit der reinen Kunst nur schaden. Eine Weltanschauung haben sie nicht – oder wenn doch, dann ist sie kapitalistisch.“ Mit revolutionärer Weltanschauung konnte Mihály Babits nicht dienen, auch wenn er nach der Ausrufung der Ungarischen Räterepublik sogar eine Professur erhielt und vorher wegen seiner pazifistischen Überzeugungen in seinen Gedichten seine Lehrerstelle verlor. Für József Pogány (1886 – 1939) war Babits schon 1911 im Vergleich zu Endre Ady ein Dichter „der in allen Zeiten und bei allen Autoren, in jedem Stil und bei jedem Herrengeschlecht heimischen, farbenfreudigen und durchgeistigten Gekünsteltheit.“

So darf also einer eher unauffälligen Edition im Jahr 1983, immerhin Luther-Jahr und Karl-Marx-Jahr in der DDR, mehr Bedeutung beigemessen werden als man zunächst vermuten möchte. Es war auch etwas wie eine späte Wiedergutmachung, an der sich der Westen Deutschlands, man ist geneigt zu sagen, erwartungsgemäß, nicht beteiligte. Ungarische Literatur geriet dort erst ins Blickfeld, als mit der Entdeckung von Sandor Marai für einige wenige Jahre eine kurze verlegerische Magyaren-Euphorie ausbrach und jeder einen Ungarn entdecken wollte. Antal Szerb war der zweite, dem das Groß-Feuilleton Rückenwind verschaffte. Szerb aber war und das interessierte dann schon niemanden mehr unter den sich selbst blendenden Entdeckern, ein leidenschaftlicher „Fan“ von – Mihály Babits. Und starb als Jude 1945 noch vor dem Ende des Schreckens. Übrigens hatte der Berliner Eulenspiegel-Verlag schon 1972 seinen Szerb. Und gegen Ende der DDR erfreute der Leipziger Reclam-Verlag seine Leser noch mit der wunderbaren Dokumentation „Nyugat und sein Kreis 1908 – 1941“ (RUB 1290). Dort war die „Nyugat“-Ausgabe vom 1. August 1940 als Faksimile zum Cover gemacht und der Name Mihály Babits prangt oben in Versalien.

Zurück zur Erzählung vom Holzhacker György. Der jüdische Gutsherr geht mit seinem Gast einem Geräusch nach und zeigt ihm den eigenartigen Mann bei seiner Arbeit. Und erzählt von ihm eine Geschichte, die eben der von Charles Dickens gleichen soll. Er selbst sei Zeuge gewesen und war es dann im entscheidenden Moment doch nicht. Denn als der provozierte und an seinem wundesten Punkt getroffene Mann die flüchtenden Mädchen verfolgt und die langsamste, eine rundliche erwischt und zu Boden wirft, endet seine Zeugenschaft. Der Freund meint von den Mädchen, „dass die Hässlichkeit selbst sie erregte und sie nicht verächtlich auf ihn schauten, sondern mit aufgepeitschter Neugier.“ Was dazu führte, dass György eingesperrt werden musste, will er auch später nie erfahren haben. „Hast du noch nicht gemerkt, dass sich gerade die Hässlichen immer nach Macht sehnen? Es ist für sie eine Waffe gegen die Schönheit, ihre Entschädigung und ihre Rache.“ Es geht in dieser Erzählung offenbar um Ursachen schwer erklärbaren Verhaltens, eine fast wissenschaftliche Neugier treibt den Erzähler an, der seinem Binnen-Erzähler die Pointe nicht überlassen möchte. „Der Hass“ steht am Ende wie „Der Schrei“ bei Edvard Munch.

„Die Schönen sind gut und verzeihen auch das Hässliche: als besäßen sie genügend Schönheit für alle. Aber wir selbst – wir verzeihen uns das nie!“ So steht es schon auf der zweiten Seite der Erzählung und es formuliert eine Erfahrung, die man nicht bestätigen möchte. György prophezeit prinzipiell schlechtes Wetter, das unterscheidet ihn von seinem Konkurrenten Rudolf Falb. Er besteht fast trotzig auf seiner Prognose und nimmt sogar in Kauf, dafür ausgelacht zu werden. Doch Selbsthass und Demütigung von außen können eben eine gefährliche Mischung ergeben. Dass der Holzhacker verrückt sein könnte, will der Erzähler keineswegs ausschließen, er billigt ihm damit aber nichts zu: „Und selbst wenn er verrückt wäre … was heißt schon verrückt? Der Verstand ist nur eine Hülle der Impulse. … Der Verrückte legt diese Hülle ab ...“. Damit entlässt Mihály Babits seinen Leser in die Unsicherheit. Von Babits wissen wir damit noch wenig. Behauptete nicht Antal Szerb: „Es gibt keinen Dichter, der abwechslungsreicher schreibt als er.“ Und warnte zugleich: „Ein Kritiker sollte kein Geständnis ablegen, denn auf ihn ist niemand neugierig ...“. Ich gestehe also nur, dass mir der Name József Rippl-Rónai etwas sagt. Er malte 1923 sein Babits-Porträt. Als Denker.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround